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INTERVIEW/020: Clare Daly zur Abstimmung über den EU-Fiskalpakt in Irland (SB)


Interview mit Clare Daly am 10. Mai in Dublin



Vor dem Hintergrund der großen Finanz- und Währungskrise in Europa findet am 31. Mai in Irland ein Referendum über die Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der an die Stelle der bisherigen Europäischen Finanz- und Stabilitätsfazilität (EFSF) treten soll, statt. Über die Bedeutung des ESM wird in Irland heftig gestritten. Die seit Frühjahr 2011 amtierende Koalitionsregierung aus der nationalkonservativen Fine Gael und der sozialdemokratischen Labour Party und die damals abgewählte nationalkonservative Fianna Fáil plädieren für ein Ja zum Fiskalpakt und behaupten, alles andere würde Irland ins politische und wirtschaftliche Abseits manövrieren. Irlands drei etablierte Parteien vertreten den Standpunkt, daß der ESM auch ohne die Zustimmung Dublins ins Leben gerufen werden kann.

Ganz anders beurteilen die Vertreter der United Left Alliance - ein neues Linksbündnis im irischen Unterhaus, bestehend aus Abgeordneten der Sozialistischen Partei Irlands, der Bewegung People Before Profits und einigen unabhängigen Lokalpolitikern - sowie der linksnationalistischen Sinn Féin, die lange Zeit lediglich als politischer Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) galt, die Lage. Die Kritiker des Fiskalpaktes sind der Meinung, daß der ESM ohne die Zustimmung Dublins nicht zustande kommen kann. Sie sehen in einem mehrheitlichen Nein beim Referendum die große Chance, die Austeritätspolitik in der EU, die verheerende Folgen in Irland zeitigt, zu stoppen wie auch den gigantischen Berg an Bankenschulden, die durch das Platzen der Immobilienblase auf der grünen Insel entstanden waren und die zu bezahlen sich Dublin gegenüber der "Troika" aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) verpflichtet hat, loszuwerden.

Eingang und Hauptgebäude des irischen Parlamentes - Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Blick auf Leinster House von der Dubliner Kildare Street aus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Am 10. Mai hatte der Schattenblick bei einem Besuch im Oireachtas, dem irischen Parlament im Dubliner Leinster House, die Gelegenheit, sich näher mit dem derzeitigen großen Ringen um die EU-Politik Irlands zu befassen. An jenem Tag referierte vor dem gemeinsamen EU-Ausschuß von Dáil (Unterhaus) und Seanad (Senat) der ehemalige Generalsekretär der Labour Party Brendan Halligan über das Thema "Looking to the Future - The EU in 20 Years Time". Halligan, Gründer und Vorsitzender der Institute of International and European Affairs (IIEA), der einflußreichsten irischen Denkfabrik, gilt als großer EU-Befürworter. Zusammen mit dem liberalen Karlspreisträger Pat Cox, der wie er auch ein ehemaliger EU-Abgeordneter ist, hat Halligan noch im April eine "zivilgesellschaftliche Gruppe" aus dem Boden gestampft, um für ein Ja beim Referendum über den Fiskalpakt zu werben.

Die Ausführungen Halligans vor dem gemeinsamen EU-Ausschuß bezüglich der Zukunft der EU fielen dementsprechend optimistisch-rosig aus. Er erwartet, daß sich der Euro bis 2032 neben dem US-Dollar und dem chinesischen Renminbi als eine von drei Leitwährungen etablieren, die EU auf dem Weg der technologischen Innovation aus der Wirtschaftskrise kommen und ein EU-weites Stromnetz auf der Basis erneuerbarer Energien den Kontinent zusammenschweißen wird. In der Wind- und Wellenenergie lägen für Irland große Chancen, meinte der IIEA-Chef. Die EU und China würden angesichts des Klimawandels einen gemeinsamen Markt für den CO2-Handel bilden. Um international agieren zu können, werde sich die EU zu einem föderalen Staat ähnlich den USA entwickeln; zum Europarlament wird ein Oberhaus hinzukommen, in dem die Nationalsstaaten der EU - ähnlich den US-Gliedstaaten im Washingtoner Senat - gleichmäßig vertreten sein werden. Als größte Gefahr machte Halligan das Aufkommen des Nationalismus in Europa aus, der sich vor allem durch Ablehnung gegenüber der EU und Fremdenfeindlichkeit gegenüber Einwanderern aus Afrika und dem Nahen Osten auszeichnete.

Wie nicht anders zu erwarten, zeigten sich die Vertreter von Fine Gael, Labour und Fianna Fáil im Ausschuß von den Erläuterungen Halligans entzückt. Ausschußvorsitzender Brendan Durkan bezeichnete den Vortrag als eine wahre "Tour de Force". Seine Kollegen bedankten sich bei Halligan dafür, überzeugend dargestellt zu haben, warum die Iren beim Referendum über den Fiskalpakt, der einen qualitativ wichtigen Schritt in Richtung Bundesstaat EU bedeutet, unbedingt mit Ja stimmen sollten.

Im Anschluß an diese Veranstaltung sprach der Schattenblick mit Clare Daly, die bei der letztjährigen Parlamentswahl für die sozialistische Partei ein Direktmandat im Bezirk Dublin North erobern konnte. Zusammen mit den Verbündeten von der ULA und Sinn Féin führt Daly, eine ehemalige Betriebsrätin bei der staatlichen irischen Luftlinie Aer Lingus, dem größten Arbeitgeber Norddublins, auf parlamentarischer Ebene den Kampf gegen Sozialabbau, Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitssektor und Privatisierung staatlicher Betriebe an. Vor wenigen Wochen haben die Austeritätsgegner durch die Weigerung rund der Hälfte der irischen Haushalte, die neue Wohnungsgebühr zu bezahlen, einen wichtigen Achtungserfolg erzielen können, der ihnen Hoffnung für den Ausgang des Referendums zum EU-Fiskalpakt gibt.

Schattenblick: Frau Daly, könnten Sie uns die Hauptgründe nennen, weshalb Ihrer Meinung nach die irischen Wähler am 31. Mai mehrheitlich mit Nein gegen den EU-Fiskalvertrag stimmen sollten?

Clare Daly: Wir von der sozialistischen Partei Irlands sind ebenso wie unsere Fraktionskollegen von der ULA und Sinn Féin davon überzeugt, daß der Vertrag die Austeritätspolitik in der EU gesetzlich festschreibt und europaweit die Demokratie unterminiert. Das wären die beiden Hauptgründe für unsere ablehnende Haltung. Erstens basiert das Abkommen auf der Bestimmung eines ausgeglichenen Haushaltes, das sehr strenge Ziele vorschreibt und dessen Einhaltung oder Erfüllung im irischen Kontext Kürzungen in Milliardenhöhe bedeuten würde, die weit über diejenigen hinaus gingen, die für die kommenden Jahre bereits in der Planung sind. Vor dem Hintergrund einer ohnehin katastrophalen konjunkturellen Wirtschaftslage ist die Idee, staatliche Investitionen zu erschweren und die Wirtschaft weiter zu drosseln, mehr als verrückt. Zweitens haben wir es in diesem Abkommen mit einem weiteren Schritt in Richtung Demokratieabbau zu tun. Sollte der Vertrag Rechtswirksamkeit erlangen, bedeutete dies, daß es künftig keinen Unterschied machte, welche Regierung die Bürger in den jeweiligen Mitgliedsstaaten der Eurozone wählten, denn sie hätte einen streng neoliberalen, von der EU-Kommission in Brüssel und der EZB in Frankfurt vorgegebenen Kurs in der Haushaltspolitik, einschließlich Kürzungen von Sozialausgaben sowie Privatisierung von staatlichen Vermögenswerten, zu befolgen.

SB: In der Diskussion im Internet sowie in den Leserbriefseiten der irischen Presse wird der Koalitionsregierung in Dublin häufig vorgeworfen, sie bediene sich des Mittels der Erpressung, um ein Ja zum Fiskalpakt zu erwirken. Könnten Sie uns vielleicht erklären, was hinter diesem Vorwurf steckt?

Clare Daly im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Clare Daly
Foto: © 2012 by Schattenblick

CD: Das Konzept zum ESM wurde im Sommer 2011 vorgelegt, doch erfuhr der ursprüngliche Entwurf im Februar dieses Jahres eine kleine, aber sehr schwerwiegende Veränderung. Eine Klausel wurde hinzugefügt, derzufolge einem Land der Zugang zu Geldern im Rahmen der EFSF verwehrt werden kann, solange es den Fiskalpakt nicht unterschrieben hat. Jene Veränderung des Vertragstextes liefert der regierenden Koalition aus Fine Gael und Labour in Irland inzwischen das Hauptargument, warum die Wähler hierzulande für die Annahme des Vertrages votieren sollten. Die Koalitionäre gehen bei öffentlichen Auftritten erst gar nicht auf den Inhalt des Vertrages oder dessen politische und wirtschaftliche Bedeutung ein. Sie räumen zwar ein, daß das Abkommen für uns kein allzu guter Deal ist, warnen aber gleich im nächsten Atemzug davor, daß Irland im Fall einer Nicht-Ratifizierung keine Gelder mehr aus dem EFSF bekäme. Wir sind der Meinung, daß es sich bei besagter Klausel ganz klar um ein Erpressungsmittel handelt, das extra zum Zweck der Beeinflussung der Volksbefragung in Irland entweder auf Betreiben oder mit Zustimmung der Regierung in Dublin in allerletzter Minute in den Vertragstext eingefügt wurde.

Zur Schaffung des ESM ist die Zustimmung aller EU-Staaten erforderlich. Ohne sie kann er nicht ins Leben gerufen werden, denn es handelt sich hier um eine Veränderung der Verträge über die Funktionsweise der EU, die nur einstimmig von allen Mitgliedsstaaten beschlossen werden kann. Hätte unsere Regierung Bedenken bezüglich des Fiskalpaktes, könnte sie, sollte das Referendum hier mit Nein beschieden werden, verlangen, diese Klausel entfernen zu lassen, bevor Irland den Vertrag doch noch ratifiziert und der ESM ins Leben gerufen wird. Aufgrund des Prinzips der Einstimmigkeit könnte Dublin eine solche Veränderung des Vertrages, die Irlands momentan schwieriger Wirtschaftslage und der Stimmung im Volk Rechnung trüge, erzwingen. Das ist der eine Aspekt. Hinzu kommt, daß die Schaffung des ESM mit der Einsicht zusammenhängt, daß im Falle einer Bedrohung der Eurozone Ländern in finanziellen Schwierigkeiten aus Mitteln des gemeinsamen Rettungsfonds geholfen werden müßte. So gesehen, käme man beim ESM ohnehin nicht umhin, mit seinen Fondsmitteln dem Euro-Mitgliedsstaat Irland zu helfen, sollte das erforderlich sein. Sollte sich vor Ende 2013 ein zweites Rettungspaket für Irland als notwendig erweisen, bekäme Dublin Zugang zu Geldern aus der bereits existierenden EFSF. Des weiteren könnte sich Dublin im Notfall auch an den IWF wenden. Vor einigen Tagen kam es in Irland zu einem heftigen Streit, als ein Vertreter des IWF zugab, daß Dublin notfalls auch Gelder von der Washingtoner Organisation bekommen würde. Als die Befürworter des Fiskalpaktes hierzulande daraufhin auf die Barrikaden gingen, weil diese Äußerung ihre Angstkampagne zu diskreditieren drohte, haben die Verantwortlichen beim IWF schnell zurückgerudert und sich hinter der Behauptung verbarrikadiert, die Finanzhilfe für einen Mitgliedsstaat der Eurozone wäre natürlich nur zusammen mit derjenigen der EU-Kommission und der EZB sowie in Absprache mit Brüssel und Frankfurt erhältlich.

Dieses Minidebakel ließ die Stoßrichtung der irischen Regierung im Kampf um ein Ja beim Referendum über den Fiskalpakt mehr als deutlich erkennen. Die Vertreter von Fine Gael, Labour, der oppositionellen Fianna Fáil und des irischen Arbeitgeberverbandes IBEC sowie die meisten Medien behaupten ununterbrochen, daß Irland keine Gelder mehr bekäme, wenn die hiesigen Wähler gegen die Ratifizierung des Fiskalpaktes stimmten - obwohl sie alle genauso gut wie beim IWF wissen, daß das eine glatte Lüge ist. Mit dieser Behauptung lenken sie von den schweren Folgen ab, die einträten, sollte Irland ein zweites Rettungspaket brauchen - was, EFSF hin, ESM her, aufgrund der derzeitigen Austeritätspolitik der Dubliner Regierung mit jedem Tag wahrscheinlicher wird. Meines Erachtens wäre es dringender und sinnvoller darüber zu diskutieren, wie wir das Eintreffen eines solchen Szenarios verhindern könnten, als darüber, was wir danach alles unternehmen müßten.

SB: Glauben Sie, daß ein Nein-Ausgang bei der Volksbefragung am 31. Mai die Inanspruchnahme eines zweiten Rettungspakets für Irland weniger wahrscheinlich machen würde?

CD: Ja. Die jüngsten Entwicklungen auf dem europäischen Festland, vor allem die Wahl des Sozialisten Francois Hollande zum neuen französischen Staatsoberhaupt, der Kollaps der niederländischen Regierung wegen des Streits um die richtige Art der "Haushaltskonsolidierung" und der großartige Erfolg der radikalen Linken bei den Parlamentswahlen in Griechenland, zeigen deutlich, daß die Warnungen der hiesigen Fiskalpakt-Befürworter vor einer Isolierung Irlands im Falle einer Mehrheit für Nein beim Referendum vollkommen aus der Luft gegriffen sind. Die Stimmung innerhalb der EU gegen eine Fortsetzung der hauptsächlich von Deutschland befürworteten Austeritätspolitik schwenkt derzeit dermaßen um, daß Irland eher isoliert wäre, stimmten wir für den Fiskalpakt. Hollande will den Pakt verändern bzw. neu verhandeln, das Gleiche gilt für führende Politiker in den Niederlanden und Italien, während in Deutschland wegen der zunehmenden Stärke der Sozialdemokraten und Grünen im Bundesrat allmählich der Widerstand gegen eine Ratifizierung wächst. Ich denke, daß der Fiskalpakt in seiner jetzigen Form tot ist, wenn wir es schaffen, in Irland am 31. Mai für ein Nein an der Wahlurne zu sorgen.

SB: Im Vergleich zum Kampf um die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages vor drei Jahren sind viel weniger Plakate der Nein-Seite an Strommasten und Gebäudewänden zu sehen. Im Straßenbild von Dublin liest man fast nur Wahlaufrufe der Ja-Seite - sei es von Fine Gael, Labour, Fianna Fáil oder des Arbeitgeberverbandes IBEC, während einem am Eingang der Bahnhöfe bisher ausschließlich Flugblätter über die vermeintlichen Vorzüge des Fiskalpaktes in die Hand gedrückt werden. Haben Sie vielleicht eine Erklärung für diesen Umstand?

CD: Die Antwort ist einfach. Der Ja-Seite steht heute wie damals viel mehr Geld zur Verfügung. Da können wir als Gegner des Fiskalpaktes gar nicht mithalten. Was die Beherrschung des Straßenbildes durch die Plakate der Fiskalpakt-Befürworter betrifft, so glaube ich, daß sie einfach schneller als die Gegner waren und wir in den nächsten Tagen und Wochen unsere Werbepräsenz, wenn man es so nennen will, erhöhen müssen. Doch einen echten Ausgleich werden wir niemals schaffen, dafür erhält die Ja-Seite zuviel Geld und Unterstützung aus dem Ausland. Fine Gael, Labour und Fianna Fáil bekommen beim Kampf um den Ausgang des Referendums lediglich finanzielle Hilfe ihrer jeweiligen Gruppierungen im Strasbourger EU-Parlament. Seitens der ULA steuert nur Paul Murphy, der sozialistische Abgeordnete für Dublin im europäischen Parlament, unserer Kampagne Gelder aus den EU-Töpfen bei. So gesehen wird sehr viel EU-Geld in die Kampagne für ein Ja gesteckt, während die Nein-Seite im Vergleich dazu eine schwindend geringe Summe aus Brüssel erhält.

SB: Erfahren die Gegner des Fiskalpaktes in Irland vom europäischen Festland überhaupt Unterstützung?

CD: Schon. Nächste Woche bekommen wir Besuch von einer Delegation der Nordisch-Grünen Linksfraktion im EU-Parlament. EU-Abgeordnete aus Skandinavien und Deutschland werden zusammen mit Vertretern der ULA auf einer gemeinsamen Pressekonferenz die Gründe, warum die irischen Wähler mit Nein gegen den geplanten Fiskalpakt stimmen sollten, erläutern. Ich denke, es gibt viele Menschen in der restlichen EU, die es begrüßen würden, sollten sich die Iren am 31. Mai mehrheitlich der wachsenden Widerstandsbewegung gegen die bisherige Austeritätsantwort der EU auf die Finanz- und Wirtschaftskrise anschließen. Zwar hat sich der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), der sechzig Millionen Arbeitnehmer in der EU vertritt, gegen den Fiskalpakt ausgesprochen, doch bisher hat er der Nein-Kampagne beim Referendum in Irland keine Finanzmittel zukommen lassen.

Die Interviewszene im Büro von Clare Daly - Foto: © 2012 by Schattenblick

SB-Redakteur und Clare Daly
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Wie man kürzlich beim erbitterten Streit zwischen dem Abgeordneten und Ex-Minister Éamon … Cuív und der Führung der parlamentarischen Fraktion von Fianna Fáil um deren Kurs in der Frage des Fiskalpaktes sehen konnte, scheint es auf der Ja-Seite, wenngleich unter der Oberfläche, viel mehr Skepsis bezüglich der Vorteile des Abkommens zu geben, als man vielleicht vermutet hätte. Auch der Standardvorwurf, den Premierminister Enda Kenny von Fine Gael, Außenminister Eamonn Gilmore von Labour und andere gegen Leute wie Sie, Richard Boyd-Barrett von People Before Profit und Mary Lou McDonald von Sinn Féin mit trauriger Regelmäßigkeit bei Dáil-Debatten erheben, wonach sie alle in einer "Fantasiewelt" lebten und keinen Sinn für die harten wirtschaftlichen Realitäten hätten, läßt in seiner Oberflächlichkeit einen gewissen Mangel an Überzeugung erkennen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die irischen Befürworter des Fiskalpaktes ihrer Sache irgendwie nicht ganz sicher sind, als wenn selbst sie befürchteten, daß er mehr Probleme schafft als löst. Würden Sie dem zustimmen?

CD: Durchaus. Es fällt ihnen sichtlich schwer, dem Fiskalpakt in der Öffentlichkeit Positives abzugewinnen. Das hat auch einen naheliegenden Grund. Selbst nach offiziellen Berechnungen des irischen Finanzministeriums wird die Einhaltung des Fiskalpaktes Irland große Schwierigkeiten bereiten. Das laufende Haushaltsdefizit der irischen Republik im Jahr 2015, wenn der Fiskalpakt in Kraft tritt, wird auf 3,7 Prozent geschätzt. Um es auf 0,5 Prozent herunterzudrücken, wie vom Fiskalpakt vorgeschrieben, werden in den darauffolgenden Jahren weitere Ausgabenkürzungen in Milliardenhöhe zusätzlich zu den bereits vorgenommenen oder geplanten erforderlich sein. Das Gleiche gilt für die Reduzierung der Gesamtverschuldung des irischen Staates von 120 Prozent des Bruttosozialprodukts, die ab 2018 auf unter die im Fiskalpakt festgeschriebene Obergrenze von 60 Prozent gebracht werden soll.

Es ist doch offensichtlich - und das wissen alle in der irischen Regierung -, daß es unmöglich sein wird, in Irland wieder Wachstum zu generieren, solange Staatseinnahmen in einer Größenordnung von mehreren Prozentpunkten des Bruttosozialproduktes pro Jahr zur Begleichung der Spielschulden der Banken der Binnenwirtschaft verlorengehen. Erschwert wird die Lage in Irland noch dadurch, daß die Nachfrage in den EU-Mitgliedsstaaten, die als wichtige Abnehmer der irischen Exportwirtschaft gelten, infolge derselben Austeritätspolitik stark nachläßt. Wegen des anhaltenden Widerwillens der Banken hier in Irland sowie in der restlichen EU, Kredite an Unternehmen und Privatpersonen zu vergeben, treten wir von der ULA für ein staatliches Investitionsprogramm ein, um die Wirtschaft wieder auf die Beine zu bekommen, die Nachfrage insgesamt zu stimulieren und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren.

SB: Es gibt Befürchtungen, daß die Befürworter der Austeritätspolitik innerhalb der EU die Wahl des Sozialisten Hollande zum neuen Präsidenten Frankreichs zum Anlaß nehmen könnten, die Forderungen nach mehr Wachstum zum Vorwand nehmen, um die Privatisierung staatlichen Vermögens und sogenannte Strukturreformen - Lohnkürzungen, Sozialabbau und Flexibilisierung der Arbeit - voranzutreiben. Halten Sie diese Befürchtungen für begründet?

CD: Absolut. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß das von Ihnen gezeichnete Szenario eintreffen wird. Wenn Vertreter der herrschenden Elite in Europa, die der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin verfallen sind, von Wachstum reden, wollen sie lediglich öffentlichen Investitionen und einem staatlichen Stimulierungspaket vorbeugen. Deswegen plädieren Sie stets für die Privatisierung und wollen Anreize für Investitionen der Privatindustrie in staatliche Infrastrukturprojekte schaffen. Das ist genau der Kurs, den seit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 die Koalition aus Fianna Fáil und Grünen und seit letztem Jahr Fine Gael und Labour in Irland verfolgt haben. Das Resultat sind eine Arbeitslosenquote von mehr als 14 Prozent, die Auswanderung von 1000 jungen Menschen pro Woche und eine Pleitewelle bei kleineren Unternehmen und Betrieben in einem noch niemals dagewesenen Ausmaß. 2009 wurde den Iren bei der zweiten Abstimmung um den Lissaboner Vertrag vor allem ein Abbau der Arbeitslosigkeit versprochen; das Ja zu "Europa" würde das Investitionsklima wiederbeleben, hieß es. Doch nichts dergleichen ist geschehen. Statt dessen befindet sich die irische Wirtschaft in einer Abwärtsspirale - und es ist kein Ende in Sicht.

Die Regierung verweist heute wie damals darauf, daß sämtliche Arbeitgeberorganisationen ein Ja zum jüngsten EU-Vertrag befürworten. Es wird der Eindruck erweckt, die Großunternehmen wollten damit Arbeitsplätze schaffen. Das ist eine völlig falsche Darstellung der Realität. Die irischen Arbeitgeber interessieren sich keinen Deut für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ihnen geht es ausschließlich um Geld und Profitmaximierung. Sie treten wie ihre kapitalistischen Gesinnungsgenossen auf dem europäischen Festland nur deshalb für den EU-Fiskalpakt ein, weil sie sich davon eine Lockerung der Arbeitsschutzbestimmungen und eine Verringerung der Gehälter der Beschäftigten versprechen. Der Fiskalpakt soll dazu dienen, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen der EU im internationalen Vergleich zu verbessern. Im Vordergrund steht die Gewinnmaximierung, die Schaffung von Arbeitsplätzen ist dem vollkommen nachgeordnet.

Im Unterhaus hat Vizepremierminister Gilmore heute morgen in seiner Rede so getan, als befinde sich die irische Wirtschaft wieder im Aufschwung. Er redete stolz von 30 neuen Arbeitsplätzen, die durch eine Firmenansiedlung in Dublin geschaffen werden, und von 100 weiteren über die nächsten vier Jahre anderswo. Angesichts eines Arbeitslosenheers von rund einer halben Million Menschen sind das doch Tropfen auf dem heißen Stein. Bisher haben sich alle Versprechungen bezüglich einer Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt als hohl erwiesen. Daher glaube ich nicht, daß die zu erwartende Privatisierungswelle innerhalb der EU wesentlich zum Abbau der hohen Arbeitslosigkeit beitragen wird. So liegt es bei den einfachen Menschen, durch politischen Widerstand und europaübergreifende Zusammenarbeit für einen gesellschaftlichen Ausgleich und eine Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen in der EU zu kämpfen.

SB: Clare Daly, wir bedanken uns für das Gespräch.

Plakate für und gegen den EU-Fiskalpakt an einer Straßenlaterne - Foto: © 2012 by Schattenblick

Irland in Sachen EU wieder am Scheideweg
Foto: © 2012 by Schattenblick

22. Mai 2012