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INTERVIEW/047: Irland - Brexit-Schäden ...    William Methven im Gespräch (SB)


Interview mit dem Buchautor und Historiker William Methven am 4. Januar 2018 in Enniskillen


In keiner anderen Region Europas hat der drohende Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union mehr Sorgen ausgelöst als beiderseits der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Nach schwierigen Jahrzehnten des Bürgerkrieges erleben die Menschen dort seit zwanzig Jahren wieder Normalität. Die Grenze merkt keiner mehr. Der Handel zwischen Nord und Süd blüht. Doch der Brexit läßt Ängste vor Stacheldraht, Kontrollposten, Soldaten, "Terroristen" und dem wirtschaftlichen Niedergang aufkommen. Um sich ein Bild über die Lage an der inneririschen Grenze zu machen, ist der Schattenblick Anfang Januar nach Enniskillen, Verwaltungssitz der Grafschaft Fermanagh, gereist. Dort hat sich im Enniskillener Burgmuseum William Methven, Autor des historischen Romans "The Hare's Vision", der unter williamamethven.com einen eigenen Blog betreibt, für ein ausführliches Interview zum Thema Brexit zur Verfügung gestellt.


Riesiges Plakat der 'Border Communities Against Brexit' am Straßenrand in der zur Republik gehörenden Grafschaft Cavan - Foto: © 2018 by Schattenblick

Gegen Grenzkontrollen wird längst mobilisiert
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Methven, Sie stammen ursprünglich aus Derry. Was hat Sie dazu veranlaßt, sich bei Ihrer Rückkehr aus Schottland nach Nordirland in der westlichsten Grafschaft, Fermanagh, niederzulassen?

William Methven: Ich hatte rund fünf Jahre in Schottland verbracht und dort an verschiedenen Sozialprojekten gearbeitet. Irgendwann bekamen ich und meine Frau Heimweh nach Irland, möglicherweise, weil wir vom Alter her so spät nach Schottland übergesiedelt waren. Ich hatte früher im Ausland gearbeitet, doch als wir nach Schottland gingen, waren wir beide bereits über fünfzig Jahre alt. Ich hatte gedacht, daß ich mich in Schottland irgendwann heimisch fühlen würde, denn meine Vorfahren stammten von dort. Aber dieses Gefühl stellte sich nicht ein. Statt dessen wuchs das Empfinden, in der Fremde zu sein. Nach fünf Jahren hatten wir genug davon und entschieden uns, nach Hause zurückzukehren.

Wir fühlten uns von jeher von der Landschaft der irischen Westküste angezogen. Fermanagh liegt zwar nicht direkt an der Küste, ist gleichwohl von Seen und Flüssen geprägt. Ich habe starke familiäre Verbindungen zu Fermanagh, die mehrere Generationen zurückreichen. Als wir bei der Haussuche schließlich hier in der Nähe von Enniskillen das für uns geeignete Objekt fanden, haben wir prompt zugeschlagen. Die Landschaft von Fermanagh ist wunderschön und das soziale Klima herzlich. Im Gegensatz zu anderen Teilen von Nordirland, wo ich früher gewohnt habe, wie etwa an der Nordküste von Antrim, sind die Menschen in Fermanagh freundlich im Umgang und nicht so verschlossen und grießgrämig. Wegen der vielen Seen und auch weil es nicht an einer der großen Verkehrsverbindungen liegt, stand Fermanagh nicht nur in Nordirland, sondern in Irland insgesamt stets etwas abseits. Nach der Teilung bildete Fermanagh den westlichsten Zipfel oder die Sackgasse Nordirlands. Alles, auch die Infrastruktur, blieb etwas unterentwickelt. Dadurch behielt Fermanagh seine ländliche, rückständige Prägung, die vielleicht gerade deswegen viele Außenseiter, Künstler, Handwerker et cetera anzog. Mir gefällt die Atmosphäre hier in Fermanagh sehr gut.

SB: Wie ist die Meinung der Menschen, mit denen Sie hier in Enniskillen und Umgebung täglich verkehren, unweit der Grenze zur Republik in Bezug auf den Brexit?

WM: Ich denke, daß sich die meisten Menschen in Fermanagh Sorgen wegen der möglichen Brexit-Folgen machen. Von der Wiedereinführung von Grenzkontrollen gingen nicht nur Beeinträchtigungen und zusätzliche Kosten für alle Handeltreibenden, sondern auch die Gefahr aus, daß sich militante Republikaner dazu aufgerufen fühlen könnten, Anschläge gegen die neuen Einrichtungen durchzuführen. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 existiert die innerirische Grenze zwar noch auf dem Papier, im Alltagsleben ist sie jedoch vollkommen unsichtbar geworden. Der einzige zu bemerkende Unterschied besteht darin, daß die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit auf den Verkehrsschildern in der Republik in Kilometern und im Norden Irlands in Meilen angegeben wird. Viele protestantischen Betriebe im Norden, die vor dreißig, vierzig Jahre keine Geschäfte in der Republik getätigt hatten, haben heute im Süden eigene Niederlassungen. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen. So gesehen machen sich Protestanten genauso wie Katholiken in Fermanagh Sorgen wegen des Brexit und der möglichen Einführung von Grenzkontrollen.

Vor diesem Hintergrund bin ich der Meinung, daß die Democratic Unionist Party (DUP) mit ihrer Unterstützung der harten Linie der konservativen Minderheitsregierung in London die Sorgen von Teilen der eigenen Wählerschaft nicht gebührend berücksichtigt. Immerhin haben sich die DUP-Vertreter gegen Grenzkontrollen und alles, was den inneririschen Handel beeinträchtigen könnte, ausgesprochen. Und das, obwohl ihnen die völkerrechtliche Abgrenzung Nordirlands von der restlichen Insel hoch und heilig ist. Viele protestantische Geschäftsleute und vor allem die Bauern auf dem Land mögen zwar treue DUP-Wähler und sogar -Wahlkampfspender sein, doch ihr persönliches und berufliches Wohlergehen hängt inzwischen vom inneririschen Handel ab. Vor dreißig, vierzig Jahre wäre das nicht der Fall gewesen.

SB: Seit der Abstimmung sind rund eineinhalb Jahre vergangen; es sieht immer mehr so aus, als strebe die Regierung in London ungeachtet der möglichen Konsequenzen für Irland als Ganzes den Austritt des Vereinigten Königreichs aus Binnenmarkt und Zollunion an. Sehen sich die Brexit-Gegner in ihren Ängsten bestätigt? Werden diejenigen, die für den EU-Austritt votiert haben, vielleicht etwas nachdenklicher?

WM: Ich bin der Meinung, daß sich die allermeisten Menschen in Großbritannien und Nordirland, als im Juni 2016 über den Brexit abgestimmt wurde, gar nicht im klaren über die möglichen Konsequenzen waren - sowohl was den Verbleib als auch was den Austritt betrifft. Seitdem ist immer deutlicher geworden, daß selbst führende Brexit-Befürworter in der britischen Regierung, Leute wie Boris Johnson und Michael Gove, die Sache überhaupt nicht zu Ende gedacht hatten. Wie soll da der gemeine Bürger die Angelegenheit in all ihren Aspekten erfaßt haben? Es herrscht viel Verwirrung, und wie üblich bei Wahlen und Abstimmungen haben die beteiligten Politiker viele Halbwahrheiten verbreitet. Auf der Seite derjenigen, die für den Brexit votierten, war meiner Ansicht nach der Überdruß mit der Regierung und dem politischen Establishment in London für das Nein zur EU ausschlaggebend. Viele Menschen nicht nur in Nordirland, sondern vor allem im Norden Englands fühlten sich von der Politik im Stich gelassen - und das praktisch seit den Tagen Margaret Thatchers. Also kam es zu einem Protestvotum gegen die herrschenden Eliten nominell in Brüssel, aber in erster Linie in London.

Schaut man sich das Endergebnis in Nordirland an, stellt man fest, daß die Menschen in zwölf der 18 Wahlkreise für das Unterhaus in London mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert haben. Für das Abstimmungsverhalten war die konfessionelle Zugehörigkeit - wie sollte es in Nordirland anders sein - ausschlaggebend. Eine überwältigende Mehrheit der Katholiken votierte für den Verbleib; eine Mehrheit der Protestanten, wenn auch viel knapper, gab dem Austritt den Zuschlag. Dadurch haben in Nordirland die Gegner des Brexit die Befürworter mit 56 zu 44 Prozent geschlagen. Gleichwohl war die Brexit-Debatte in ihrer Gesamtheit durch Verwirrung gekennzeichnet. Niemand wußte, was der Brexit alles beinhalten würde. Das war auch gar nicht anders möglich, da das Vereinigte Königreich mit dem EU-Austritt völliges Neuland betritt. Dennoch votierte eine Mehrheit der britischen Wähler dafür - wie gesagt, in erster Linie als Protest gegen die politische Elite. Viele Menschen, die für den Brexit stimmten, hatten das Gefühl, die EU entwickele sich zu einem supranationalen Bundesstaat, dessen Vertreter sich nicht mehr für die Belange der kleinen Leute, sondern lediglich für die der Großkonzerne interessierten. Sie wollten nicht, daß immer mehr Macht nach oben abgegeben, sondern daß die Demokratie auf der kommunalen und regionalen Ebene gestärkt wird. Doch wie das gehen soll, weiß aktuell niemand. Die Handelsbeziehungen zum Beispiel gestalten sich nicht mehr regional, sondern überregional bis global. Britische und nordirische Unternehmen haben eigene Niederlassungen, Verteilungszentren, Produktionsstandorte überall in der EU. Wie soll da ein reibungsloser Ablauf der geschäftlichen Aktivitäten gewährleistet werden, wenn sich das Vereinigte Königreich aus Binnenmarkt und Zollunion verabschiedet, wie es die Brexit-Fundamentalisten fordern?


William Methven im Porträt - Foto: © 2018 by Schattenblick

William Methven
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Politiker und Sicherheitsexperten warnen vor Grenzkontrollen bzw. dem Wiederaufbau von Überwachungsanlagen et cetera und malen die Gefahr aus, solche Installationen würden ehemalige militante IRA-Kämpfer zu Anschlägen provozieren, wodurch natürlich der nordirische Bürgerkrieg nach rund 20 Jahren Frieden wieder von vorne losgehen könnte. Sind solche Warnungen überzogen oder besteht tatsächlich die Gefahr einer Destabilisierung Nordirlands?

WM: Nicht nur ich, sondern jeder weiß, daß die Errichtung solcher Anlagen unweigerlich zu Gegenmaßnahmen führen könnte. Schließlich ist die Bevölkerung entlang der ganzen nordirischen Seite der Grenze mehrheitlich katholisch-nationalistisch und wünscht sich früher oder später die Wiedervereinigung mit der Republik. Das Karfreitagsabkommen hat dem Verlangen dieser Menschen, von der Republik nicht abgeschnitten zu sein, dadurch Rechnung getragen, daß die Straßenkontrollen abgeschafft, die Kasernen der britischen Armee in der Grenzregion alle geschlossen und ihre Beobachtungsposten auf den Bergen entfernt wurden. Die Grenze ist faktisch verschwunden. Im Alltagsleben existiert sie nicht mehr. Man fährt durch die Grenzregion, ohne zu merken, ob man sich in Nordirland oder der Republik befindet. Sollten demnächst britische Soldaten und nordirische Polizisten wieder versuchen, den Grenzverkehr zu kontrollieren, Autos und Lastwagen nach Personen und Produkten zu durchsuchen, würde das unweigerlich zu Spannungen und Konflikten führen. Die Menschen hier in der Region wären nicht mehr bereit, sich derlei Prozeduren sozusagen "im eigenen Land" gefallen zu lassen.

Das wissen die Verantwortlichen in London auch und haben deshalb absolut kein Interesse daran, sich für nichts und wieder nichts erneut einen langwierigen und kostspieligen Militäreinsatz in Nordirland einzuhandeln. Vor diesem Hintergrund lautet meine Prognose: Sollte es tatsächlich zum Brexit kommen - was noch nicht raus ist, da sich das Parlament Ende letzten Jahres ein Mitspracherecht erkämpft hat und somit die Möglichkeit eines zweiten Referendums nicht ausgeschlossen werden kann -, dann wird es ein sanfter sein, damit der Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der restlichen EU, die Republik Irland eingeschlossen, möglichst reibungslos wie bisher vonstatten geht. Es werden Kompromisse sowie technische Lösungen gefunden werden, damit sich die Frage nach Grenzkontrollen auf der Insel Irland erübrigt. Davon bin ich überzeugt.

SB: 2016 und 2017 hat die DUP die Treffen des All-Ireland Forums, bei denen Politiker, Vertreter der Wirtschaft sowie diverser gesellschaftlicher Gruppen aus Nord und Süd gemeinsam Möglichkeiten der Linderung der Brexit-Folgen diskutierten, demonstrativ boykottiert. DUP-Chefin Arlene Foster hat die vom damaligen irischen Premierminister Enda Kenny initiierten Begegnungen als Propagandaveranstaltungen und Quasselbude in einem abgetan. Man könnte den Eindruck bekommen, daß sich die DUP entgegen allen anderslautenden Erklärungen und ungeachtet der möglichen katastrophalen wirtschaftlichen Folgen heimlich einen harten Brexit samt Grenzkontrollen wünscht, um den von allen Beobachtern zu verzeichnenden Trend Richtung Wiedervereinigung in sein Gegenteil zu verkehren und die Union mit Großbritannien wieder zu festigen. Ist an diesem Eindruck vielleicht etwas dran? Wäre eine solche radikale Position bei Nordirlands Unionisten überhaupt mehrheitsfähig?

WM: Ehrlich gesagt, habe ich nicht das Gefühl, daß man bei der DUP weiß, was man vom Brexit will oder wollen soll. Ich denke, ihr Verhalten in der Brexit-Frage beruhte auf einer Fehleinschätzung. Opportunistisch, wie sie ist, hat sich die DUP in der Annahme für den Brexit stark gemacht, die Mehrheit der Bürger würde für den Verbleib in der EU stimmen, aber immerhin hätte die Partei ihren Patriotismus und ihre Treue zur Union demonstriert, was von der eigenen Wählerbasis belohnt würde. Der letzte Teil der Rechnung ist aufgegangen. Die meisten Protestanten in Nordirland sind dem Aufruf der DUP gefolgt und haben für den Brexit gestimmt. Doch dadurch, daß die überwiegende Mehrheit der Engländer für den Austritt gestimmt hat und der Brexit tatsächlich vollzogen werden soll, sieht sich die DUP mit einer Situation konfrontiert, mit der sie eigentlich nicht gerechnet hat. Sie befindet sich in derselben Situation wie der Berufsprovokateur Boris Johnson, der rein aus eigenem Macht- und Karrierestreben auf den Brexit-Zug aufgesprungen ist, aber niemals erwartet hätte, daß er als Außenminister Großbritanniens den EU-Austritt würde umsetzen müssen.

Gleichwohl darf man nicht vergessen, daß die DUP stets zu den politischen Gruppierungen im Vereinigten Königreich gehört hat, die der EU äußerst skeptisch gegenüberstehen. Das hat allerdings den DUP-Gründer Ian Paisley nicht daran gehindert, Nordirland von 1979 bis 2004 als Abgeordneter im EU-Parlament zu vertreten, wo er allen Berichten zufolge konfessionsübergreifend mit seinem Kollegen John Hume von der katholisch-nationalistischen Social Democratic Labour Party (SDLP) produktiv zusammengearbeitet haben soll. Dennoch betrachten die DUP und der reaktionäre Flügel der konservativen Partei Großbritanniens die EU als Bedrohung der britischen Souveränität. Daher der Wunsch nach Austritt, solange es noch geht und bevor sich die EU zum föderalen Superstaat entwickelt.

Trotz alledem glaube ich nicht, daß die DUP einen harten Brexit favorisiert. Die Parteiführung muß die Interessen des eigenen Klientels, vornehmlich der protestantischen Arbeitgeber- und Bauernschaft berücksichtigen, die inzwischen auf ihre Geschäftsverbindungen und Märkte in der Republik und der restlichen EU angewiesen sind und darauf nicht verzichten wollen. Vor diesem Hintergrund glaube ich, daß bei der DUP viel heißer gekocht als gegessen wird. Gleichzeitig ist der Umfang des Handels Nordirlands mit dem britischen Festland nach wie vor größer als der mit der Republik, weswegen die DUP vor Weihnachten ein großes Aufheben darum gemacht hat, daß künftig keinesfalls Zollkontrollen an den Flug- und Seehäfen eingerichtet werden und die Grenze zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich nicht auf die Irische See verlagert wird.

SB: Also glauben Sie, daß der Deal zwischen der Regierung Theresa Mays und der DUP der Sache der Unionisten nicht dienlich gewesen ist?

WM: Absolut. Auch wenn die DUP es nicht wahrnehmen will, stellt der Brexit eine ganz große Gefahr für das Fortbestehen der Union zwischen Nordirland und Großbritannien dar. Seit dem Referendum ist die innerirische Grenze das große Thema, über ihren Sinn und Zweck wird in Dublin, London und Brüssel hitzig debattiert. Das hat der Brexit bewirkt. Seit die DUP im vergangenen Sommer den Deal mit den Tories gemacht hat, daß ihre zehn Abgeordneten im Londoner Unterhaus die Minderheitsregierung Theresa Mays an der Macht halten würden, wird in politischen Kreisen Großbritanniens das Festhalten an Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs in Frage gestellt. Sehr viele Briten sind über die Tatsache, daß eine reaktionäre Hinterwäldlerpartei aus Irland, deren Vertreter regelmäßig gegen Homo-Ehe, Abtreibung und Evolutionslehre polemisieren, das politische Schicksal Großbritanniens mitbestimmen sollen. Viele Engländer, Schotten und Waliser sehen in der Union Großbritanniens mit einem Nordirland, das seit Jahrzehnten am Subventionstropf Londons hängt, keinen Nutzen mehr. Nicht nur in Irland, sondern auch in Großbritannien kommen immer mehr Menschen zu der Erkenntnis, daß die Teilung der Insel künstlich, schädlich und nicht mehr zeitgemäß ist. Diese Entwicklung ist für die Sache der DUP nicht gerade förderlich, um es milde auszudrücken.

Als der Bürgerkrieg noch tobte, war die Bedeutung Nordirlands für Großbritannien glasklar. Das Land befand sich im Kampf mit den "Terroristen" von der IRA. Ein Rückzug aus Nordirland, der gleichbedeutend mit einer Kapitulation der Streitkräfte Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. gewesen wäre, kam für die politische und militärische Elite Großbritanniens nicht in Frage. Doch inzwischen verliert die traditionelle Allianz zwischen den nordirischen Unionisten und den britischen Konservativen seit Jahren an Inhalt. Von Nordirland bzw. Irland geht keine Bedrohung mehr aus, die beide Seiten zusammenschweißt. Die Anzahl der britischen Kommentatoren, die meinen, mit der Republik Irland komme man bestens aus und Nordirland wäre besser aus Dublin als aus Belfast verwaltet, steigt stetig an. In Großbritannien macht sich fast niemand mehr außer alternden Tory-Granden und rechtsradikalen Straßenschlägern für die Union mit Nordirland stark. Die Entfremdung auf britischer Seite verstärkt den Trend in Richtung irischer Wiedervereinigung.


Der markante Doppelturm der im 17. Jahrhundert nach schottischem Vorbild umgebauten Burg von Enniskillen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Enniskillen Castle
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: In Verbindung mit dem Streit zwischen London und Brüssel vor Weihnachten über die Grundbedingungen der kommenden Brexit-Verhandlungen haben führende Vertreter der DUP und der Tory-Party öffentlich die Regierung in Dublin bezichtigt, die schwierige Lage zu mißbrauchen, um auf unzulässige Weise die Wiedervereinigung Irlands voranzutreiben. Inwieweit wird dieser recht einseitigen Interpretation der diplomatischen Bemühungen Dublins im Brexit-Streit in Nordirland Glauben geschenkt?

WM: Übertreibungen und falsche Auslegungen der Motive und des Handelns des Gegners gehören zum politischen Geschäft. Im Brexit-Streit ist es nicht anders, nur daß die Einsätze für Belfast, Dublin und London enorm hoch sind. Daher die Hysterie, die das Thema Brexit zum Teil auszeichnet. Dessen ungeachtet läßt sich nicht bestreiten, daß sich die beiden Volksparteien in der Republik, die regierende Fine Gael und die oppositionelle Fianna Fáil, mit einer immer stärker werdenden Sinn Féin konfrontiert sehen. Sie sind praktisch gezwungen, die nationalistische Karte zu spielen, um im Süden nicht Wähler an Sinn Féin zu verlieren und im Norden nicht den Vorwurf aufkommen zu lassen, sie ließen die dortigen Nationalisten in Stich.

Der Brexit hat in Irland die nationale Frage, die man mit Hilfe des Karfreitagsabkommens gelöst zu haben schien, wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt. Im Norden macht sich Sinn Féin für eine Volksbefragung über die Wiedervereinigung stark, im Süden will das politische Establishment die aufgekommene Debatte in ihrem Sinne steuern, die nationalistischen Gefühle bändigen, Sinn Féin klein halten und die Unionisten als Gesprächspartner nicht verprellen. Zusammenraufen auf der Insel muß man sich so oder so - mit oder ohne Grenzkontrollen.

SB: Aber die DUP tut so, als sei beispielsweise die Aussage des 45jährigen irischen Außenministers Simon Coveney vor wenigen Wochen, er hoffe die Wiedervereinigung Irlands noch vor seinem Tod zu erleben, ein krasser Verstoß gegen das Karfreitagsabkommen und eine Abkehr Dublins von völkerrechtlichen Verpflichtungen.

WM: Was soll ich sagen? Die DUP-Politiker bedienen halt ihre Wählerbasis mit der jüngsten Variante der alten Schauergeschichte von der gefährdeten Union und den dunklen, pannationalistischen Umtrieben Dublins. Wegen ihrer Wagenburg-Mentalität hat die DUP niemals etwas gelernt, außer Angst zu verbreiten. Nur so gelingt es ihr, ihre Wählerschaft an sich zu binden. Leider merken die protestantischen Wähler nicht, wie wenig sie von der Dauerkonfrontation mit den katholischen Nationalisten haben. Nordirland, einst der wirtschaftliche Motor ganz Irlands, hat sich seit 1921 zur abgehängten Peripheriezone entwickelt. Die Unionisten versperren sich selbst die Teilnahme als gleichberechtigte Bürger an einem vereinigten und florierenden irischen Staat.

SB: Das Phänomen, von dem Sie sprechen, konnte man letztes Jahr gut beobachten. Nachdem bei den Wahlen zum nordirischen Parlament im März das nationalistische Wahlergebnis es nur ganz knapp um etwa 1000 Stimmen verfehlte, erstmals in der Geschichte Nordirlands dasjenige der unionistischen Parteien zu übertreffen, hat die DUP bei den vorgezogenen Wahlen zum britischen Unterhaus im Juni wirklich alles unternommen, um die Anhänger der Union zu mobilisieren. Es kam zu einer starken Polarisierung, an deren Ende die DUP zehn Sitze und Sinn Féin sieben eroberte, während Silvia Hermon in North Down als einzige unabhängige Kandidatin ihr Mandat für das Londoner Parlament verteidigte. Dennoch deutet die Tatsache, daß seit der Brexit-Abstimmung vor eineinhalb Jahren Tausende nordirischer Bürger, darunter nicht wenige Protestanten und sogar Ian Paisley jun. die irische Staatsbürgerschaft angenommen haben, um sich einen EU-Paß zu besorgen, auf eine Zunahme des Trends in Richtung Wiedervereinigung hin. Was meinen Sie dazu?

WM: Zwanzig Jahre lang, seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommen 1998, war die Wiedervereinigung Irlands kein Thema mehr. Auch Sinn Féin hat in dieser Zeit die Frage nicht angerührt, um die Unionisten nicht zu verschrecken und ihre Zusammenarbeit in der interkonfessionellen Regierung in Nordirland nicht zu gefährden. Zwar sieht das Abkommen die Möglichkeit der Wiedervereinigung ausdrücklich vor, sobald sich eine Mehrheit bei einer Volksbefragung in Nordirland dafür ausspricht, doch da diese Mehrheit bislang nicht gegeben war, rührte auf nationalistischer Seite niemand mehr an der Angelegenheit.

Doch der Brexit hat hier für ein Erdbeben gesorgt. Plötzlich ist die Wiedervereinigung Irlands und die mögliche Durchführung einer Volksbefragung praktisch in aller Munde. Interessanterweise sind es konservative Zeitungen in Großbritannien und Irland wie die Times of London respektive der Irish Independent, deren Kommentatoren ausführlich über das Szenario in allen Variationen laut nachdenken. Interessanterweise haben genau dieselben Medien das Thema 50 Jahre lang gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Während der Troubles war für konservative Kräfte auf beiden Seiten der Irischen See die Frage der Teilung Irlands absolut tabu, denn sie aufzuwerfen wurde mit ideologischer Unterstützung der "terroristischen" IRA gleichgesetzt. Die verstärkte Thematisierung der Frage der Wiedervereinigung Irlands vor allem in der britischen Presse zeigt für mich, daß ein Umdenken bei der Politelite in London stattfindet. Die Briten sind Nordirland und des Dauerstreits der dortigen Parteien überdrüssig. In irischen Angelegenheiten wird Dublin für London allmählich zum alleinigen Ansprechpartner. Alles andere erzeugt nur unnötigen Aufwand.

Ich halte den Umstand, daß wenige Monate nach dem Brexit-Votum die interkonfessionelle Regierung zwischen DUP und Sinn Féin in Belfast kollabiert ist, für keinen Zufall. Das Fehlen einer einheitlichen Stimme aus Belfast macht es London leichter, mit Dublin über die Brexit-Modalitäten zu verhandeln. Der Brexit wird ganz klar genutzt, um die Wiedervereinigung Irlands viel schneller als bislang gedacht herbeizuführen und zwar nicht nur von der politischen Elite in Dublin, sondern in Zusammenarbeit mit den Kollegen in London und Brüssel. Ich weiß, daß nicht viele Menschen dieses Urteil teilen, aber so sehe ich die Dinge jedenfalls. Deswegen wird das Szenario eines wiedervereinigten Irland in allen britischen und irischen Medien seit Monaten in bislang ungewohnter Ausführlichkeit diskutiert.


William Methven im Porträt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Angesichts der Zerstrittenheit von DUP und Sinn Féin in den Fragen der juristisch-geschichtlichen Aufarbeitung der "Troubles" und der Gleichstellung der gälischen Sprache zeichnet sich das Fehlen einer interkonfessionellen Regierung in Belfast, die mit einer Stimme sprechen könnte, um so gravierender als Manko ab. In der Brexit-Frage beziehen die beiden Parteien diametral entgegengesetzte Positionen - die DUP ist vollkommen dafür, Sinn Féin absolut dagegen. Wie sollten sie da gemeinsam die Interessen Nordirlands vertreten?

WM: Vom Streit zwischen DUP und Sinn Féin einmal abgesehen - wären die nordirischen Institutionen von Regierung und Parlament funktionsfähig, stünde deren Vertretern immerhin ein Platz am Verhandlungstisch zu. Derzeit tragen beide Parteien lediglich die Interessen der eigenen Wählerschaft vor. Das schwächt ihre Position. Brüssel, Dublin und London können sie leichter ignorieren. Der Widerwillen von DUP und Sinn Féin gegen eine Neuauflage ihrer bisherigen Koalition entspringt nicht nur ihrer gegenseitigen Animosität. Keine der beiden Parteien will für die Haushaltskürzungen in den Bereichen Gesundheit und Soziales verantwortlich gemacht werden, welche die konservative May-Regierung in London verordnet hat und die sie als Provinzverwalter gegen den Willen der eigenen Wähler in Nordirland umsetzen müßten. Durch den politischen Stillstand in Belfast können es beide Seiten vermeiden, diesen Giftbecher zu trinken.

SB: Ein wichtiges Ziel des Karfreitagsabkommens war die Versöhnung zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland. Doch 20 Jahre später scheint man immer noch Lichtjahre davon entfernt zu sein. Als im Januar 2017 der todkranke Martin McGuinness den Austritt Sinn Féins aus der nordirischen Koalition verkündete, begründete er dies nicht zuletzt mit den vielen Versöhnungsgesten, die er als Stellvertretender Premierminister gegenüber der unionistischen Gemeinde gemacht habe, die aber von Arlene Foster und der DUP angeblich nicht erwidert worden seien. Womit erklärt sich die Verhaltenheit der Unionisten? Können sie sich von der These ihrer angeblichen moralischen Überlegenheit im Kampf gegen die IRA einfach nicht lösen? Haben sie Angst, daß sie alles verlieren könnten, wenn sie den Aufstand der IRA als begründet anerkennen? Wieso haben sie solche Schwierigkeiten, auf die Katholiken zuzugehen?

WM: Ich bin als Mitglied der unionistischen Gemeinde Nordirlands aufgewachsen, der ich aber nicht mehr angehöre. Ich hatte das Glück, daß ich von Kindesalter an beide Perspektiven auf den Konflikt kennengelernt habe. Mein Vater kam ursprünglich aus Wexford im Südosten Irlands. Obgleich ein Protestant, war er ein Verfechter des irischen Nationalismus. Meine Mutter, ebenfalls Protestantin, stammte dagegen aus dem Norden und war Anhängerin der Union mit Großbritannien. Bei den Unionisten herrscht immer eine Belagerungsmentalität vor, weil ihre Vorfahren praktisch alle im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert als koloniale Siedler der Krone aus England und Schottland gekommen sind. Mit ihrer Hilfe sollte der aufmüpfige Norden Irlands, das letzte Refugium des alten gälischen Klanwesens, endlich befriedet werden. Aus diesem Grund sowie wegen der konfessionellen Unterschiede haben sie sich niemals in die einheimische Bevölkerung voll integriert. Im Gegenteil, sie haben sich den Katholiken gegenüber als überlegen gefühlt und auch so verhalten. Aus unionistischer Sicht sind alle Protestanten ordnungsliebend und strebsam, alle Katholiken dagegen arbeitsscheue Faulenzer. Dieses Vorurteil wird bis heute gepflegt - nicht zuletzt durch Organisationen wie dem Oranier-Orden, dessen Mitgliedschaft für Katholiken verboten ist.

SB: Also betrachten sich die Unionisten als Briten und nicht als Iren, obwohl sie seit Jahrhunderten auf der Insel leben?

WM: Sie wissen gar nicht, was sie sind. Brite zu sein bedeutete etwas, als das British Empire die Weltmeere beherrschte und es ein relativ einheitliches Vereinigtes Königreich gab. Doch das Empire existiert seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr, und Großbritannien droht am Auseinanderdriften Englands und Schottlands zugrunde zu gehen. Ich habe mir vor Jahren selbst die Frage stellen müssen, worin das Britisch-Sein besteht. Ich habe für mich keine zufriedenstellende Antwort darauf gefunden. Immerhin können sich die Engländer und die Schotten auf ihre eigene nationale Identität berufen. Aber Nordirlands Unionisten? Wenn man Großbritannien und das Britisch-Sein abzieht, sind es nicht im Grunde genommen Iren? Das ist die Schlußfolgerung, zu der ich schließlich gekommen bin, aber der sich die meisten Unionisten aus nachvollziehbaren historischen und emotionalen Gründen bislang verschließen. Für Nordirlands Protestanten ist das Irisch-Sein nicht ohne weiteres zugänglich. Man ist entweder Protestant im unionistischen Lager oder Katholik im nationalistischen.

SB: Aber man kann in jedem Frühjahr ohne weiteres 200 Kilometer nach Dublin fahren und die irische Rugby-Nationalmannschaft bei den Heimspielen des 6-Nations-Turniers anfeuern.

WM: (lacht) Wohl wahr. Aber das würde ich als kulturellen Aspekt einordnen. Ich spreche hier vom politischen. Der politische Graben zwischen Unionisten und Nationalisten in Nordirland ist abgrundtief. Es gibt keinen Zwischenraum, keine fließende Übergänge. Verläßt man seinen angeborenen Stamm, wird man zum Ausgestoßenen und verliert die meisten sozialen Kontakte. Wegen des Bürgerkrieges ist der Nationalismus aus Sicht der Unionisten stark mit der IRA verbunden. Deshalb wird jeder Protestant, der es wagt, Sinn Féin zu wählen oder der Partei beizutreten, zum Verräter gestempelt. Deswegen kommt so etwas praktisch gar nicht vor. Wir brauchen aber Parteien oder Organisationen, die den Unionisten ein Ablegen ihrer Wagenburg-Mentalität ermöglichen.

SB: Möglicherweise können die Politiker in der Republik Abhilfe schaffen, indem sie auf die Unionisten zugehen und ihnen die Angst vor einem wiedervereinigten Irland nehmen.

WM: Es gibt immer wieder Überlegungen seitens Fianna Fáils und Fine Gaels, eigene Ortsvereine in Nordirland zu gründen und sich dort an den Wahlen zu beteiligen. Die politischen Positionen von DUP und Fine Gael liegen - von der nationalen Frage einmal abgesehen - nicht allzu weit auseinander. Beide sind von der Ideologie her konservativ. Beide wollen den Einfluß von Sinn Féin so klein wie möglich halten. Von daher könnte ich mir eine informelle Allianz zwischen DUP und FG vorstellen, die langfristig zum Abbau der konfessionellen Spannungen in Nordirland beiträgt und die Annäherung zwischen Nord und Süd bis hin zur meines Erachtens unvermeidlichen Wiedervereinigung Irlands fördert.

SB: Vielen Dank, Herr Methven, für dieses Interview.


Die Burg von Enniskillen von der gegenüberliegenden Seite eines Seitenarms des Lough Erne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Blick auf die Westseite von Enniskillen Castle
Foto: © 2018 by Schattenblick


20. Januar 2018


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