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UNITED KINGDOM/001: Feuer, Straßen und Finanzen - ein Interview (SB)


Sasha Simic zu den sozialen Unruhen im United Kingdom

9. August 2011


Sasha Simic ist Aktivist der Socialist Workers Party (SWP). Er lebt und arbeitet im Londoner Stadtteil Hackney, einem der Brennpunkte der Unruhen, die die britische Hauptstadt erschüttern. Der Schattenblick befragte ihn am 9. August im Rahmen eines Telefoninterviews zu den sozialen Hintergründen und politischen Perspektiven der aktuellen Entwicklung.

Sasha Simic - Foto: © 2011 by Sasha Simic

Sasha Simic
Foto: © 2011 by Sasha Simic

Schattenblick: Sasha, wie sind die Riots deiner Ansicht nach organisiert, oder sind sie überhaupt organisiert?

Sasha Simic: Ich glaube nicht, daß sie in dem Sinne organisiert sind, wie es in den Medien behauptet wird. Dort wird viel über Twitter, über Blackberries geredet, doch was die Medien damit meinen, ist, daß die Riots einen bestimmten Ursprung haben. Sie reden über Anarchisten, über eine politisch oder kriminell motivierte Organisation. Meiner Ansicht nach wird das den Ereignissen hier nicht gerecht. Als die Studenten Ende letzten Jahres gegen Polizeibrutalität kämpften, da benutzten sie soziale Medien, um der Polizei zu entgehen. Ich glaube, das passiert auf den Straßen und nur in dem Sinn ist man organisiert.

SB: In welchem Ausmaß sind soziale Bedingungen für diese Entwicklung verantwortlich?

SSC: Ich meine, ihre Bedeutung übertrifft alle anderen Motive bei weitem und man kann das, was hier in London geschieht, nur vor diesem Hintergrund verstehen. Ich lebe und arbeite in Hackney. Zudem arbeite ich politisch in diesem Stadtteil in der Socialist Workers Party (SWP). Wenn die Medien behaupten, hier gehe es um Kriminalität jugendlicher Gewalttäter, dann verstehen sie deren Lage überhaupt nicht. Hackney ist eine der 29 Gemeinden im United Kingdom, in denen mehr als eins von fünf Kindern in großer Armut lebt. Letztes Jahr hat unsere Arbeitslosenstatistik ergeben, daß auf eine offene Stelle in Hackney 57 Bewerber kommen. Welche Chance haben Jugendliche, unter solchen Wettbewerbsbedingungen einen Job zu bekommen? Viele junge Leute möchten gerne in der örtlichen Hochschule studieren. Um das zu tun, konnten sie früher eine Education Maintenance Allowance (EMA) in Anspruch nehmen. Das war eine sehr geringe Beihilfe von 20 bis 30 Pfund, die es ihnen ermöglichte, Bücher und anderes Lernmaterial zu erstehen, und auf die unsere Kinder mehr als die Jugendlichen in anderen Bezirken angewiesen waren. Diese Regierung hat ihnen das Ende letzten Jahres weggenommen. Zudem wurden unsere Einrichtungen und Dienste für Jugendliche besonders hart von der Kürzung um 44 Millionen Pfund getroffen, die für den Bezirk Hackney gestrichen wurden.

Obwohl London eine der reichsten Städte Europas ist können unsere Kinder nicht studieren, sie bekommen keinen Job, sie erhalten keine Ausbildung, und wenn sie sich auf der Straße aufhalten, dann werden sie von der Polizei wie Kriminelle behandelt. So wurden die Riots gestern in Hackney durch eine weitere Durchsuchungsaktion der Polizei ausgelöst. Die Polizei behandelt junge Männer wie Kriminelle, durchsucht sie ohne jeden Anlaß und verhaftet sie, wenn sie sich weigern zu kooperieren. Von daher muß man sich nicht wundern, wenn die Jugendlichen wütend werden und sich wehren. Und das geschieht überall in London.

Nach den Aufständen in Watts in Los Angeles im August 1965, die durch den massiven Rassismus der Polizei ausgelöst wurden, besuchte Martin Luther King das Viertel, in dem tausend Gebäude zerstört und Schäden in Höhe von 40 Millionen Dollar angerichtet wurden. Dort traf er auf eine Gruppe junger Männer, die eine Siegesfeier abhielten. King konnte diesen Triumph mit dem chaotischen Zustand des Viertels nicht in Übereinstimmung bringen. Er fragte sie, wie sie den Tod von 34 Schwarzen, die Zerstörung ihrer Community und die Strategie der Weißen, die Aufstände als Vorwand zu nehmen, nichts für sie zu tun, als Sieg verstehen könnten. Sie antworteten, daß sie gewonnen hätten, weil sie die Weißen dazu gezwungen hätten, ihnen zuzuhören. King bezeichnete derartige Riots von da an als "Stimme der Ungehörten". Das geschieht auf den Straßen Londons. Das ist die Sprache der Ungehörten.

Die Regierung und die Medien mögen für Ereignisse kriminelle Gangs und Schläger verantwortlich machen, doch die Entwicklung war vollkommen absehbar. Diese Leute hatten genug von der Krise, sie leben unter inakzeptablen Umständen. Und wenn wir ihnen die Zukunft verweigern, stehen sie natürlich dagegen auf.

SB: Meinst du, daß sich die Lage erst aufgrund der jüngsten Verschlechterung der sozialen Entwicklung so zugespitzt hat, oder wurden die Grundlagen dafür bereits unter der Labour-Regierung gelegt?

SSC: Ich meine, die Situation kocht schon seit vielen Jahren hoch, doch wir sollten nicht darüber überrascht sein, daß sie zu diesem Zeitpunkt eskaliert. Ich war am Sonnabend in Tottenham auf einem Rock Against Racism-Konzert in Vorbereitung der Anti-English Defence League-Demo am 3. September im Stadtteil Tower Hamlets. Wir befanden uns in unmittelbarer Nähe der Riots, die aus einem weiteren Tod in Polizeigewahrsam entstanden. Nachdem der 29jährige Vater von vier Kindern Mark Duggan von der Polizei erschossen wurde, ähnelten die offiziellen Erklärungsversuche sehr dem Vorfall auf der G-20-Demo im Frühjahr 2009. Die Polizei hatte damals behauptet, Ian Tomlinson hätte einen Herzanfall gehabt. Die Demonstranten hätten die Beamten bei dem Versuch, ihm zu helfen, so sehr behindert, daß der Mann verstarb. Später stellte sich heraus, daß ein Polizeibeamter ihn angegriffen hatte.

Die Menschen können der Polizei nicht mehr vertrauen. Der Reggaemusiker Smiley Culture wurde im März bei einer Polizeirazzia in der eigenen Wohnung umgebracht, was für die Verantwortlichen vollkommen folgenlos blieb. Das alles wurzelt in langfristiger Arbeitslosigkeit und einer Kultur, die den Menschen mitteilt, daß sie nichts wert sind, wenn sie kein Geld in der Tasche haben. Man schaut auf sie herunter, wenn sie die modernen Konsumgüter nicht vorweisen können, gibt ihnen aber nicht die Möglichkeit, sie auf legale Weise zu besorgen. Es ist die Sprache der Ungehörten, die nicht zielgerichtet und unstrukturiert ist.

Premierminister David Cameron und der Bürgermeister von London, Boris Johnston, haben ihren Urlaub abgebrochen und sprechen von der Inakzeptabilität der Gewalt. Diese Leute gehörten früher einer alten Studentenverbindung an der Oxford University aus dem 19. Jahrhundert namens Bullingdon Club an. Es handelt sich um die Sprößlinge der alten, superreichen Aristokratie, die dafür berühmt waren, im Frack ins Restaurant zu gehen, sich dort mit Champagner zu betrinken, das teuerste Essen zu bestellen, um den Laden anschließend zu demolieren. Danach ließen sie sich die Rechnung präsentieren und bezahlten bar. Cameron, Johnston und der Finanzminister George Osborne waren in den 1980er Jahren Mitglieder in diesem Club. Solche Leute verurteilen heute unsere Kinder für die gleichen Sachen, die sie sich selbst als Jugendliche herausgenommen haben. Die Gewalt von Reichen geht in Ordnung, die Gewalt unserer Kinder wird verurteilt.

Es ist eine Regierung von Reichen für Reiche. Von den 29 Kabinettsmitgliedern sind 24 Multimillionäre, darunter Cameron, Osborne und der sogenannte Liberale Nick Clegg. Wie kommen sie dazu, unsere Kinder zu verurteilen, wenn sie ihnen alles genommen und in die eigene Tasche gesteckt haben.

SB: Wie ist es um das Verhältnis zwischen der örtlichen Bevölkerung und den Rioters bestellt?

SSC: Es ist nicht einfach, denn natürlich ist es ein Problem, daß die Jugendlichen sich an der eigenen Gemeinde vergreifen. In einzelnen Bezirken in Nordlondon haben kleine Ladenbesitzer ihr Eigentum mit Baseballschlägern verteidigt. Wenn Geschäfte anzündet werden, wird nicht bedacht, daß in den darüber liegenden Wohnungen Menschen leben. Durch dieses chaotische Vorgehen wurden Leute aus ihren Häusern vertrieben. Weil die Proteste nicht gerichtet sind, können sie alle möglichen Formen annehmen. Riots sind keine Revolutionen, aber sie sind Ausdruck des Gefühls der Wut, der Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit.

Als ich gestern von der Arbeit nachhause kam und die Riots in Hackney begonnen hatten, befanden sich zahlreiche Menschen auf der Straße, die eine Art passiver Unterstützung übten. Zuschauer und Menschen, die vielleicht Arbeit haben, verstehen dennoch, wie sich eine Generation fühlt, die stetiger Polizeibrutalität ausgesetzt ist und von der Regierung auf den Müllhaufen geworfen wurde.

SB: Britannien ist einer der führenden Sicherheitstaaten Europas. Dennoch wurde diese Entwicklung nicht verhindert. Wurde sie durch die Repression, die Kameraüberwachung und und ähnliches vielleicht sogar provoziert?

SSC: Die Kameras sind tatsächlich völlig nutzlos. Letzte Woche wurde ein Bericht veröffentlicht, laut dem sie in nur vier Prozent aller Mordfälle zur Aufklärung beitragen. Die Überwachungsgesellschaft ist für die Bekämpfung echter Kriminalität wertlos. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die Kürzungen der konservativ-liberalen Regierung dafür sorgen, daß sich weniger Streifenpolizisten auf der Straße befinden. Als die Bereitschaftspolizei am Sonnabend in Tottenham auftauchte, haben wir ihnen zugerufen, daß nun die Gelegenheit bestände, gemeinsam etwas gegen Sozialkürzungen zu unternehmen. Alle erforderlichen Sozialleistungen werden gekappt. Die staatliche Gesundheitsversorgung wird privatisiert, Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst werden gestrichen. Wenn sie einen Wirtschaftskrieg gegen uns führen, wie können sie erwarten, daß es gesellschaftlichen Frieden gibt?

Sie handeln ihrem eigenen Interesse zuwider, wenn sie bei der Polizei kürzen. Als Magaret Thatcher in den 1980er Jahren mit den Bergarbeiterstreiks konfrontiert war, hat sie immer dafür gesorgt, daß die Polizei gut bezahlt und ausgestattet wurde, um sie niederzuschlagen.

SB: Siehst Du irgendeinen Zusammenhang zwischen den Riots in Britannien und den Protesten in anderen Staaten Europas und des Nahen Ostens?

SSC: Das ist schwierig zu beurteilen. Ich war nach der Revolution in Ägypten und stehe in Kontakt mit Leuten in Griechenland, Spanien und anderswo. Auch wenn keine direkte Verbindung besteht, ermutigt die Tatsache, daß die Menschen sich in anderen Ländern gegen die Austeritätspolitik erheben, die Menschen hierzulande, sich diesem Kampf anzuschließen. Ich denke, es geht in erster Linie darum, daß die Menschen genug haben und sich wehren. Die Studentendemonstrationen Ende letzten Jahres, dann die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, die Proteste in Griechenland und Spanien bilden den generellen Hintergrund für den Widerstand in diesem Sozialkampf.

SB: Wie verhält sich die britische Linke im allgemeinen und Deine Partei im besonderen zu dieser Form von unorganisiertem Protest und zum Zorn der Jugendlichen?

SSC: Bei Riots dieser Art geht es allgemein mehr darum, die Temperatur einer Generation der Verbitterung zu messen, die den Haß auf unsere sozialen Feinde gerichtet hat. Der Ausgangspunkt besteht darin, daß wir - aus all den Gründen, die ich erläutert habe - nicht bereit sind, die Leute für ihr Tun zu verurteilen. Zum zweiten sind wir nicht bereit, uns der allgemeinen Forderung, die zuerst von rechten Politikern, aber inzwischen auch von der Labour Party erhoben wurde, nach mehr Polizei oder einem robusteren Vorgehen der Polizei anzuschließen. Unter "robust" verstehen sie, brutaler gegen die Jugendlichen vorzugehen. Die Polizei versucht nun geltend zu machen, sie sei in ihrem Vorgehen gegen die Unruhestifter seit der Affäre um den Tod von Ian Tomlinson gehemmt. Zudem wird gefordert, die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen auszustatten. Die Polizei hat schon genügend Leute umgebracht und wurde nicht dafür zur Verantwortung gezogen, obwohl sie noch nicht über diese Mittel verfügte. Man darf nicht vergessen, daß die jüngste Eskalation durch den Tod eines weiteren Schwarzen ausgelöst wurde, der sich in den Händen der Polizei befand.

Dies alles findet statt, nachdem vor nur einem Monat die engen Beziehungen zwischen der Regierung, der Polizei und dem Medienimperium Rupert Murdochs publik wurden. Die Polizei hat Telefondaten von Prominenten an die Murdoch-Presse verkauft. Die Murdoch-Presse hat die Regierung bei der Durchsetzung ihrer Austeritätspolitik unterstützt. Sie hat ehemaligen hochrangigen Polizeibeamten gutbezahlte Posten verschafft, während Premierminister Cameron wiederum den ehemaligen Chefredakteur der News of the World, Andy Coulson, als seinen Pressesprecher eingestellt hat. Eine korrupte Vetternwirtschaft enthält unseren Kindern die Ressourcen vor, die sie für eine lebenswerte Zukunft benötigen. Diese sind nun auf ihre eigene Art und Weise dagegen aufgestanden. Deswegen stehen wir erstens auf der Seite der Jugendlichen, zweitens sind wir gegen die weitere Aufrüstung der Polizei, und drittens müssen wir alt und jung bei ihrem Kampf um soziale Gerechtigkeit unterstützen. Das bedeutet, die Regierung abzuwählen, und das bedeutet, daß die Reichen nicht um die Pflicht herumkommen, ihre Steuern an den Staat abzuführen. Bei der letzten Erhebung stellt sich heraus, daß die Reichen dem Staat 120 Milliarden Pfund im Jahr vorenthalten. Warum also schaffen sie Dinge ab, die wir benötigen?

Demnächst finden zwei große Demonstrationen statt. Zuerst wollen wir am 3. September einen Aufmarsch der English Defence League in Tower Hamlets verhindern, dann findet am 2. Oktober eine nationale Demonstration anläßlich des Parteitags der Tories in Manchester statt. Manchester hat keinen Tory-Abgeordneten, es ist Feindesland für sie. Wir müssen sicherstellen, daß die Wut und die Bitterkeit, die die Proteste der Studenten und die Riots auf den Straßen Londons zum Vorschein gebracht haben, bei der Parteikonferenz im Oktober zum Ausdruck kommen.

SB: Glaubst Du, daß die EDL und andere rechte Organisationen einen Vorteil aus der jetzigen Eskalation ziehen können?

SSC: Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll. Dies ist eine häßliche kleine Gruppe, die durch den Alltagsrassismus der Mainstreammedien in ihrer Bedeutung aufgebauscht wird. Die allgemeine Islamophobie, die auch bei der BBC festzustellen ist, speist sich aus den beiden Kriegen in Afghanistan und im Irak wie dem jüngsten Krieg in Libyen. Sie hat den Interessen der faschistischen Rechten wesentlich zugearbeitet. Dennoch denke ich, daß es für sie schwierig sein wird, konkreten Nutzen aus diesen Unruhen zu ziehen. Diese Gruppen haben angeboten, die demonstrierenden Studenten von der Straße zu fegen, sie haben Gewerkschaften angegriffen und damit bewiesen, daß sie der Nazi-Agenda folgen. Nach Norwegen muß vermittelt werden, was dieser Haß anrichtet. 77 Menschen tot, nur weil sie multikulturell und antirassistisch eingestellt waren, weil sie der Linken angehörten. Zur Zeit verhalten sich die Rechtsextremen hierzulande deswegen ruhig. Von daher ist es wichtig, die Faschisten am 3. September in Tower Hamlets, einem großen multikulturellen Bezirk, zu stoppen. Am 4. Oktober 1936 stellten sich jüdische, sozialistische, kommunistische, anarchistische und irische Gruppen einem Aufmarsch der Schwarzhemden des britischen Faschistenführers Oswald Mosley entgegen, was als die Schlacht an der Cable Street in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Was damals gelang, soll auch heute erfolgreich sein.

SB: Sasha, vielen Dank für das Gespräch.

9. August 2011