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ARBEIT/195: Gefährliche Arbeitsplätze - Migrantische Saisonarbeiterinnen in der Landwirtschaft (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 147, 1/19

Gefährliche Arbeitsplätze
Migrantische Saisonarbeiterinnen in der europäischen Landwirtschaft

von Anna Fierz


Laut der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) müssen Landwirtschaftsbetriebe zwar ökologische Standards erfüllen, um Subventionen zu erhalten, nicht aber soziale. Gewerkschaftliche Kampagnen zeigen auf, dass sich im herrschenden Sozialdumping migrantische Saisonarbeiterinnen am untersten Ende der "Nahrungskette" befinden.


Die europäische Landwirtschaft ist im Wandel. Zwischen 2003 und 2013 hat ein Drittel aller landwirtschaftlichen Betriebe aufgegeben, und ihre Nutzflächen übernahmen andere. Heute bewirtschaften 3,1% der Betriebe mehr als die Hälfte des Agrarlandes. Vor allem diese Intensivbetriebe sind es, die den Arbeitsmarkt für migrantische Saisonarbeiter_innen in seiner heutigen Form geschaffen haben. Für sie gehören schwere Lebens- und Arbeitsbedingungen zum Alltag, und wie in vielen anderen Arbeitsbereichen auch sind vor allem Frauen von (strukturellen) Schwierigkeiten und Diskriminierungen betroffen.


Gewerkschaften

Die Arbeitnehmer_innen-Organisation EFFAT (European Federation of Food, Agriculture and Tourism Trade Unions) ist ein Zusammenschluss der europäischen Nahrungsmittel-, Landwirtschafts- und Tourismusgewerkschaften. Seit dem Jahr 2000 vertritt EFFAT als europäische Dachorganisation 120 nationale Gewerkschaften aus 35 europäischen Ländern - und somit die Interessen von mehr als 22 Mio. Menschen - gegenüber europäischen Industrieverbänden, Institutionen und Unternehmensleitungen.(1)

Jugendarbeit, Migration und schwerpunktmäßig die prekären Arbeitsbedingungen sind die Themen, um die EFFAT sich kümmert. In der Landwirtschaft und dort vorwiegend in der saisonalen Arbeit ist EFFAT bemüht, die Interessen der Migrantinnen und Migranten zu vertreten, im Wissen, dass besonders die Frauen zu den verletzlichsten Gruppen auf diesem Arbeitsmarkt zählen.

Landwirtschaftlichen Betrieben wird immer wieder vorgeworfen, mit ausbeuterischen Strategien finanzielle und soziale Notlagen und Unsicherheiten auszunützen. Laut der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) müssen Landwirtschaftsbetriebe ökologische Standards erfüllen, um EU-Subventionen zu erhalten, nicht aber soziale Standards.

Dazu kommt, dass auch die national vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen bisweilen auf der Landwirtschaftsebene nicht umgesetzt werden. Die staatlichen Regulationen des jeweiligen Landes haben also oft nichts mit der Realität der Saisonarbeiter_innen zu tun.


Profiteure

Im Arbeitsalltag der Saisonarbeiter_innen werden die formellen Regulierungen, Gesetze und Maßnahmen der Behörden von informellen Vereinbarungen unterwandert. Die Dynamiken der migrantischen Saisonarbeit sind daher oftmals eher inoffiziell und spontan. Zum Beispiel geschieht die Arbeitsvermittlung vielfach individuell über soziale Netzwerke wie Familien oder Bekanntenkreise. Diese informellen Aspekte spiegeln sich auch im Temporären und Prekären der Arbeit wieder. Bürokratische Angelegenheiten werden von den Vorgesetzten erledigt, so beispielsweise die vom Lohn abgezogenen Steuern. Folglich wird der Lohn auch viel eher festgelegt als verhandelt, und es herrscht eine Willkür sondergleichen.

Weil die landwirtschaftlichen Betriebe auf dem Markt immer weniger Geld für ihre Ware bekommen, wird Druck auf die Saisonarbeiter_innen ausgeübt. In der Gemüseproduktion wird unter Umständen eine Bezahlung pro Stück (alternativ zum Stundenlohn) angewendet. Die Leistungskontrolle durch die Arbeitgeber_innen soll so einfacher funktionieren, für die Saisonarbeiter_innen bedeutet Bezahlung pro Stück allerdings ein verschärftes Arbeitstempo, um auf dieselbe Summe zu kommen wie beim Stundenlohn.

Bei der Saisonarbeit geht es um die untersten Positionen auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt, und die migrantischen Saisonarbeiter_innen sind wichtige Arbeitskräfte, die den Profit der Betriebe erst richtig rentabel machen.

Im Vergleich zum Mindestlohn im jeweiligen Land beträgt der Lohn der Saisonarbeiter_innen meistens nur rund ein Drittel oder ein Viertel. Wobei in den von der EFFAT beobachteten Sektoren Nahrungsmittelproduktion, Landwirtschaft und Tourismus Frauen noch einmal bis zu 29% weniger Lohn erhalten.

Die Löhne der Saisonarbeiter_innen sind im Vergleich zu jenen in ihren Herkunftsländern dennoch höher. Das könnte ein Grund dafür sein, dass unter ihnen starke Unklarheit und Unsicherheit herrscht, was die adäquate Lohnhöhe wäre. Der Kampf um höhere Löhne wiederum ist riskant, wie auch EFFAT aufzeigt, denn die Angst, wegen Schwangerschaft oder Krankheit einfach ausgetauscht zu werden, oder Entlassungen wegen fortgeschrittenen Alters sind in der industriellen Landwirtschaft keine Seltenheit.

Und selbst wenn die Saisonarbeiter_innen über ihre Rechte Bescheid wissen, befinden sie sich in der schwächeren Verhandlungsposition - aufgrund von Sprachbarrieren und dem eingeschränkten sozialen und kulturellen Kapital, denn sie haben meist nur wenige Kontakte innerhalb des Landes, in dem sie arbeiten. Dazu kommen fehlende Aufstiegs- und Ausbildungsmöglichkeiten und ungenügender Sozialversicherungsschutz.


Kampagnen!

In Österreich ist es die Produktionsgewerkschaft PRO-GE, die seit Sommer 2014 die Aufklärungskampagne SEZONIERI(2) führt, um der Ausbeutung in der Landwirtschaft entgegenzuwirken. Die Kampagne hat das Ziel, Erntehelfer_innen über ihre Rechte zu informieren und dafür zu sorgen, "dass wenigstens die bestehenden rechtlichen Regeln, insbesondere betreffend Bezahlung, menschenwürdige Behandlung und Unterbringung sowie Arbeitsschutz eingehalten werden". Aktivist_innen von SEZONIERI besuchen die Saisonarbeiter_innen direkt auf den Feldern und versorgen sie mit vielsprachigem Informationsmaterial über ihre Rechte, wie z. B. die Höhe des ihnen je nach Bundesland zustehenden Mindestlohns.

Frauen in der Saisonarbeit sind über die schlechtere Bezahlung hinaus auch vielfach verbalen und körperlichen sexuellen Übergriffen durch bäuerliche Arbeitgeber ausgesetzt. In Anlehnung an [#MeToo lancierte EFFAT im vergangenen November deshalb die Kampagne [#StopGBVatWork, also "Stop Gender Based Violence at Work", und machte darauf aufmerksam, wie gefährlich Arbeitsplätze in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit für Frauen oft sind.

Allen diesen Kampagnen geht es um mehr Sichtbarkeit für die migrantischen Saisonarbeiter_innen und um mehr Bewusstsein - bei den Arbeiter_innen dafür, dass sie Rechte haben, und bei den Konsument_innen dafür, sich für den "sozialen Preis" ihrer frisch geernteten Lebensmittel zu interessieren.


ANMERKUNGEN:
(1) www.effat.org/en
(2) www.sezonieri.at


LESETIPPS:

Sezonieri-Kampagne für die Rechte von Erntehelfer_innen in Österreich: Willkommen bei der Erdbeerernte! Ihr Mindestlohn beträgt... Gewerkschaftliche Organisierung in der migrantischen Landarbeit - ein internationaler Vergleich. Download:
www.sezonieri.at/wp-content/uploads/2018/02/Willkommen_bei_der_Erdbeerernte.pdf

Agrar-Atlas 2019. Daten und Fakten zur EU-Landwirtschaft. Österreichische Ausgabe:
www.global2000.at/sites/global/files/Agrar-Atlas-2019.pdf


ZUR AUTORIN:
Anna Fierz studiert Kultur- und Sozialanthropologie an den Universitäten Bern und Wien. Als Radiomacherin ist sie bei der Sendereihe "Globale Dialoge - Women on Air" tätig.

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Quelle:
frauen*solidarität Nr. 147, 1/2019, S. 12-13
Text: © 2019 by Frauensolidarität / Anna Fierz
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2019

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