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ENERGIE/135: Schweden, Finnland und die deutsche Energiewende (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Schweden, Finnland und die deutsche Energiewende

Von Maja Fjaestad und Petri Hakkarainen
März 2013



• Finnland und Schweden haben nach der Katastrophe von Fukushima vollkommen andere Wege eingeschlagen als Deutschland: Beide Länder planen den Bau neuer Kernkraftwerke. Um zu erklären, warum Schweden und Finnland Deutschlands Post-Fukushima-Entscheidung nicht gefolgt sind und ob in Zukunft etwaige Positionswechsel erwartet werden können, skizziert dieser Artikel die historische Entwicklung der Atomenergie in Schweden und Finnland.

• Schweden ist vom Pfad des Atomausstiegs abgerückt, obwohl das Land ähnlich wie Deutschland traditionell eine starke Umweltbewegung hat. Die schwedischen Reaktionen auf die deutsche Entscheidung, aus der Kernenergie auszusteigen, zeigen eine deutliche politische Polarisierung: Das linke politische Lager verweist auf Deutschlands Vorreiterrolle bei den erneuerbaren Energien, während das rechte Lager vor steigenden Treibhausgas-Emissionen warnt und die Energiewende »eine in Panik getroffene Entscheidung« nennt.

• Eine finnische Besonderheit besteht darin, dass dort keine Anti-Atomkraft-Bewegung von Bedeutung existiert. Darüber hinaus ist Finnland das einzige europäische Land, das in den vergangenen Jahren neue Kernkraftanlagen gebaut hat. Die Nachrichten aus Fukushima platzten mitten in den finnischen Wahlkampf hinein, allerdings ohne viel politische Aufmerksamkeit zu erhalten. Nach der deutschen Ausstiegsentscheidung warnten Vertreter der finnischen Energieindustrie und von Ministerien vor steigenden Strompreisen.

• Trotz ihrer kulturellen und geografischen Nähe zu Deutschland gibt es nach Fukushima und der deutschen Ausstiegsentscheidung keinerlei Anzeichen dafür, dass Schweden oder Finnland ihre Atompolitik ändern werden.

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Als CDU/CSU und FDP im Jahr 2009 gemeinsam die Bundesregierung bildeten, versprachen sie einen »Ausstieg aus dem Ausstieg«. Damit war die Verlangsamung der geplanten Stilllegungen von Kernkraftwerken gegenüber den bis dahin gültigen Vereinbarungen gemeint. Aber nach dem Unglück von Fukushima - in einem hochmodernen Kernkraftwerk in einem entwickelten Land - wurde es politisch unmöglich, diesen Kurs zu halten, zumindest in Deutschland. Dagegen setzten Schweden und Finnland ihren eingeschlagenen Weg fort, die Nutzung der Kernenergie zu steigern. Warum? Welche historischen Gründe gibt es dafür? Und welche Reaktionen gab es auf die Entscheidung Deutschlands?

Obwohl es eine Vereinfachung darstellt, wird die deutsche Energiewende in Schweden und Finnland häufig auf die Entscheidung reduziert, stufenweise aus der Kernenergie auszusteigen. Vor Fukushima spielte die Atomenergie noch in allen drei in diesem Artikel behandelten Staaten eine wichtige Rolle. So betrug der Anteil der Kernenergie an der Nettostromerzeugung im Jahr 2010 in Deutschland 22,5 Prozent, in Schweden 38,3 Prozent und in Finnland 28,4 Prozent (vgl. Eurostat 2011). Dennoch unterschieden sich die Reaktionen in Schweden und Finnland auf die Ereignisse in Fukushima fundamental von denen in Deutschland.



Schwedische Atomenergie

Es ist häufig darauf hingewiesen worden, dass sich die Umweltbewegungen in Schweden und Deutschland während der siebziger Jahre in ganz ähnlicher Weise entwickelt haben. In beiden Ländern waren die Umweltbewegungen durch große Demonstrationen, soziale Bewegungen und - vor allem - durch den massiven Widerstand gegen die Atomenergie gekennzeichnet. Hinzu kommt, dass die schwedische Umweltbewegung, gemessen an internationalen Standards, als ungewöhnlich stark gilt (Jamison et al. 1990: 13). Gründe dafür sind die Tradition der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, aber auch die Tatsache, dass eine andere Partei, die Zentrumspartei, den Abschied von der Kernenergie schon früh als Profilierungsthema für sich entdeckte.

Die Rolle der Umweltbewegung ist eines der wichtigsten Merkmale, wenn es um die Entstehung der schwedischen Haltung in der Energiepolitik geht. Ein weiterer zentraler Aspekt ist das Referendum über die Kernenergie im Jahr 1980. Zwar wurde darin kein genaues Datum für den Ausstieg genannt, aber nach der Abstimmung entschied das schwedische Parlament, der Ausstieg solle bis 2010 erfolgen - eine Entscheidung, die auf der Lebenserwartung der Reaktoren basierte.

Lange war die Zentrumspartei die maßgebliche Anti-Atomenergie-Partei im schwedischen Parlament. Doch der Druck, die Zusammenarbeit mit anderen Parteien im rechten politischen Lager zu erleichtern, drängte die Zentrumspartei in die entgegengesetzte Richtung. Als sie im Jahr 2006 in eine Mitte-Rechts-Regierung mit den Moderaten eintrat, präsentierte die Koalition eine Kompromisslösung: Für einen Zeitraum von vier Jahren sollten keine Anlagen stillgelegt, aber auch keine neuen Kernkraftwerke gebaut werden. Im Jahr 2009 folgte ein Beschluss der Mitte-Rechts-Parteien, der den Weg für neue Reaktoren freimachte, wenn sie existierende Atomkraftwerke ersetzten. Auch wenn das Ergebnis des Referendums von 1980 schon zuvor in Frage gestellt worden, handelte es sich jetzt endgültig um den Bruch mit der ursprünglichen Energiepolitik. Somit veränderte sich die schwedische Atompolitik vor der Katastrophe von Fukushima und der darauf folgenden Energiewende in Deutschland: Hatte die politische Mehrheit vormals einen eingeschränkten Ausstieg befürwortet, gab es nun eine ziemlich robuste Unterstützung der Nutzung von Kernenergie.

Natürlich hatte das Unglück von Fukushima in den schwedischen Medien große Befürchtungen ausgelöst, aber diese Befürchtungen zogen keine unmittelbaren politischen Konsequenzen nach sich. Im Mai 2011 lehnte das Parlament einen Gesetzentwurf der Grünen Partei, der vorsah, nach dem Vorfall in Japan sofort mit dem Atomausstieg zu beginnen, mit der folgenden Stellungnahme ab: »Zudem weist das Parlament darauf hin, dass das Unglück in Japan kein Vorwand für eine fast panikartige Entscheidung, die Richtung der Energiepolitik radikal zu ändern, sein sollte« (Swedish Parliament 2011a).

Auf dieses politische Klima traf Ende Mai 2011 die Nachricht von der deutschen Entscheidung, aus der Atomenergie auszusteigen. Der schwedische Umweltminister Andreas Carlgren (Zentrumspartei) kommentierte die Entscheidung gegenüber der schwedischen Nachrichtenagentur TT mit harschen Worten:

»Sich so stark darauf zu konzentrieren, in welchem Jahr der Ausstieg aus der Atomenergie erfolgen soll, geht am wichtigsten Punkt vorbei: Wie begegnen wir der doppelten Herausforderung, sowohl die Abhängigkeit von der Kernenergie als auch die klimaschädigenden Emissionen zu reduzieren. (...) Für Deutschland besteht nun das zentrale Problem darin, dass es wahrscheinlich mehr Atomstrom aus Frankreich importieren muss und riskiert, sich langsamer von der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu lösen, vor allem von Kohle. (...) Andere Länder haben sich anscheinend für einen anderen Weg entschieden. Nun droht Deutschland in eine Situation mit einer sehr zusammenhanglosen Energiepolitik zu geraten.« (Dagens Nyheter 2011)

Was die Haltung zu der deutschen Entscheidung angeht, taten sich schnell starke politische Gegensätze auf. In Parlamentsdebatten wurde Deutschland von den Sozialdemokraten, den Grünen und der Linkspartei gelobt. Die Abgeordnete und neu gewählte Parteiführerin der Grünen Asa Romson kommentierte diese politische Polarisierung am 10. Juni 2011:

»In unserer Debatte hat die konservative Regierung Schwedens mit allen Mitteln versucht zu zeigen, dass die Entscheidung Deutschlands zu erhöhten Emissionen von Treibhausgasen führen wird, obwohl die Vereinbarung, auf der diese Entscheidung basiert, sehr eindeutig ist in Bezug auf das, was der deutsche Weg ist. Der deutsche Weg ist es, den Treibhausgasausstoß zu senken, die Energieeffizienz zu verbessern und der Vorreiter bei den erneuerbaren Energien zu werden.« (Swedish Parliament 2011b)

Ihre Parteikollegin Lise Nordin führte diesen Punkt wenige Tage später wie folgt aus:

»Hat irgendjemand in der Regierung den deutschen Energiebeschluss gelesen? Das Ziel, die Emissionen von Treibhausgasen um 40 Prozent zu reduzieren, ist klar. Trotz der Ausstiegsentscheidung hat Deutschland ein sehr viel ehrgeizigeres Klimaziel, als es die schwedische Regierung vorweisen kann. Deutschland, eine der größten Industrienationen der Welt, zeigt, dass es möglich ist, erneuerbare Energie mit bezahlbaren Strompreisen und einer starken Industrie zu kombinieren.« (Swedish Parliament 2011a)

Die Sozialdemokraten und die Linkspartei stimmten mit dieser Betrachtungsweise überein und beschrieben Deutschland als Vorbild und als treibende Kraft für eine Energiewende in Europa. Zugleich kritisierten sie die schwedische Regierung für ihre Passivität (vgl. Swedish Parliament 2011a). Die Mitte-Rechts-Parteien erwiderten diese Anschuldigungen wiederholt mit dem Argument, die deutsche Entscheidung würde im Ergebnis zu einer vermehrten Nutzung fossiler Brennstoffe sowie zu zusätzlichen Importen französischen Atomstroms führen. Energieminister Maud Olofsson merkte sogar an, dass Deutschland bei den Klimaverhandlungen nicht so führend gewesen sei wie Schweden (vgl. Swedish Parliament 2011b). Die Christdemokraten behaupteten, Deutschland würde seinen Ausstoß von Kohlendioxid künftig verdoppeln (vgl. Swedish Parliament 2011a).

Die tiefe Kluft setzte sich auch nach den unmittelbaren Reaktionen auf die Nachrichten aus Deutschland fort. Im Dezember 2011 riet die konservative Abgeordnete Cecilie Tenfjord-Toftby vehement davon ab, Deutschland als gutes Beispiel anzusehen: »(Deutschland) steht bei der Energieversorgung vor unglaublichen Herausforderungen, während es gleichzeitig mit riesigen Problemen mit der Luftverschmutzung von seinen Kohlekraftwerken zu kämpfen hat« (Swedish Parliament 2011c). Zugleich behaupteten die Liberalen, keine Entscheidung könne derartig gefährlich für die Energieversorgung in Europa werden wie die deutsche (vgl. Swedish Parliament 2011c). Im Juni 2012 argumentierten die Liberalen im Parlament sogar noch antagonistischer:

»In Deutschland, das von den Anti-Atom-Protagonisten für seine Entscheidung, Atomkraftwerke stillzulegen, gelobt wird, ist der Kohleverbrauch schon in diesem Jahr um 13,5 Prozent angestiegen - mit dem Ergebnis steigender Emissionen, einer Zunahme von Krankheiten und letzten Endes vermehrten Todesfällen. (...) Eine in Panik getroffene Entscheidung von einer Regierung unter Druck.« (Swedish Parliament 2011c).

Einmal abgesehen von der starken Rechts-Links-Spaltung bei der Kernenergie unterscheiden sich die Reaktionen in Bezug auf die Erwartungen, welche Energieformen die deutsche Atomenergie ersetzen werden: Für die Parteien des linken politischen Lagers ist Deutschland ein Modell für die erneuerbaren Energien, die Rechte warnt vor einem steigenden Ausstoß von Treibhausgasen durch den Kohleverbrauch.

Kurzum, Schweden reagierte radikal anders auf das Unglück in Fukushima, obwohl es wie Deutschland eine Umweltschutzbewegung mit einer langen Geschichte hat. Warum?

Erstens gibt es eine schwedische »Zaghaftigkeit« gegenüber der nuklearen Sicherheit. Im Jahr 2002 behauptete die linksgerichtete schwedische Zeitung »Ordfront«, dass die ältesten Reaktoren des Landes im internationalen Vergleich einen schlechten Standard hätten, wenn man die Anzahl von Störfällen auf der INES-Skala anderen Staaten gegenüberstellt (vgl. Lundberg 2002). In den Jahren 2000 bis 2011 wurden in schwedischen Atomanlagen 47 Vorfälle gemeldet, die auf der INES-Skala mit der Stufe 1 klassifiziert wurden, außerdem ein Störfall der Stufe 2 und einer der Stufe 3 (Fukushima war Stufe 7)[1]. Dennoch schätzt die schwedische Öffentlichkeit das Risiko von Unglücken in heimischen Kernkraftwerken generell als gering ein (vgl. Hedberg et al. 2010). Der schwedische Politikwissenschaftler Sören Holmberg weist zudem darauf hin, dass der Effekt des Reaktorunglücks in Tschernobyl auf die öffentliche Meinung in Schweden nach nur einem Jahr verpufft war (vgl. Holmberg et al. 2011:14).

Zweitens ist der Klimawandel zu einem zentralen nationalen Politikthema geworden. Schweden hat seit längerem ein starkes internationales Profil in der Klimapolitik, dadurch, dass wiederholt betont wird, dass das Land bei der Stromgewinnung praktisch ohne fossile Brennstoffe auskommt (vgl. Zannakis 2009). Überhaupt sind die Schweden in Klimafragen sehr engagiert und sorgen sich um die globale Erderwärmung (vgl. Jagers et al. 2007). Es ist politisch ausgeschlossen, durch die Stilllegung von Atomanlagen einen steigenden Import fossiler Brennstoffe zu riskieren. Selbst die Parteien der rechten Mitte haben das Klimathema im Jahr 2006 nach dem Stern-Bericht und dem Film von Al Gore besetzt. Genau das wurde auch in der oben erwähnten Parlamentsdebatte deutlich - die schwedischen Gegner der deutschen Entscheidung beriefen sich zumeist auf das Klimaargument.

Die Zukunft ist noch immer unsicher, auch wenn die Mitte-Rechts-Regierung eine eindeutig positive Haltung zur Kernenergie hat. Ob es die Industrieunternehmen wirklich wagen, in der entsprechenden Größenordnung zu investieren, wenn sich die Bedingungen nach einem Regierungswechsel möglicherweise komplett verändern, bleibt offen. Die Tradition einer starken Anti-Atom-Bewegung sowie das Ausstiegs-Referendum von 1980, in Kombination mit der heutigen öffentlichen Akzeptanz der Atomenergie, deuten auf keinen klaren Weg hin. Die Debatte nach Fukushima hat die starke Polarisierung in Bezug auf die nukleare Frage in der schwedischen Politik erneut gezeigt: Das linke und rechte politische Lager haben sich mit ihren jeweiligen Positionen tief verschanzt und sind derzeit nicht bereit, aufgrund von Ereignissen außerhalb des Landes ihre Einstellungen zu überdenken.



Finnische Atomkraft

Die Ursprünge der finnischen Atomkraft sind eng mit dem Kalten Krieg verwoben. Als die ersten Reaktoren gebaut wurden, war die sensible Balance zwischen Ost und West in Finnland deutlich zu spüren. Ein weiterer entscheidender Faktor war die Rolle der energieintensiven Privatindustrie. Teollisuuden Voima (TVC) - ein Konsortium aus Unternehmen der Forst- und Papierindustrie sowie von denen kontrollierten Elektrizitätswerken - war eifrig damit beschäftigt, Atomreaktoren aus dem Westen zu bestellen.

Ein anderes durchgängiges Charakteristikum finnischer Atompolitik bestand bis zuletzt darin, dass es keinerlei Debatte über einen Ausstieg aus der Kernenergie gab (vgl. Sunell 2004: 179ff, 205). Dieser Trend setzte sich auch nach den Unglücken in Three Miles Island, Tschernobyl und zuletzt Fukushima fort - im Gegensatz zu den Entwicklungen in Schweden und Deutschland. Das Argument, die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie durch günstige, zuverlässige und in Finnland produzierte Energie sicherzustellen, wird von einem großen Teil der finnischen Gesellschaft unterstützt. Besonders bemerkenswert ist, dass noch nicht einmal die Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegungen jemals wirklich einen Ausstieg aus der Kernenergie verlangt haben. Für dieses Phänomen sind viele Gründe diskutiert worden, aber zwei jüngere Elemente stechen heraus und liefern die wohl plausibelsten Erklärungen: zum einen die Klima- und Energiestrategien der Regierung, in denen Kernenergie als Mittel zur Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen dargestellt wird; zum anderen Entscheidungen über die Endlagerung radioaktiven Mülls. So billigte das finnische Parlament im Jahr 2001 den Grundsatzbeschluss für ein Atommüll-Endlager in Olkiluoto. Formal betraf diese Entscheidung nur die Wahl eines Ortes, doch schon kurz darauf wurde sie als Lösung für das Atommüllproblem dargestellt.

Finnland ist eines der wenigen Länder in der westlichen Welt, das aktiv neue Nuklearkraft aufbaut. Zurzeit bereitet TVO einen vierten Reaktor in Olkiluoto vor und Fennovoima plant den Bau eines Kernkraftwerkes in Pyhäjoki in Nordfinnland. Nicht einmal die massiven Probleme und die ausufernden Kosten des dritten Reaktors in Olkiluoto konnten die grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der Atomenergie ändern.

Als das Unglück von Fukushima passierte, liefen in Finnland gerade intensive Vorbereitungen für die anstehenden Parlamentswahlen. Natürlich dominierten die Nachrichten aus Japan mehrere Tage lang die Schlagzeilen, aber politisch schlugen sie sich nur sehr begrenzt nieder. Es wäre ja denkbar gewesen, dass die Zukunft der Kernenergie zu einem zentralen Wahlkampfthema aufsteigen würde, aber das war nicht der Fall. Selbst die Grünen machten die Atomkraft nicht zu einem Hauptthema. Deren Parteiführung forderte lediglich, weitere Grundsatzbeschlüsse über neue Kernkraftwerke für die kommende Legislaturperiode auszuschließen - wohl kaum eine radikale Ausstiegsagenda (vgl. Sinnemäki 2011).

Das Wahlergebnis erwies sich als problematisch für die Koalitionsbildung und die Verhandlungen darüber dauerten länger als üblich. Schließlich einigte sich eine ungewöhnlich breite Sechs-Parteien-Koalition unter Führung der konservativen Koalitionspartei Ende Juni 2011 auf ein Regierungsprogramm. Dieses nimmt nur in zwei kurzen Absätzen direkt auf die Atomenergie Bezug: Die Möglichkeit, während der Legislaturperiode 2011 bis 2015 neue Grundsatzentscheidungen für neue Kernkraftwerke zu fällen, ist ausdrücklich ausgeschlossen, aber es wurden zügige Genehmigungen für diejenigen Bauvorhaben versprochen, für die ein solcher Grundsatzbeschluss bereits gilt (Cabinet of Finland 2011). Keine der Parteien stellte die erst ein Jahr zuvor erteilten Genehmigungen grundsätzlich in Frage geschweige denn sprachen sie über einen Atomausstieg.

Hingegen hoben Vertreter der Energieindustrie und des Wirtschaftsministeriums schnell die möglichen Probleme hervor, die aufgrund der deutschen Entscheidung entstehen könnten. Die größten Sorgen bereiteten ihnen die potenziellen Auswirkungen steigender Strompreise im europäischen Binnenmarkt und die daraus resultierenden Folgen für Finnland. Eine weitere Sorge war der Einfluss des deutschen Ausstiegsbeschlusses auf die europäischen Klimaschutzbemühungen, da gemeinhin angenommen wurde, dass die durch stillgelegte Atomkraftwerke entstandene Lücke mit fossilen Brennstoffen gefüllt würde. Diejenigen Stimmen, die für die Vorreiterrolle Deutschlands auf dem Gebiet der Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien argumentierten, waren in der Minderheit (vgl. Pietiläinen et al. 2011).

Wie lässt sich die finnische Reaktion erklären? Die dortige Öffentlichkeit teilt mit Schweden die ziemlich entspannte Haltung zu Sicherheitsfragen in den eigenen Atomkraftwerken. Aus finnischer Perspektive geschehen atomare Katastrophen nur unter vollkommen anderen politischen oder geografischen Bedingungen. Die finnische Strahlenschutzbehörde STUK genießt hohes öffentliches Vertrauen als zuverlässige und unabhängige Regulierungsinstanz.

Auch das Klimaargument spielt in Finnland eine Rolle, aber anders als in Schweden steht häufig zugleich eine starke industrielle Komponente im Fokus. Erst relativ kürzlich wurde der Atomenergie das Image verpasst, emissionsfrei zu sein. Dieses Image wurde argumentativ kombiniert mit der traditionellen Rolle der energieintensiven Industrie in Finnland und der generellen Bereitschaft des Landes, seine Wettbewerbsfähigkeit auch mithilfe erschwinglicher Energie zu erhalten. Diese Kombination hat eine finnische Besonderheit weiter gestärkt, nämlich das vollständige Fehlen der Debatte über einen Atomausstieg.

In Finnland kam es trotz der Katastrophe von Tschernobyl nie zu öffentlichen Ausstiegsdiskussionen. Die entscheidende Weggabelung tat sich zu Beginn des Jahrhunderts auf: Die Entscheidung für den Bau von Olkiluoto 3 im Jahr 2002 ließ Finnland dauerhaft einen anderen Weg einschlagen. Zum Fehlen von Ausstiegsdebatten in der Vergangenheit kommt hinzu, dass es heute einen ziemlich breiten Konsens für den Bau zusätzlicher Atomkraftwerke gibt. Somit scheint eine eher langfristige Zukunft der Kernenergie in Finnland wie in Stein gemeißelt zu sein. Zumindest reichten das Unglück von Fukushima und die darauffolgende deutsche Energiewende nicht aus, um diese Überzeugung zu ändern.



Anmerkung

[1] Niklas Larsson, Schwedische Strahlenschutzbehörde, Schriftwechsel mit M. Fjaestad, 15. August 2012.



Literaturverzeichnis

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Zannakis, Mathias (2009): Climate Policy as a Window of Opportunity. Sweden and Global Climate Change. Göteborg: Department of Political Science, Doctoral Dissertation.



Über die Autoren

Dr. Maja Fjaestadt ist Dozentin am Royal Institute for Technology (KTH) in Stockholm, Schweden.

Dr. Petri Hakkarainen ist Senior Fellow am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam, Deutschland.

Dies ist eine gekürzte und überarbeitete Version eines Artikels von Maja Fjaestad und Petri Hakkarainen mit dem Titel »Diverging Nuclear Energy Paths: Swedish and Finnish Reactions to the Energiewende«, der zuerst im RELP (Renewable Energy Law and Policy Review) Band 3 (2012), Nr. 4, S. 234-244 veröffentlicht wurde.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2013