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FORSCHUNG/328: Unterwasser-Goldgrube für die Biotechnologie (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - Dezember 2007
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Blaue Biotechnologie - Unterwasser-Goldgrube für die Biotechnologie

Von Charlotte Brookes


Polarfische oder Bakterien in Hydrothermalquellen - manche Meereswesen wählen so unwirtliche Lebensräume, dass es schwer verständlich erscheint, wie sie überhaupt überleben können. Ihre Widerstandsfähigkeit unter außergewöhnlichen Bedingungen, wie beispielsweise bei einem starken Salzgehalt oder unter extremen Temperaturen, oder ihre Fähigkeit, Toxine zu bilden, haben die Neugierde der Forscher des Exzellenznetzwerks "Marine Genomics Europe" (1) erregt. Langsam aber sicher interessieren sich die Biotechnologien für diese erstaunliche Natur, die uns womöglich neue Medikamente gegen Krebs, biologisch abbaubare Kunststoffe oder revolutionäre Antibiotika liefern könnte.


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"Manche Organismen überleben in extremen Tiefen, ohne Sauerstoff (zumindest fast) und bestehen bei außerordentlich hohen oder niedrigen Temperaturen", stellt Mike Thorndyke fest, Verantwortlicher für die Aspekte Evolution, Entwicklung und biologische Vielfalt im Netzwerk Marine Genomics. "Wie kommen diese Tiere unter derartigen Bedingungen zurecht? Wie überleben sie große Tiefen mit extremen, unglaublichen Temperaturen und Druckverhältnissen? Das versuchen wir zu verstehen, denn der Stoffwechsel dieser Wesen liefert eine Gelegenheit für sinnvolle Entdeckungen für alle, auch im Bereich der menschlichen Gesundheit. Auch die Enzyme dieser Organismen erweisen sich als interessanter als die gewöhnlich verwendeten, denn man kann sie beispielsweise in stark salzigen Lösungen oder bei extremen Temperaturen einsetzen.


Extremophile

Nehmen wir den Fall der Polarfische. Wie können sie dem Frost standhalten? Dreißig Jahre intensiver Forschungsarbeiten waren erforderlich, um das Geheimnis ihrer Wider - standsfähigkeit bei eisigen Wassertemperaturen zu lüften. Ein Team kanadischer Biologen wies nach, dass sich "Frostschutz"-Proteine, die zehnmal aktiver sind als alle bis dahin bekannten, an Eiskristalle heften und sie damit am Wachstum hindern. Eine Eigenschaft, die sich im medizinischen Bereich als sehr nützlich erweisen könnte, z. B. für die Lagerung von Organen und für die Kryochirurgie, eine Technik, bei der Krebszellen durch Gefrieren abgetötet werden.

Ein anderes Beispiel: Das Bakterium Desulfotalea hält der Kälte stand, da es sich bei negativen Temperaturen in Meeressedimenten bewegt. Würde man die nur bei mittleren Temperaturen wirkenden (mesophilen) Pendants des Bakteriums mit diesem Enzym ausstatten, könnten die Lebensmittelindustrie oder der Waschmittelsektor große Energie - einsparungen erzielen.

Am anderen Ende des Thermometers lebt das Bakterium Pyrococcus abyssi in Thermalquellen. Seine optimale enzymatische Aktivität erreicht es bei Temperaturen zwischen 80 und 110 °C. Die biochemischen Eigenschaften dieser Enzyme könnten sie zu wertvollen Werkzeugen für künftige Technologien der DNARekombination machen. Bestimmte Enzyme dieser Art sind übrigens bereits im Handel: Die DNA-Polymerase I wird aus dem thermophilen Bakterium Thermus aquaticus isoliert und für Kettenreaktionen durch Polymerase (PCR) verwendet, um mehrere Gene für die In-vitro-Forschung zu produzieren.

Die Liste der für die Biotechnologie nützlichen Substanzen aus dem Meer wächst unablässig und umfasst sowohl Proteine als auch Lipide oder beispielsweise "CAZy" (Carbohydrate-Active Enzymes), die in der Lage sind, komplexe Kohlenhydrate in "Grünes Benzin umzuwandeln". Bestimmte Bakterien werden beim Abbau von Polymeren verwendet, einem Verfahren, mit dem die Wissenschaftler des Ifremer (Institut français de recherche pour l'exploitation de la mer) einen vollständig biologisch abbaubaren Kunststoff herstellen. Die Entdeckung von Mikroorganismen, die in der Lage sind, sehr hohen Temperaturen standzuhalten oder unter anderen extremen Bedingungen zu überleben, dürfte zu revolutionären industriellen Anwendungsmöglichkeiten führen", erklärt Philippe Goulletquer, französischer Koordinator für biologische Vielfalt im Meer und an der Küste am Ifremer. "Deshalb ist die biologische Vielfalt eine Voraussetzung für die Biotechnologie."


Chemische Kriegsführung

Die Tugenden der Meeresorganismen liegen nicht nur in ihrem originellen Lebensraum, sondern auch in ihrer Lebensweise begründet.

Eine sedentäre Lebensweise und ein weicher Körper machen aus manchen Kreaturen wahre Couchpotatoes der Tiefe, die ihre Sicherheit mittels komplexer chemischer Abwehrmecha - nismen sicherstellen. Mithilfe sekundärer Metaboliten, Molekülen, die neben der Sicherung des Überlebens des Organismus noch andere Funktionen erfüllen (Kampf gegen ökologische Gegner oder Räuber), synthetisieren sie manchmal toxische Substanzen oder nutzen andere Mikroorganismen, um solche zu erlangen.

Diese Stoffe sind besonders wirkungsstark - sie sollen ja im Wasser Wirkung zeigen - und so vielfältig wie die Mikrofauna und -flora, die sie hervorbringt, und sie interessieren die Wissenschaftler sehr. Ein wahrlich enormes Reservoir an Substanzen, von denen einige beispielsweise zur Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten gegen Infektions - krankheiten oder Krebs führen könnten. Über 16 000 neue Substanzen dieser Art wurden isoliert dank Organismen wie Schwämmen, Ascidien oder Seegras.


Genetische Vielfalt

In Europa trägt das Netzwerk Marine Genomics zur Entdeckung zahlreicher Metaboliten bei. "Wir sequenzieren DNA-Fragmente, um die genetische Vielfalt an verschiedenen Stellen der europäischen Küsten aber auch anderswo, wie beispielsweise in der Antarktis, zu beurteilen. Das ist wichtig, damit wir Extremophile studieren können, jene Organismen, die unter extremen Bedingungen leben", erklärt Mike Thorndyke. Das Netzwerk erstellt umfangreiche Datenbanken mit genetischen Daten, die die biotechnologische Forschung unterstützen, wie die Entwicklung von Antibiotika aus DNAFragmenten, die Schaffung von Mikrochips oder die Bereitstellung von Bioreaktoren für die industrielle Herstellung von seltenen Substanzen, wie Wachstumshormonen.

Der Direktor des Zentrums für Meeres- Biotechnologie und Biomedizin in San Diego (USA), William Fenical, gehört zu den Vorreitern in der Forschung nach neuen Krebswirkstoffen aus dem Meer. Sein Team gelangte von der Erforschung der wirbellosen Tiere zu den Mikroorganismen und entdeckte, dass zahllose Actinomyceten entgegen der vorherrschenden Ansicht, diese Tiere kämen im Meer nicht vor, benthonische Sedimente bevölkern. 2003 haben Forscher nachgewiesen, dass Salinosporamid A, ein aus Actinomyceten isolierter Stoff, die Eigenschaft besitzt, sich an einen Tumor zu binden und sein Wachstum zu hemmen. Heute wird in klinischen Tests seine Wirksamkeit für die Behandlung des multiplen Myeloms, einer Blutkrebsart, geprüft.


Odyssee mit langem Atem

"Trotz dieser vielversprechenden Anwendungen leidet die Erforschung der Meeresorganismen und des großen Potenzials, das unsere Meere bieten, unter einem enormen Defizit. Die Meere quellen über vor Schätzen, die es zu nutzen gilt, bevor sie verschwinden", unterstreicht Mike Thorndyke. Tatsächlich mangelt es der pharmazeutischen Industrie an Interesse für diese Art der Forschung, wegen juristischer Unsicherheiten und Problemen der Disponibilität. In der Tat ist es schwierig, traditionelle Test- und Entwicklungsmethoden bei Stoffen anzuwenden, die nur in sehr geringen Mengen von einem Schwamm in mehreren hundert Metern Tiefe produziert werden. Aber dank einiger begeisterter Meeresforscher nimmt die "Biotech"-Odyssee ihren Lauf. Seit 20 Jahren versucht das Biotech-Unternehmen PharmaMar (ES), die möglichen krebshemmenden Wirkungen von Stoffen aus dem Meer zu bestimmen, die von eigenen Forschern oder anderen Wissenschaftlern entdeckt wurden. Derzeit hat die spanische Firma 40 000 Substanzen und Organismen aus dem Meer erfasst, die möglicherweise über ein therapeutisches Potenzial verfügen. Sechs davon befinden sich in klinischen Tests.

Künftig könnte die Forschung allerdings gut auf Kreaturen aus den Tiefen der Meere verzichten. Bei zahlreichen Substanzen dürfte eine Züchtung im Labor möglich sein, zumal sie nicht immer von Meeresorganismen stammen, sondern eher von den zugehörigen Bakterien. Eine andere Option ist auch die Isolierung des Gens, das für die Synthese der bewussten Substanz zuständig ist, um es einem einfacher zu handhabenden Organismus zu "implantieren". Wie dem auch sei, diese Entwicklungen lassen sich nicht ohne Investitionen privater oder öffentlicher Art vorantreiben, wie das Grünbuch über die Politik in maritimen Fragen der Europäischen Kommission bemerkt. Dort wird die Einrichtung eines blauen Investitionsfonds empfohlen.(2)


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Kulinarische Innovationen

Etwa 20 % der heute von der Menschheit verzehrten Proteine stammen aus dem Meer. Die Vorteile der Meeresprodukte für die Gesundheit sind allseits bekannt und die Zukunft erscheint sehr vielversprechend. Die Fortschritte im Bereich der Genetik dürften in der Tat den Weg für neue Functional-Food-Produkte aus Meeres - organismen ebnen: Sie sind vor allem reich an gesättigten Fettsäuren und Fischprotein und könnten die Risiken mehrerer chronischer Krankheiten reduzieren. Daneben enthalten zahlreiche Meeresorganismen Enzyme, die besonders für die Lebensmittelindustrie von Interesse sind. Die Amino - peptide des Thunfischs reduzieren beispielsweise die Säure bestimmter Nahrungsmittel, während Fischproteasen den Film auf Sepia und Kalmar oder die Membran von Fischlaich entfernen. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil bei der Zubereitung von Lachskaviar


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Energieschub

Energieerzeugung aus Meeressalat (Ulva latuta), das ist die Idee einer Forschergruppe am dänischen Umweltforschungsinstitut (NERD-DMU). Die Erforschung der Produktion von Bio - ethanol aus dieser Grünalge steckt zwar noch in den Anfängen, aber die ersten Schätzungen sind ermutigend: Der Meeressalat erzeugt pro Hektar 700-mal mehr Biomasse als ein herkömmliches Weizenfeld. Ulva und andere, ähnliche Arten sind in den meisten Regionen der Welt weit verbreitet, vor allem in den eutrophischen Zonen, wo ihr massives Auftreten allerdings dem lokalen Öko - system schadet. Ein Umweltproblem, das die Ernte der Algen und ihre Verarbeitung zu Biotreibstoff lösen könnte. Zudem könnten die in Dänemark in Erwägung gezogenen Produktionsplattformen auf den CO2-Überschuss aus den Kraftwerken und den Dünger zurückgreifen. Was will man mehr?


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Fangfrische Medikamente

Ecteinascidia turbinate. Dieser Intervertebrat aus der Karibik oder dem Mittelmeer liefert die Ausgangssubstanz für das Krebsmittel Yondelis (PharmaMar).

Actinomyceten. Das aus dem Bakterium Actinomycete Micromonospora gewonnene Krebsmittel Thicoralin wird derzeit bei PharmaMar entwickelt.

Bugula neritina. Dieses weitverbreitete kosmopolite Moostierchen aus dem Meer lebt in Symbiose mit einem Bakterium, das in der Lage ist, ein aktives Biomolekül, das Bryostatin, abzusondern, das als Repulsiv gegen Raubfische wirkt und für seine positive Wirkung bei Pankreas- und Nierenkrebs, bei Leukomen, Melanomen und Non-Hodgkin-Lymphomen bekannt ist. Es befindet sich in der klinischen Phase der Erprobung.

Cyanobakterien. Scytonemin ist ein Pigment für Sonnencreme gegen gelb-grüne UV-Strahlen, das man im Blau-Grün der Meeresalgen findet. Es kann auch zur Entwicklung von Inhibitoren in entzündungshemmenden und antiproliferativen Mitteln verwendet werden.

Aplidium albicans. Dieser Invertebrat erlaubte der Firma PharmaMar, eine Substanz gegen Krebs, das Aplidin, zu isolieren, die sich derzeit in der klinischen Erprobung befindet.

Haifische. Haifische leiden auffällig wenig unter Krebs, vor allem dank des Squalamins, einer Substanz aus der Leber. Sie könnte im Kampf gegen bestimmte Hirntumoren hilfreich sein.

Japanischer Schwamm. Das KRN 7000 ist keine natürliche Substanz, sondern ein synthetisches Derivat einer Reihe von Auszügen aus einem japanischen Schwamm, Agelas mauritianus. Beim Test an Mäusen bewies die Substanz ihre Wirkung auf Tumoren und zeigt Wirkung bei der Behandlung von Darmkrebs.

Conus magus. Diese Kegelschnecke lähmt ihre Beute mithilfe eines giftigen Pfeils. Das Gift wirkt auf Schmerzen wesentlich stärker als Morphin und ist unter dem Namen Prialt auf dem Markt.

Schnurwürmer. GST 21 ist die erste Substanz aus dem Meer, die für die Behandlung von Alzheimer erprobt wird.

Marthasterias glacialis. Aus diesem Eisseestern wurde vom CNRS in Roscoff (FR) die Substanz Roscovitin gewonnen. Sie blockiert Krebszellen, ohne die gesunden zu beeinträchtigen, und könnte daher eine neue chemische und therapeutische Waffe gegen Tumore werden.


Anmerkungen:

(1) Finanziert von der Europäischen Kommission mit 10 Mio. EUR über viereinhalb Jahre.

(2) Grünbuch der Kommission: Die künftige Meerespolitik der EU: Eine europäische Vision für Ozeane und Meere (7. Juni 2006).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Detail der Schleudern der Rotalge Chondrus crispus. Wenn sie von Mikroben angegriffen wird, verwandelt sich diese Alge buchstäblich in eine Fabrik für Fettsäureoxide, die man für Medikamente verwenden könnte.

> Kaltwasser-Fauna im Nordatlantik in einem Meeresschutzgebiet, die von den Forschern des MarBEF-Projekts untersucht wird (siehe Seite 8). Gadus morhua vor einem Hintergrund aus weißen Korallen (Lophelia pertusa) und orangen Korallen (Paragorgia arborea) im Norden Norwegens in 200 m Tiefe.


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - Dezember 2007, Seite 22
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2007
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2008