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FORSCHUNG/338: Kinetik der Kulturen (research*eu)


research*eu Nr. 56 - Juni 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Kinetik der Kulturen

Von Christine Rugemer


"Kultur" ist ein Begriff mit mehreren Bedeutungen, er kann sowohl eine Summe an Kenntnissen als auch eine gesellschaftliche Einheit bezeichnen. Für die letztere Bedeutung interessiert sich die Projektgruppe Cultural Dynamics im Rahmen des europäischen Programms NEST, das sich der Erforschung neuer wissenschaftlicher Gebiete widmet. Ziel: Verständnis darüber zu erlangen, wie kulturelle Faktoren weitergegeben werden und sich gleichzeitig verändern, insbesondere durch die Beleuchtung der Fragestellung der zahlreichen Identitäten in Europa. In diesem Zusammenhang eröffnet die Anwendung bestimmter Analysewerkzeuge der sogenannten "harten" Wissenschaften, wie Mathematik und Biologie, auf geisteswissenschaftliche Gegebenheiten neue Horizonte.


Unsere kulturellen Gepflogenheiten, wie Sprache, Religion, Sitten und Gebräuche, die gemeinsame Geschichte, der Wert, den wir unserem gemeinsamen Erbe beimessen, unsere öffentlichen Bereiche und speziellen Landschaften, definieren, wer "wir" sind. Dieses "wir" kann gleichzeitig verschiedenen Bereichen angehören, die sich überschneiden oder gar widersprechen: Volk, Nation, Region, Gesellschaft usw. Im Lauf der Zeit und unter dem Eindruck innerer oder äußerer Einflüsse wird diese komplexe Identität von widersprüchlichen Kräften durchzogen, die darauf ausgerichtet sind, die gemeinsamen Werte, die eine Gruppe von Menschen definieren, zu erhalten, zu ändern oder gar zu vernichten. Und die Gruppe entwickelt sich weiter, je nachdem, inwieweit die kulturellen Elemente übernommen, geändert oder zurückgewiesen wurden oder aber über die Generationen hinweg in Vergessenheit geraten sind.


Die Alchemie des Wandels

Diese bisher schlecht oder nur bruchstückhaft analysierten Phänomene möchten die Forscher von Cultural Dynamics untersuchen. Es geht darum, herauszufinden, warum beispielsweise die Bildung oder Entwicklung bestimmter Kulturen zu einem gegebenen Zeitpunkt und in einer bestimmten Umgebung stattfindet. Warum Fortschritt und Dynamik hier und Stagnation dort? Wie bilden sich Glauben und Gebräuche heraus, warum haben sie Bestand oder entwickeln sich fort? Wie wird Macht im Rahmen einer Kultur kontrolliert und ausgeübt? Welche Rolle spielen die neuen Technologien und Medien, unter denen das Internet inzwischen eine herausragende Rolle spielt, in der kulturellen Dynamik?

Diese Fragen scheinen für das Verständnis der Entwicklung der Gesellschaften und ihrer Regierungen eine grundlegende Rolle zu spielen. Dieses Verständnis wird umso dringender, als sich in einem Kontext der Globalisierung neue Formen der Kooperation zwischen regionalen und nationalen "Identitäten" ergehen (wie im Fall der Europäischen Union) oder im Gegenteil sich Konfrontationen und scheinbar "unüberwindliche" Schwierigkeiten auftun (Balkan, Naher und Mittlerer Osten, bestimmte Gebiete Afrikas usw.).


"Harte" Wissenschaften zur Verstärkung

Wie lassen sich neue Verständnisraster für diese Phänomene finden? Wie in allen wissenschaftlichen Disziplinen haben die Informations- und Kommunikationstechnologien in den kognitiven und Geisteswissenschaften einen tiefgreifenden Wandel verursacht. Umfragen und Gesellschaftsanalysen, die von verschiedenen Spezialisten (Anthropologen, Soziologen, Politologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Historikern usw.) durchgeführt werden, haben einen kumulativen Charakter. Sie bilden enorme Reserven an "menschlichen Daten", die jedoch nicht organisiert sind und denen die "harten" Wissenschaften das Prädikat "chaotisch" verleihen würden.

Allerdings ist das Chaos kein Konzept, das Physiker und Mathematiker schreckt. Sie haben nämlich gelernt, seine Konturen zu entziffern, stabile und labile Zustände, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu unterscheiden und seine Entwicklung zu formalisieren. Das Originelle an mehreren Forschungsarbeiten von Cultural Dynamics ist genau, dass man sich von bestimmten Ansätzen der sogenannten exakten Wissenschaften inspirieren lässt, um Korrelationen in der wachsenden Masse der von den Forschern zusammengetragenen Daten zu erkennen und zu schematisieren.

So widmet sich das Projekt ATACD (A Topological Approach to Cultural Dynamics) insbesondere der Methodologie dieser zunächst mathematischen und dem "Studium des Orts" gewidmeten Forschung (siehe Kasten Die Tasse und das Beignet). "Es erschien uns interessant, 'topologisch zu denken', um die kulturelle Realität zu studieren, indem wir spezialisierte Forscher in sehr unterschiedlichen Bereichen zusammenbrachten", erzählt Celia Lury, Koordinatorin von ATACD. Die 19 Partner decken so unterschiedliche Felder ab wie Semiologie, künstliche Intelligenz, Soziologie, Philosophie, mathematische Wirtschaft usw. Im November 2007 fand das erste (von vier) Kolloquien statt, das sich als sehr lebendiges Brainstorming vor einer Versammlung von Forschern und Doktoranden abspielte. "Von da an beschlossen die Teilnehmer, sich auf die Werkzeuge und die Metaphorik der topologischen Analyse zu konzentrieren. Wir beginnen, vor dem Hintergrund des eigenen Fachs unsere Ideen untereinander auszutauschen und die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten der Topologie als neues Werkzeug für das Verständnis der Geisteswissenschaften zu erkunden." Die Arbeiten und Treffen werden bis 2010 fortgesetzt.


Evolution und Ernährung

Stabilität und Wandel finden sich auch in einem anderen komplexen Konzept, nämlich in der Evolution. Die "Kultur" wird bei den Tieren, auch bei den Primaten, ohne Änderung von einer Generation an die nächste weitergegeben. Die menschliche Kultur dagegen entwickelt sich im Laufe der Zeit grundlegend. Für die Forscher des Projekts Cultaptation, die die Evolution der - heute gänzlich im Umbruch befindlichen - Ernährungsgewohnheiten untersuchen, weist diese Gegebenheit Parallelen zur genetischen Evolution auf. In diesem Fall müssten die Werkzeuge der Biologen zu einem besseren Verständnis verhelfen.

"Verglichen mit der biologischen Evolution verläuft die kulturelle Entwicklung des Menschen extrem rasant ab. Wenngleich uns unsere Fähigkeit, eine kumulative Kultur zu entwickeln, das einzigartige Potenzial verleiht, unsere Lebensbedingungen zu verbessern, können sich Änderungen des kulturellen Verhaltens auch als sehr negativ erweisen, wie beispielsweise das Problem der Fettleibigkeit im Bereich der Ernährung", erklärt der Koordinator des Projekts, Magnus Enquist von der Universität Stockholm. Cultaptation interessiert sich für die Wurzeln dieses speziellen (von dem es auch archäologische Spuren gibt), indem es Modelle entwickelt, die insbesondere auch die genetische Evolution berücksichtigen.

Die Forscher analysieren z. B. den Zusammenhang zwischen Nahrung, Umwelt und kultureller Evolution. Sie studieren die Verbreitung von Ernährungsweisen und hinterfragen das Verbot bestimmter Nahrungsmittel in verschiedenen Traditionen und Glaubensrichtungen. Die Entdeckung der Hintergründe für unsere Vorliebe für Zucker und fette Nahrungsmittel, die aus einer Zeit der Naturalwirtschaft stammt, in der diese Produkte unverzichtbar waren, könnte ein Bewusstsein für unseren Konsum dieser Produkte schaffen, der kaum mit unserer derzeitigen Lebensweise vereinbar ist.


Religionen und Permeabilität

Die zehn europäischen, fachübergreifenden Teams des Projekts Exrel befassen sich mit den Ursprüngen der Religion. "Bestimmte Elemente des religiösen Gedankenguts und Verhaltens scheinen universal zu sein, andere variieren von Religion zu Religion. Unser Projekt möchte mit statistischen Mitteln ein universelles Repertorium der Religionen schaffen und ausgehend von diesem Repertorium die den kulturellen Variationen zugrunde liegende Logik erschließen", erklärt Harvey Whitehouse, Anthropologe an der University of Oxford (GB) und Koordinator von Exrel. "Mehrere führende Psychologen und Biologen gehen davon aus, dass unser Sinn für Religion an die dem Menschen eigenen kognitiven Fähigkeiten gebunden ist. Unser Projekt möchte diese Hypothese experimentell überprüfen, indem es untersucht, wie, ausgehend von einem universellen Repertorium, kognitive Parameter, wie Erfahrung oder Fantasie, kulturelle Variationen erklären. Schließlich möchten wir eine Simulation der religiösen Evolution entwickeln, die sowohl für das Verständnis der Geschichte der religiösen Traditionen als auch für ihre derzeitigen oder künftigen Entwicklungen verwendet werden kann.

Das ISBP-Projekt (Integrative Systems and the Boundary Problem), zu dem britische, niederländische, spanische und italienische Teams gehören, analysiert Phänomene der "Aufnahmebereitschaft". In Anbetracht der Tatsache, dass die Bildung einer geschlossenen Entität eine der größten Herausforderungen für die Europäische Union darstellt, ist das Ziel des Projekts die Analyse der Beziehungen zwischen Kultur, Verhalten und Umwelt. "Der Erfolg der Union ist abhängig von ihrer Fähigkeit, einen Weg der friedlichen Konvergenz zu schaffen und von ihrem Geschick bei der Integration der sie bildenden Bevölkerungsgruppen, ohne dabei die inhärente Vielfalt jeder Gruppe zu opfern", meint Nick Winder, der Koordinator des Projekts von der University Newcastle upon Tyne (GB). "Ob akzeptable Kompromisse gefunden werden, hängt davon ab, auf welche Weise Probleme definiert und von den Akteuren als legitim empfunden werden."

Die Forscher untersuchten, wie die Akteure manchmal divergente Werte verhandeln bzw. integrieren können, ohne dadurch eine Lähmung oder Marginalisierung zu erfahren. Sie entwickelten Innovation and metastability, ein originelles Modell, das von der Wirtschaft bereits gut angenommen wird. "Zahlreiche bottom-up-Innovationen schaffen Frustrationen, da sie vom Management als störend empfunden werden und Sachzwänge auferlegen, die letzten Endes den Wandel verhindern. Das Projekt erkundet Möglichkeiten, den Informationsfluss von der Basis nach oben und umgekehrt zu erleichtern. Wir haben diese Erfahrung vor allem in Fallstudien zur Stadtplanung mit dem integrierten Management bei der Wasserversorgung und mit der Einhaltung des Asylrechts gemacht."


Unternehmenskultur und regionale Kultur

In einer Zeit, in der die multinationalen Unternehmen als homeless companies bezeichnet werden, analysieren die Teams von Cure (Corporate Culture and Regional Embeddedness) die Zusammenhänge zwischen Unternehmenskultur und regionaler Kultur sowie die Art, wie sie ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Die 210 Fallstudien untersuchen Regionen in sehr unterschiedlichen Ländern: Gegenden mit einer starken unternehmerischen Tradition und mit großem "sozialen Kapital" (Niederlande, Schweiz, Österreich), Länder, in denen kürzlich ein schneller wirtschaftlicher und kultureller Wandel erfolgte (Ungarn, Großbritannien), und Länder mit einer doppelten Facette, wie Westdeutschland (mit einer starken industriellen Tradition) und Ostdeutschland (mit einem raschen kulturellen Wandel nach der Wiedervereinigung). Welche Hypothese vertreten die Forscher? Jene Unternehmen, die versuchen, eine fremde Kultur durchzusetzen, erzielen geringere "Erträge" als jene, die versuchen, die lokale Kultur zu verstehen und mit den Kräften vor Ort zu arbeiten.

So beschäftigen sich die Partner von Cultural Dynamics mit den Elementen der Kultur im weiteren Sinn, so wie sie von der Unesco definiert wurden: "die Gesamtheit der charakteristischen, spirituellen und materiellen, intellektuellen und affektiven Merkmale, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Sie umfasst neben Kunst und Literatur auch die Lebensweise, die menschlichen Grundrechte, die Wertesysteme sowie Traditionen und Glaubensrichtungen."

Infos: ftp://ftp.cordis.europa.eu/pub/nest/docs/3-nest-cultual-290507.pdf


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Die Wege von morgen

NEST (New and Emerging Science and Technology) ist eine originelle Initiative, die während des 6. Rahmenprogramms gestartet wurde und deren Ziele gegenwärtig entwickelt werden. Interdisziplinäre Wissenschaftlerteams haben sich zusammengeschlossen, um völlig frei und unabhängig neue Horizonte zu erforschen, die man "visionär" nennen könnte. Das Ziel besteht darin, mit Hilfe der Kreativität der Forscher die sich ständig weiterentwickelnden Hilfsmittel der Wissensgesellschaft anzuwenden, um sie miteinander zu verbinden und innovative Wissenschaftsfelder herauszubilden. NEST beschäftigt sich mit mehreren Themen, die kognitive, soziologische und anthropologische sowie mathematische, biologische oder physikalische Disziplinen einschließen.

Andere länderübergreifende Projekte werden Anfang 2009 im Rahmen der neuen Initiative Hera (Humanities in the European Research Area) gestartet. Den Wissenschaftlern werden zwei Themen angeboten: Cultural Dynamics: Inheritance and Identity (in der Verlängerung von NEST) und Humanities as a Source of Creativity and Innovation.

Infos:
www.eurosfaire.prd/nest/documents/pfd/NEST_FR.pdf
www.heranet.info


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Quelle:
research*eu Nr. 56 - Juni 2008, Seite 29 - 31
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2008