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DISKURS/005: Zurück in die Zukunft der Geisteswissenschaften (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 13 vom 17. Juli 2007

Zurück in die Zukunft der Geisteswissenschaften
Vortrag von Professor Gumbrecht als Höhepunkt des Jahres der Geisteswissenschaften

Von Anna-Maria Gramatté


Am 20. Juni regte Professor Hans-Ulrich Gumbrecht mit seinen Thesen zur Zukunft der Geisteswissenschaften die zahlreich erschienenen Zuhörer im Dresdner Audimax zum Nachdenken und Meinungsaustausch an und provozierte mit seiner Frage "Eine Zukunft ohne Geisteswissenschaften?". Der Vortrag fand im Rahmen der interdisziplinären Ringvorlesung "Wertekommunikation" statt und wurde von der Gesellschaft von Freunden und Förderern der TU Dresden e.V. unterstützt.

Das Vortragsthema wollte Gumbrecht dabei bewusst als Frage verstanden wissen, die es gelte, nüchtern zu diskutieren. Doch geht das bei diesem Thema? Als Außenstehender geht das natürlich - Gumbrecht, in Deutschland geborener und ausgebildeter Professor an der Stanford University (USA) - kann es sich leisten, mit ausgefallenen Thesen aufzuwarten.

Seiner Meinung nach sind die Geisteswissenschaften in Deutschland zu sehr in Selbstbespiegelung und selbstgebauten Untergangsszenarien gefangen. Doch ist die Lage der Wissenschaft wirklich so aussichtslos, wie in Zeiten von Forschungsbürokratisierung und Stellenkürzungen oft beklagt wird? Gumbrecht verneinte dies und nahm seine Zuhörer mit auf eine Reise in die Geschichte der deutschen Geisteswissenschaften, versuchte, Erklärungsansätze für die von ihm konstatierten "Traumata der deutschen Geisteswissenschaften" zu finden und erinnerte vehement an das Humboldtsche Bildungsideal, welches die Universität als Ort beständigen. Fragens und Reflektierens sieht.

Darüber hinaus kann man seine dargelegten Gedanken als Plädoyer für einen wissenschaftlichen Enthusiasmus und den Mut zum freien Denken sehen. Universitäten sollten wieder zu intellektuellen Orten werden - Orten, an denen gedacht und diskutiert wird, aber weniger nur abrufbares Wissen produziert oder nach vorgegebenen Schemata vermittelt wird. Die Motivation zum Studium und zur geisteswissenschaftlichen Beschäftigung sollte denn auch nicht in der jeweiligen Berufsrelevanz eines Faches gefunden werden, sondern in der Begeisterung für den wissenschaftlichen Vollzug - also die Befähigung zur Reflexion und zur Diskussion.

Die Geisteswissenschaften müssten frei bleiben, um ihrer eigentlichen Aufgabe - der Beobachtung der Gesellschaft - gerecht werden zu können und dürften sich nicht zu sehr in den Dienst gerade der neuen BA-Studiengänge stellen, bei denen die zügige berufsorientierte und praxisbezogene Wissensvermittlung im Vordergrund stehe. Für diese Aufgabe seien die Geisteswissenschaften ihrer Natur nach nicht geeignet. Ohnehin würden sie weiterhin als Ort der Reflexion über die Gesellschaft gebraucht.

Aus dem ihm vertrauten US-amerikanischen Modell heraus beschrieb Gumbrecht, dass eine geisteswissenschaftliche Grundausbildung zu Beginn jedes Studiums der zu bevorzugende Weg sein könnte. In Amerika allerdings sind diese studienübergreifenden Module insgesamt anerkannter, als sie es in Deutschland momentan sein könnten, da dort die Achtung vor "Bildung um der Bildung willen" insgesamt größer sei. Nur wenige Amerikaner würden ihre Kinder an eine Uni schicken, an der beispielsweise die griechischen Klassiker nicht auf dem Programm der ersten Semester stehen würden.

Im momentanen Jahr der Geisteswissenschaften in Deutschland sieht Gumbrecht denn auch die Gefahr, dass die Chance zur Darstellung der eigenen Relevanz von der Mehrheit der Geisteswissenschaftler ungenutzt bleiben könnte. So konnte man seinen Vortrag auch als Denkanstoß oder als Aufforderung an ein Wissenschaftsgebiet verstehen, sich der eigenen Stärken wieder bewusster zu werden, um so auch aktiv die Weiterexistenz der Wissenschaft zu sichern. Zu diesen Stärken zählt laut Gumbrecht vor allem, dass die Geisteswissenschaften mehr als andere Wissenschaftszweige in der Lage seien, die genuine Funktion einer Universität, beständig alternative Visionen der Welt auf Vorrat zu produzieren und diese zu reflektieren, um so die Gesellschaften offen und flexibel für Veränderungen und Entwicklungen zu halten, erfüllen zu können. In diesem Sinn würden erst die Geisteswissenschaften eine Universität zu einem intellektuellen Ort machen - diese von Humboldt abgeleitete Sichtweise sei zumindest in den USA verbreitet, wo die Geisteswissenschaften oft als intellektuell belebendes Zentrum der Unis gesehen werden. Die genuin geisteswissenschaftlichen Aufgaben liegen demzufolge darin, sich reflexiv mit der Gesellschaft und ihren Sinnbildungsprozessen zu befassen. Leistung sollte also als Reflexion, nicht durch Produktion von Wissen erbracht werden.

Diese anspruchsvolle Beschreibung von Wissenschaft habe immer noch Relevanz und bedeute, übersetzt in die heutige Zeit, dass Universitäten Orte riskanten Denkens sein sollten, an denen Grundlagenforschung stattfinden kann, an denen aber auch riskante, das heißt provozierende, Fragen gestellt und diskutiert werden können. Zur beständigen Fragenproduktion sei es darüber hinaus nötig, dass sich wissenschaftlicher Enthusiasmus der älteren und jüngeren Wissenschaftlergenerationen gegenseitig inspiriert. Durch Interaktion und durch das Zusammenspiel von Forschung und Lehre entstünden neue und weiterführende Fragen.

Gumbrecht bestand darauf, dass diese Ideen und Ansätze umsetzbar seien. Er musste seinen - im gegenwärtigen deutschen Wissenschaftssystem beheimateten - Zuhörern allerdings zugestehen, dass einige seiner Ideen einen idealistischen Anklang haben mögen. Er wolle aber in erster Linie seine Utopie gegen die Realität setzen und so zum Nachdenken und Umdenken anregen.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 18. Jg., Nr. 13 vom 17.07.2007, S. 4
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2007