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FORSCHUNG/035: Was man so alles messen kann... (forsch - Uni Bonn)


forsch 3/2009 - Juli 2009
Bonner Universitäts-Nachrichten

Was man so alles messen kann...
Vier Beispiele aus der Forschung

Von Frank Luerweg


Die Lüge. Üble Gerüche. Die Urheberschaft von Texten. Es ist schon verblüffend, was man so alles messen kann - oder zumindest zu messen versucht. Hier einige Beispiele.

Haben Sie Vorurteile gegenüber Schwarzen? Verabscheuen Sie insgeheim Homosexuelle? Sind Ihnen Menschen ohne Behinderungen lieber als Behinderte? Wer die verborgenen Tiefen seiner Psyche ausloten möchte, sollte an den Tests des "project implicit" teilnehmen (implicit. harvard.edu). Denn auch, wenn die meisten Menschen die Fragen oben wohl mehr oder weniger strikt verneinen würden: Die dort ermittelten Ergebnisse sprechen häufig eine ganz andere Sprache.

Lässt sich Lügen messen? "Nein, das geht nicht", sagt Dr. Alexander Schmidt von der Abteilung für Sozialund Rechtspsychologie. "Manchmal sagt unser Bauch jedoch etwas anderes als unser Kopf. Und diese Diskrepanz kann man aufdecken." Das "project implicit" nutzt dazu eine Methode namens 'Impliziter Assoziations-Test' (IAT). Am Bildschirm erscheinen beispielsweise in zufälliger Folge Gesichter von Schwarzen oder Weißen. Dazwischen sind Begriffe wie "Liebe", "Bombe", "böse" oder "glücklich" eingestreut. Der Teilnehmer soll nun Gesichter und Begriffe per Tastendruck nach links oder rechts sortieren.

Die meisten Menschen haben mit dieser Aufgabe kaum Probleme, wenn sie schwarze Gesichter und negative Begriffe derselben Seite zuordnen müssen. Wenn sie dagegen schwarze Gesichter nach links sortieren sollen, Wörter wie "Bombe" oder "böse" jedoch nach rechts, sind sie langsamer und machen mehr Fehler. Mehr als 70 Prozent aller bisherigen Teilnehmer zeigten diese Auffälligkeit. Der Test interpretiert das als automatische Präferenz für Weiße. "Wenn man dieselben Personen zu ihrer Einstellung gegenüber Schwarzen befragt hätte, hätte das Ergebnis wahrscheinlich ganz anders ausgesehen", vermutet Schmidt. "Wir neigen dazu, das anzukreuzen, was sozial erwünscht ist."

Andererseits korrigieren wir vielleicht auch unbewusst Empfindungen, die wir selbst nicht für gut halten: Mal angenommen, nachts kommt uns auf einer menschenleeren Straße ein Obdachloser entgegen. Unsere Füße wollen uns automatisch auf die andere Straßenseite führen. Doch halt, denken wir, das ist doch ein armer Tropf. Also gehen wir weiter und werfen ihm womöglich noch einen freundlichen Gruß zu. Hätten wir dagegen in derselben Situation gerade mit dem Handy telefoniert, hätten wir wahrscheinlich die Straßenseite gewechselt: Uns wären nicht mehr genügend kognitive Kapazitäten geblieben, um gegen diesen Impuls anzukämpfen.


Kopf oder Bauch - wer lügt?

Psychologen sehen sich häufig mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass ihre Probanden nicht ihre "wirklichen" Einstellungen zu Protokoll geben. "Wobei sich die Frage stellt, ob der erste Impuls tatsächlich immer 'wahrhaftiger' ist als das, was unser Kopf daraus macht", gibt Schmidt zu bedenken. Gerade den Einfluss der "sozialen Erwünschtheit" wollen Forscher jedoch meist ausblenden. Schmidts Kollege Roland Imhoff hat kürzlich beispielsweise eine Studie zu antisemitischen Neigungen durchgeführt. Bei einem solchen Thema, zumal in Deutschland, ist nicht auszuschließen, dass Teilnehmer ihre Angaben schönen.

Imhoff hätte seine Probanden natürlich an einen Lügendetektor anschließen können. "Doch diese Geräte messen ja letztlich nicht die Lüge, sondern physiologische Stressreaktionen", betont er. Ein abgebrühter Lügner besteht einen solchen Test daher womöglich mit Bravour. Andere Menschen bekommen schon aufgrund der bloßen Tatsache schwitzige Hände, dass sie an einen Lügendetektor angeschlossen wurden. Imhoff hat daher mit einem "gefaketen" Lügendetektortest gearbeitet: "Wir haben unsere Probanden verkabelt, aber in Wirklichkeit nichts gemessen. Dennoch mussten die Teilnehmer annehmen, dass ihre Täuschungsversuche auffallen würden." Dieser Ansatz nennt sich in der Forschungsliteratur "bogus pipeline".

In Imhoffs Fall scheint er funktioniert zu haben: Im "bogus pipeline"-Experiment gaben seine Probanden viel höhere Antisemitismus-Werte zu Protokoll als unverkabelt.


Gesucht: Anonymus

Jan Seifert möchte der Lüge mit anderen Methoden auf die Schliche kommen. Der promovierte Germanist arbeitet gelegentlich als Gutachter: Er "misst" gewissermaßen die Urheberschaft von Texten, die niemand geschrieben haben möchte. "Wobei das Wort 'messen' eine Exaktheit suggeriert, die wir mit unseren Methoden nicht gewährleisten können", relativiert er. Daher wehrt sich Seifert auch gegen den Begriff "sprachwissenschaftlicher Fingerabdruck", den der Kölner Linguist Raimund Drommel in der Barschel-Affäre geprägt hatte.

Der Kieler Ministerpräsident Uwe Barschel war Ende der 1980er Jahre in die Schlagzeilen geraten. Ihm wurde vorgeworfen, eine Verleumdungskampagne gegen seinen Herausforderer Björn Engholm initiiert zu haben. Nach dem Tode Barschels im Oktober 1987 tauchte ein Brief auf, der angeblich aus seiner Feder stammte. Dem Schreiben nach war der damalige CDU-Landesvorsitzende Gerhard Stoltenberg von Anfang an Mitwisser der Verleumdungskampagne gewesen. Im Nachhinein stellte sich der Brief als Fälschung heraus - trotz der "signifikanten Übereinstimmungen" zum Schreibstil Barschels, die Drommel festgestellt haben wollte.

So sehr der Name "forensische Linguistik" die Phantasie von Krimilesern beflügeln mag - wirklich "beweisen" kann die Disziplin nichts. "Inzwischen steht sie jedoch auf einer festen empirischen Grundlage", betont Jan Seifert. "Daher können die Gutachten oft auch tatsächlich wertvolle und gewichtige Indizien zur Urheberschaft eines Textes geben." Es gibt verschiedene Spuren, denen ein "linguistischer Detektiv" nachgehen kann. Auffällig sind beispielsweise regionalspezifische Ausdrücke. So kann der Gebrauch des Wortes "Sonnabend" statt "Samstag" darauf hindeuten, dass der Autor aus Norddeutschland stammt. Andere Merkmale sind eher individuelle Vorlieben: Ob der Anonymus Kausalsätze mit "da" oder "weil" beginnt, ob er "des Erfolges" schreibt oder "des Erfolgs", ob er den "11. Januar" in voller Länge aufs Papier bringt oder schlicht zum "11.1." kürzt oder ob er zu bestimmten charakteristischen Fehlern neigt. "Je mehr Merkmale man auswertet, desto sicherer ist das Ergebnis", sagt Seifert. "Das gilt insbesondere, wenn man verschiedene Ebenen untersucht - also neben Rechtschreibung und Formenbildung auch Wortschatz, Wortbildung und Satzkomplexität einbezieht."


Künstliche Nase soll Eber erschnüffeln

Dieses Prinzip - je mehr Merkmale, desto besser das Ergebnis - würde wohl auch Dr. Peter Boeker unterschreiben. Der Privatdozent an der Landwirtschaftlichen Fakultät tüftelt momentan an einem Sensor, der den Geruch männlicher Schweine messen kann.

Vier von zehn Menschen sind für Ebergeruch geruchsblind. Für die restlichen 60 Prozent riecht das Fleisch dagegen äußerst unangenehm - insbesondere, wenn man es erhitzt. Verantwortlich sind vor allem der Fäkalgeruchsstoff Skatol sowie ein Verwandter des Sexualhormons Testosteron, das Androstenon. Männliche Ferkel werden daher traditionell kurz nach der Geburt kastriert. Aus Tierschutzerwägungen soll das jedoch verboten werden.

Der Bonner Agrarwissenschaftler Dr. Ernst Tholen möchte daher männliche Schweine züchten, deren Fleisch und Speck überhaupt nicht mehr stinken. "Wer züchten will, braucht ein Merkmal, dass er messen kann", sagt er. "Das bisherige Standardverfahren ist zwar für die oben genannten Leitkomponenten ausreichend genau, aber auch sehr aufwändig und teuer. Daher benötigen wir die künstliche Nase." Die Forscher wollen für die Zucht Tiere aussuchen, die möglichst wenig Skatol und Androstenon im Körper einlagern. Sie hoffen so, die Geruchskomponenten innerhalb einiger Generationen deutlich zu reduzieren. An dem Projekt sind mehrere Zuchtorganisationen beteiligt. "Ob es klappt, ist mit absoluter Sicherheit nicht zu beantworten", gibt Tholen zu. "Schließlich handelt es sich bei Androstenon um eine hormonelle Substanz mit einem wichtigen Einfluss auf die Fruchtbarkeit. Wir wollen ja Schweine züchten, die sich in ausreichendem Maße fortpflanzen können".

Zudem erklären Skatol und Androstenon den unerwünschten Ebergeruch nur zu 80 Prozent. "Wir beschränken uns zunächst auf diese zwei Leitsubstanzen; mit Sicherheit gibt es aber noch weitere Komponenten", betont Peter Boeker. Die fertige "künstliche Nase" könnte dann nicht nur bei der Zucht zur Anwendung kommen, sondern auch in Schlachthöfen eingesetzt werden. Aller Anstrengung zum Trotz werden manche Tiere wahrscheinlich immer noch riechen. Diese ließen sich dann aber rechtzeitig einer gesonderten Verwertung zuführen, bevor ihr Fleisch über die Ladentheke geht. So ließe sich das geruchsbelastete Fleisch z. B. zu Kochschinken verarbeiten, da bei der dazu vorgenommenen Erhitzung die geruchsaktiven Komponenten entweichen.


Hochdruck an den Polen bringt die Erde auf Touren

Die Technik für die "künstliche Nase" passt in einen mittelgroßen Kühlschrank. Das Messinstrument, mit dem Dr. Axel Nothnagel arbeitet, ist ein wenig größer - so groß wie die Erde selbst, wenn man so will. Nothnagel ist Geodät, also ein Vermessungsspezialist. Sein Maßband ist unsichtbar: Es besteht aus Radiowellen, die von punktförmigen Quellen im All ausgesandt werden, den so genannten Quasaren. Ein Netz von mehr als 70 Radioteleskopen weltweit fängt diese Wellen auf. Weil die Messstationen so weit voneinander entfernt sind, empfangen sie das Signal ein- und desselben Quasars mit einer geringen zeitlichen Differenz. "Daraus können wir den Abstand zwischen den Radioteleskopen berechnen", erklärt der Privatdozent. "Und das auf wenige Millimeter genau." Das Verfahren nennt sich VLBI - das steht für "Very Long Baseline Interferometry". Damit lässt sich beispielsweise nachweisen, dass Europa und Nordamerika sich voneinander entfernen: Ihr Abstand wächst jährlich um 18 Millimeter.

Nothnagels Leib- und Magenthema ist jedoch die Bestimmung der Erdrotationsgeschwindigkeit. Der Blaue Planet eiert nämlich ein wenig: Wenn auf der Nordhalbkugel Winter herrscht, braucht er im Schnitt eine halbe tausendstel Sekunde länger für eine Umdrehung als im Sommer. "Grund ist vor allem die unterschiedliche Verteilung der Luftmassen", erläutert Nothnagel. "Wandernde Hoch- und Tiefdruckgebiete verursachen Änderungen in den Luftmassenverteilungen. Ein Hoch am Äquator wirkt dann, als würde ein Eisläufer während einer Pirouette die Arme ausbreiten: Die Erde wird langsamer."

Die Messungen der Geodäten sind beispielsweise für die genaue Positionsbestimmung per GPS wichtig. Die funktioniert nämlich nur, wenn man dabei den Drehstand der Erde mit einkalkuliert. Ein paar unberücksichtigte Millisekunden können ansonsten in einer stundenlangen Suche nach dem richtigen Weg resultieren.


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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Nr. 3, Juli 2009,
Seite 10-11
Herausgeber:
Rektorat und Senat der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2009