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BERICHT/105: Über die Leichtigkeit des Zeltbaus (idw)


Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig - 22.12.2006

Über die Leichtigkeit des Zeltbaus

Braunschweiger Architekt forscht über die Geschichte des Zeltbaus


Zeltbau hat eine jahrtausendlange Geschichte, hat aber bisher kaum Erwähnung in der Architekturgeschichte gefunden. Einer der wenigen, die sich weltweit mit der Geschichte des Zeltbaus beschäftigen, ist Prof. Berthold Burkhardt, Leiter des Instituts für Tragwerksplanung der Technischen Universität Braunschweig. "Seitdem ich mich seit etwa 30 Jahren mit modernem Zeltbau in der Forschung und Realisierung beschäftige, ist auch die Geschichte des Zeltbaus mein Thema", beschreibt Burkhardt seine Motivation. Bei dem leidenschaftlichen Forscher und auch Sammler ist inzwischen ein umfangreiches Archiv mit dem Schwerpunkt Zelte in Mitteleuropa entstanden.

Seine Erfahrungen sind gefragt. So berät er die Paramentenwerkstatt der Von-Veltheim-Stiftung in Helmstedt im Rahmen der Restaurierung bei Konstruktion, den Zuschnitten und der museumsgerechten Montage von Türkenzelten. Diese wenigen noch erhaltenen Türkenzelte aus dem 17. Jahrhundert, Beutestücke der Schlacht vor Wien 1683 sind im Deutschen Historischen Museum in Berlin und werden demnächst in der Rüstkammer im Dresdner Schloss ausgestellt. Osmanische Zelte aus dem 15. bis 18. Jahrhundert stellen eine Hochkultur des Zeltbaus dar, die Formenvielfalt ist kaum zu übertreffen, schwärmt Burkhardt.

Sie bestanden in der Regel aus zwei Materialschichten, eine strapazierbare Außenhaut, mit günstigen klimatischen Eigenschaften und eine Innenbespannung, aus farbigen Ornamenten aus Seiden-, Samt- oder Brokatstoffen, die sich trotz hoher Lichtempfindlichkeit gut erhalten haben. Burkhardt geht bei der Rekonstruktion aber auch den Fragen nach, wie die Masten, die Abspannseile mit Knoten und Ankern hergestellt wurden, oder wie die Tuchbahnen mittels Knebeln und Schlaufen miteinander verbunden waren. Als Quelle dienen ihm eine Vielzahl historischer Abbildungen und Beschreibungen, unter anderem die über 200 Originalstiche, die er gesammelt hat. Die Abbildungen geben wertvolle Hinweise nicht nur über die Konstruktion sondern auch über die Nutzung der historischen Zelte von der Antike bis heute. Ein Firmenarchiv, das er vor 20 Jahren von einer Zeltbaufirma übernehmen konnte, umfasst auch den Katalogbestand, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und Aufschluss über die verschiedenen Zelte und Zeltgrößen der Zeit gibt.

Aktuell arbeitet er an einem Gartenzelt, das im Fürstinnen Garten in den Wörlitzer Gärten aufgestellt werden soll. "In englischen Parks oder Barockgärten des Barock haben traditionell häufig Zelte als Schattenspender gestanden", so Burkhardt.

Der mitteleuropäische Zeltbau wurde im Wesentlichen von der Zeltbaukunst des antiken Roms, des osmanischen Reichs und der Mauren in Spanien beeinflusst. Eine eigenständige Entwicklung in Mitteleuropa konnte Burkhardt nicht nachweisen. Zelte waren vom Mittelalter bis Anfang des 19. Jahrhunderts überwiegend Bauten des höfischen und militärischen Gebrauchs, deshalb, so vermutet Burkhardt, habe sich keine eigenständige Handwerkszunft des Zeltbaus entwickelt.

Im 19. und 20. Jahrhundert veränderte sich die Entwicklung und Nutzung der Zelte stark. Für aufkommende Gewerbeausstellungen wurden Zelte benötigt, da nur größere Städte über Messehallen verfügten. In Nürnberg wurde 1911 für ein einwöchiges Sängerfest ein Zelt für über 30.000 Sänger errichtet. "Dies zeigt, welche Dimensionen der Zeltbau bereits zu dieser Zeit erreicht hat", so Burkhardt. Vor die typisierten Zelthallen wurden häufig temporäre Fassaden gebaut, wie zum Beispiel vor dem Festzelt eines Schützenfestes Anfang des 20. Jahrhunderts in Hannover das einem Niedersachsen Fachwerkhaus nachgeahmt war. So entstand die Kulissenarchitektur, wie sie sich auch vor wenigen Jahren bei der Berliner Schlossattrappe aus bemaltem Tuch wieder fand.

Eine besondere Gattung der Zelte sind die Zirkuszelte. Das Zirkuszelt der Moderne, genannt Chapiteau stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert. Es bestand aus Baumwolle und Lederbesätzen und verfügte über hervorragende klimatische Bedingungen. Erst vor etwa 50 Jahren wurde die Baumwolle vom Mischgewebe und dann vom Kunststoff als Material abgelöst. Teile eines historischen Zirkuszelts sowie der Nachlass einer weltberühmten Hochseilarstistin aus Braunschweig mit zahlreichen Fotos aus den 30er bis 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hat Burkhardt bereits eingelagert bzw. archiviert.

Durch die grundlegenden Arbeiten des Architekten und Hochschullehrers Frei Otto wurde der Zeltbau seit 1954 mit neuen Technologien optimiert und entwickelt. Mit den von ihm aufgezeigten Membrankonstruktionen unterschiedlichster Formen, Experimenten, Berechnungsmethoden und durch die Materialentwicklung wurde es auch möglich, Zelte, Dächer und Hallen als Dauerbauten oder als wandelbare Konstruktionen zu errichten.

Seine zeltartigen, leichten Dachkonstruktionen wurden am bekanntesten. Unter anderem verwirklichte er mit dem Architekten Günter Behnisch von 1968 bis 1972 die legendären Überdachungen der Sportstätten auf dem Olympiagelände in München.

Auch an der TU Braunschweig geht die aktuelle Zeltforschung weiter. Im Rahmen des internationalen Graduiertenkollegs "Risc Management" werden am Institut für Tragwerksplanung Zelte für den Katastrophenschutz entwickelt und optimiert.

Kontakt:
Berthold Burkhardt
Institut für Tragwerksplanung der TU Braunschweig
Tel.: 0531/391-3572
E-Mail: b.burkhardt@tu-braunschweig.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution179


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig,
Ulrike Rolf, 22.12.2006
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de