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BERICHT/158: Marie-Jo Chombart de Lauwe - Ein Leben im Widerstand (Florence Hervé)


Ein Leben im Widerstand

Die Résistancekämpferin und Ravensbrück-Überlebende Marie-Jo Chombart de Lauwe wird 85. Aufklärerin gegen die Rehabilitierung des Faschismus

Von Florence Hervé, Mai 2008


Nach dem Tod von Lucie Aubrac (März 2007) und Germaine Tillion (April 2008) ist Marie-Jo Chombart de Lauwe - geboren am 31. Mai 1923 - eine der letzten lebenden Grande Dames der Résistance. Eine der Französinnen, die die Nazibesatzung, den Antisemitismus und die Kollaboration des Vichy-Regimes bekämpft und sich in der Widerstandsbewegung engagiert haben. Eine Frau, die bis heute noch gegen die Bagatellisierung der Naziverbrechen und die Rehabilitierung des Faschismus kämpft, für die Bewahrung der Erinnerung.

Sie hieß ursprünglich Yvette Wilborts. Ihren neuen Namen Marie-Jo bekam sie während der Résistance - es ist ein Ehrenname. Kindheit in Paris. 1939/1940 ging Yvette auf eine für Pariser Flüchtlingskinder neu gegründete Schule nach Tréguier in der nördlichen Bretagne unweit der Insel Bréhat, wo die freiheitsliebende Familie inzwischen lebte. Die Nazibesatzung war ihr unerträglich, mit ihren Schulkameradinnen protestierte sie dagegen: "Wir kleideten uns in den Farben der französischen Trikolore, eine in Blau, eine in Weiß und die Dritte in Rot." Zu Hause hörte man den verbotenen Sender Radio London. Nach dem Aufruf Charles de Gaulles zum Widerstand im Juni 1940 hatte sich unter Führung von Yvettes Wilborts Mutter "La Bande à Sidonie" gegründet. Im Auftrag des britischen Geheimdienstes bemühten deren Mitglieder sich um Informationen über die deutsche Küstenverteidigung.

Erste Überfahrten nach England wurden organisiert. Als Inselbewohnerin besaß Yvette Wilborts einen Sonderausweis, um auf dem Weg von Bréhat nach Rennes, wo sie seit 1941 Medizin studierte, durch die Sperrzone zu gelangen. Diesen Sonderstatus nutzte die junge Studentin und half antifaschistischen Jugendlichen und Engländern, die das besetzte Frankreich verlassen wollten, zur Flucht. Doch mit dem Bau des Atlantikwalls im Herbst 1941 wurde alles schwieriger. Die Küste wurde stärker bewacht als zuvor. Yvette Wilborts alias Marie-Jo merkte sich die militärischen Festungen am Meer, die dann von ihrem Vater skizziert wurden. Sie brachte die geheimen Dokumente über die Küstenverteidigung nach Rennes, zum Chef ihrer Fluchthilfeorganisation.

Im Mai 1942 wurden die 14 Mitglieder ihrer Widerstandszelle denunziert; unter den Verhafteten waren auch Marie-Jo und ihre Mutter. 1943 wurden beide nach Ravensbrück deportiert, Marie-Jo war gerade 20. Beide überlebten die Hölle des Konzentrationslagers, aber der Vater kehrte nicht aus Buchenwald zurück. Ihre bewegenden Tagebuchaufzeichnungen erschienen 1998 in: "Toute une vie de résistance" (Widerstand ein Leben lang).

Nach dem Krieg studierte Marie-Jo Biologie und Sozialwissenschaften. Später widmete sie sich der Forschung in der Kinderpsychiatrie. Sie heiratete den Soziologen Paul-Henry Chombart de Lauwe und bekam vier Kinder. Inzwischen ist sie neunfache Groß- und dreifache Urgroßmutter.

Den humanen Werten der Résistance ist die Französin treu geblieben. Sie engagiert sich gegen Rassismus und Revisionismus (u.a. in ihrer 2006 erschienenen Broschüre "Réhabilitations du nazisme ... Attention danger!"). Als Vorsitzende der Stiftung für die Erinnerung an die Deportation - die sie 1990 mitgegründet hat -, als Vizepräsidentin des Internationalen Ravensbrück-Komitees und als Präsidiumsmitglied der Organisation der deportierten und Internierten, der Widerständler und Patrioten (FNDIRP) will sie die Erinnerung an die Résistance lebendig halten, an die Solidarität, ein verantwortungsbewußtes Leben und das Eintreten für moralische Werte sowie die Achtung des Menschen und seiner Würde.

Mitte Mai nahm sie am FNDIRP-Kongreß in Metz teil - wo Folter und Verletzung der Menschenrechte durch die Bush-Regierung verurteilt wurden. Ihr Hauptaugenmerk gilt den Jugendlichen. "Es geht nicht darum, daß sich zehnjährige Kinder mit den Opfern identifizieren", sagt die Psychosoziologin zum Vorschlag von Präsident Nicolas Sarkozy an Schulen, ein Opfer der Shoa zu adoptieren - da seien sie zu jung. Über die Naziverbrechen solle informiert, und die politischen Bilder der Résistance wachgehalten werden. Dafür hält sie Vorträge an Schulen und arbeitet eng mit Historikern, Sozialwissenschaftlern und Ärzten zusammen.


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Quelle:
Florence Hervé, Mai 2008
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung der Autorin.
Erstveröffentlicht in "junge Welt" vom 28.05.2008


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2008