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BERICHT/163: Fremdes China - verklärt und verteufelt (epoc)


epoc 4/08
Geschichte · Archäologie · Kultur

Fremdes China - verklärt und verteufelt

Von Kristin Kupfer und Shi Ming


Europäer und Chinesen kennen einander seit zweitausend Jahren. Mal prägte Neugier, mal Abscheu die Sicht der einen auf die anderen. Wirklich verstanden haben sich die Menschen beider Kulturen bis heute nicht.


»Wie Chinas Regime sein Volk unterdrückt«, so titelte der »Spiegel« Anfang April zu den Unruhen in Tibet. Damit wollte das Magazin die Welt des Westens wieder geraderücken: Trotz Wirtschaftswunder sei China nach wie vor eine »grausame Diktatur«. Der Titel nährt auch die Hoffnung, die »gelbe Gefahr« für den westlichen Wohlstand trüge sich durch eine Irrationalität des Bösen selbst zu Grabe. Damit das Bild vom allmächtigen Regime stimmt, muss die gesamte chinesische Bevölkerung zu Opfern gemacht werden. Individuen verschwinden. An ihre Stelle tritt ein Nationalwesen, das schon die europäischen Kolonialherren des 19. Jahrhunderts ähnlich charakterisierten: grausam, seelenlos, eine »orientalische Despotie«.

Das andere Extrem - das Bild des Westens von China als exotisch idealisierter Gesellschaft, ein Gegenentwurf zum eigenen, als mangelhaft empfundenen Sozialgefüge - wurde durch die jüngsten Ereignisse in den Hintergrund gedrängt. Noch kurz zuvor hatten deutsche Unternehmer den durchsetzungsstarken chinesischen Staat bejubelt, eine Spitze gegen die langsame deutsche Bürokratie. Auch dieses Motiv hat Geschichte, schwärmten doch schon Philosophen wie Voltaire (1694 - 1778) von den tugendhaften konfuzianischen Beamten und dem mit praktischer Vernunft gewappneten Kaiser, um den europäischen Klerus und die weltlichen Herrscher zu kritisieren.

Zu so einem Trauerspiel der Missverständnisse gehören freilich immer zwei. Auch China beschimpft den Westen wegen dessen Sympathien für den Dalai-Lama, einen »Lügner und Separatisten«. Die internationale Presse wird als Symbol eines westlich dominierten Weltbilds pauschal diskreditiert; jegliches Verständnis wird ihr abgesprochen. Aus Sicht der Chinesen führen sich die Europäer einmal mehr wie Kolonialherren auf: arrogant und respektlos. Damit auch hier die Logik stimmt, wird stigmatisiert, was das Zeug hält. Wie kann ein »Volk der Barbaren« - so das traditionelle Bild Chinas von Europa - eine so einzigartige Zivilisation je verstehen? Zugleich ist derselbe Westen mit seinem Lebensstil für viele junge Chinesen auch Vorbild.

Zwiegespalten war das chinesische Verhältnis zum Westen seit jeher. Die militärische europäische Übermacht stürzte die chinesische Elite Ende des 19. Jahrhunderts in eine Diskussion darüber, wie viel die eigene Tradition noch wert ist. Dahinter stand und steht bis heute die Frage: Wie kann China zu einer modernen, starken Nation werden - genauso wie der Westen?

Zweifelsfrei war die Faszination des Exotischen, insbesondere zu Beginn der gegenseitigen Wahrnehmung, die eigentliche Triebfeder, das jeweils »Andersartige« kennen zu lernen. Dank römischer Händler kannten die Europäer das Reich der Mitte zunächst als »Seres« oder »Sinea«: »Land der Seide«.


Römisch-chinesische Stippvisiten

Schon Generationen von wohlhabenden Römern hatten sich in feinste Seide aus China gekleidet. Erste Berichte über das rätselhafte Land im Osten kamen aber erst in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. nach Europa. Damals schrieb der alexandrinische Gelehrte Claudius Ptolemäus (um 100 - 175) von einem makedonischen Kaufmann, der den Landweg nach Sera metropolis beschrieb, der Stadt der Seide, bei der es sich vermutlich um das heutige Xi'an am anderen Ende der Seidenstraße handelte.
Aus etwa derselben Zeit finden sich in den Annalen der Han-Dynastie Berichte, wonach der Kaiser eine offizielle Gesandtschaft aus Dàqín empfangen habe - dem Römischen Reich. Sie sei im Auftrag des Königs Antun nach China gekommen. Forscher gehen davon aus, dass damit der römische Kaiser Antoninus Pius (86 - 161) gemeint war.
Die Chinesen hingegen haben den langen Weg nach Westen in jener Zeit wohl nicht auf sich genommen. Doch immerhin plante der Feldherr Ban Chao (32 - 102), der gegen Ende des 1. Jahrhunderts sein Reich bis ans Kaspische Meer erweitert hatte, eine Expedition nach Rom. Auch wenn sein Botschafter Gan Ying nur die Arabische Halbinsel erreichte, hinterließ er umfangreiche Schriften, in denen er alles zusammentrug, was er über das Römische Reich erfahren konnte: »Es ist aus diesem Land, woher alle diese verschiedenen, erstaunlichen und seltenen Gegenstände der fremden Staaten kommen.«


Im Mittelalter berichteten Reisende von einzigartig schönen, gleichwohl sonderbar erschreckenden Tieren, Menschen und Sitten. Nach dem kosmologischen Verständnis jener Zeit existierte das »Fremde« am Rand des eigenen Reichs, dort, wo alles Undenkbare normal war.

Im 13. Jahrhundert reiste der venezianische Händler Marco Polo nach China. Angeblich jedenfalls, denn ob er wirklich dort war oder seine Schilderungen nur auf den Berichten anderer beruhen, ist umstritten.


Marco Polo

Der Händler aus Venedig (um 1254 - 1324) war bereits zu Lebzeiten umstritten. Genau wie heute: So wundert sich die Historikerin Frances Wood von der British Library etwa darüber, dass Polo, der ja nach eigenen Angaben 17 Jahre lang am Hof des chinesischen Kaisers weilte, weder die fremdartige Schrift beschrieb noch die seltsame Art und Weise, mit Stäbchen zu essen. Auch von den bizarr verschnürten Füßen der Chinesinnen, dem in Europa noch gänzlich unbekannten Schießpulver oder der ausgefeilten Buchdruckerkunst überlieferte Marco Polo nichts. Nicht einmal die Chinesische Mauer erwähnte er.
Marco Polo selbst jedoch war unbeirrt. Noch auf dem Totenbett, so sein Biograf und Zeitgenosse Fra Jacopo d'Acqui, »bedrängten ihn sein Priester, seine Freunde und seine Verwandten, endlich den unzähligen Lügen abzuschwören, die er als seine wahren Abenteuer ausgab. Der alte Mann bäumte sich auf, verfluchte sie alle miteinander und erklärte: 'Ich habe nicht die Hälfte von dem berichtet, was ich gesehen und getan habe'«.


Marco-Polo-Reisegruppen, ausgestattet mit Marco-Polo-Rucksäcken und Marco-Polo-Reiseführern: Der Mann aus Venedig prägt bis heute unser Bild von China. Reiseveranstalter verkaufen den Reiz einer äußerst selektiv dargebotenenen Kultur, deren Faszination - bewusst als Marketingstrategie oder unbewusst als eigenes Wunschdenken - vordergründig im Andersartigen, Bizarren und oftmals Trennenden begründet liegt.

Aber war und ist der chinesische Blick auf Europa so anders? In den chinesischen Atlanten hatte unser Kontinent lange nicht einmal einen Namen. Europa lag am Rand des Kosmos. Sich selbst in dessen Zentrum sehend, blickten die Kaiser im Land der Mitte großzügig darüber hinweg, dass die Barbaren sich komisch kleideten und stets albern daherredeten. Frei nach dem Motto: Solange sie nicht störten, sei ihnen verziehen, keine Ordnung und Moral zu kennen. Über die »Seidenstraße« betrieb man Handel. Die Berichte über fremde Religionen - insbesondere Judentum und nestorianische Christen - waren ähnlich sagenumwoben wie die der westlichen Händler über ihre Erfahrungen in Fernost.

Als der Katholizismus im 16. Jahrhundert unter den Druck der Reformation geriet, machten sich jesuitische Missionare auf den Weg nach Asien. Dort wollten sie die Universalität ihrer Gotteslehre unter Beweis stellen. Ungefähr zur gleichen Zeit brach in China die Ming-Dynastie (1382 - 1644) zusammen: Die neue Lehre des Neokonfuzianismus, angereichert mit Elementen des Daoismus und des Zen-Buddhismus, hatte sich nicht als Herrschaftsinstrument und Sozialkitt bewährt. Das riesige Imperium implodierte.


Jesuiten am Kaiserhof

Just in diesem Augenblick kamen die Jesuiten aus dem fernen Westen - und bekehrten kurzerhand den ganzen Kaiserhof, der von den Mandschuren aus dem Norden bis an die heutige Südgrenze Chinas vertrieben worden war. Aber die Hoffnung, die neue europäische Lehre könne den Untergang der Dynastie noch abwenden, wurde bitter enttäuscht. Immerhin weckten die Jesuiten zum ersten Mal Chinas Interesse an Europa. Erstmals wurde die abendländische Kultur überhaupt wahrgenommen. »Mir wurde klar«, bekundete der Kaiser Kangxi (1662 - 1722), »dass die westliche Mathematik von Nutzen sein kann.« Auch europäische Uhren stießen in China auf Interesse. »Nur das Beste vom Besten interessierte die Chinesen damals an Europa«, bilanziert Hans Stumpfeldt, Sinologieprofessor aus Hamburg. Die Anfänge der industriellen Technologie übersahen sie allerdings - genauso, wie man im Abendland übersah, dass das einst in ihren Augen so vernünftige Beamtensystem des konfuzianischen Imperiums zu versagen begann.

Nur wenige konnten sich von den damals vorherrschenden Klischees befreien. Einer von ihnen war der italienische Jesuitenpater Matteo Ricci (1522 - 1610) - in China unter dem Namen Li Madou als Brückenbauer zwischen den Kulturen geehrt und begraben. Er hatte sich wie kaum ein anderer auf die fremde Kultur eingelassen, sprach fließend Chinesisch und kleidete sich wie ein Mandarin. Ricci war mit seiner Mission, den christlichen Glauben zu verbreiten, überaus erfolgreich, denn er erlaubte den Konvertierten, ihre konfuzianische Ahnenverehrung beizubehalten. Den Konfuzianismus bezeichnete er als »Sekte der Literaten« und brachte ihm große Achtung entgegen. Er hielt ihn für eine mit dem Christentum weit gehend vereinbare Lehre. Papst Clemens XI. (1649 - 1721) hingegen verurteilte Riccis Weg der Mission - den ersten ernsthaften Versuch, die Kulturen zueinanderzuführen - und verbot 1704 die Ahnenverehrung chinesischer Christen. Daraufhin warf der erboste Mandschukaiser Yongzheng (1678 - 1735) die christlichen Missionare aus dem Land.


Matteo Ricci

Der 1552 in Italien geborene Jesuit kannte China wie kein Zweiter. Als Missionar brachte er nicht nur das Christentum ins Land der Mitte, sondern vermittelte auch die Gedankenwelt der europäischen Gelehrten.
Schon kurz nachdem Ricci gegen Ende des 15. Jahrhunderts dort ankam, lernte er Sprache, Schrift, Sitten und Gebräuche des Landes. Er übersetzte die wichtigsten Werke der europäischen Renaissance ins Chinesische und die konfuzianischen Schriften ins Lateinische.
1601 kam Ricci nach Peking und wurde wenig später Beamter am Hof des Kaisers Wanli (1563 - 1620), der sich insbesondere für die astronomischen Kenntnisse des Paters interessierte und ihn unter anderem mit einer Kalenderreform beauftragte. Als Ricci 1610 starb, ließ ihm der Kaiser eine ehrenvolle Grabstätte bauen.
Riccis Bemühungen um die Missionierung waren so erfolgreich, dass den chinesischen Christen bereits im Jahr 1692 unter Kaiser Kangxi (1654 - 1722) die freie Religionsausübung zugesichert wurde. Doch stieß das »Toleranzedikt« auf Seiten der katholischen Kirche auf Widerstand. Im so genannten Ritenstreit verweigerte Papst Clemens XI. 1704 den chinesischen Gläubigen, weiterhin auch Riten nach konfuzianischer Tradition abzuhalten. Unter der Herrschaft von Kangxis Sohn und Nachfolger Yongzheng (1678 - 1735) mussten daher fast alle christlichen Missionare das Land wieder verlassen.


Weitaus offener und freier - aber nicht zweckfreier - als die jeweiligen Herrscher auf beiden Seiten gebärdeten sich die Gelehrten. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) etwa schwärmte vom »öffentlichen Frieden« und der »Ordnung des Zusammenlebens der Menschen« in Fernost. Von der moralischen Integrität der konfuzianischen Beamten und der Aufgeklärtheit der Kaiser war Leibniz derart beeindruckt, dass er schrieb: »Wäre ein weiser Mann zum Schiedsrichter nicht über die Schönheit von Göttinnen, sondern über die Vortrefflichkeit von Völkern gewählt worden, würde er den goldenen Apfel den Chinesen geben. Man sollte es fast für notwendig halten, dass Missionare der Chinesen zu uns gesandt werden.«

Aus Sicht der aufgeklärten Philosophen eignete sich der Gelehrtenstaat mit seiner säkularen Ethik, dem Konfuzianismus, hervorragend als Vorbild im eigenen Kampf gegen die Kirche und den Absolutismus. Jedoch fehlte auch europäischen Gelehrten die Courage, dem in ihren Augen »Andersartigen« nicht bloß als vorteilhaft instrumentalisierbar zu huldigen. Sie identifizierten das Fremde nicht als Teil des gemeinsam Menschlichen. Stattdessen kaschierten oder idealisierten auch sie das Anderssein der Chinesen. Im 17. und 18. Jahrhundert genoss die europäische Oberschicht dieses Exotisch-Fremdartige in Gestalt einer neue Kunstrichtung, der »Chinoiserie«: Vasen und Tassen, Tapeten, Pavillons, ja ganze Gärten mussten aus dem exotischen Paradies China kommen, so wollte es die Oberschicht.

Und heute? Auf den eigenen Körper tätowierte chinesische Schriftzeichen - nicht selten unwissentlich spiegelverkehrt oder frei erfunden - sind ebenso »schick« wie Koffer voller gefälschter DVDs und nachgemachter Markenkleidung, die man von einer Chinareise mitbringt.

Das alles hindert allerdings dieselben Menschen herzhaft wenig, ihren moralischen Zeigefinger gegen das Land zu erheben. Und auch das war schon damals so, denn die Kehrseite der Medaille war längst entdeckt. Die europäischen Händler und Kaufleute beschimpften bereits im 18. Jahrhundert ihre chinesischen Geschäftspartner als »geborene Lumpen und Betrüger«. Dieses Bild verstärkte sich nach dem wirtschaftlichen und politischen Machtverlust des Reichs der Mitte ab 1800. Nun stimmten auch Schöngeister in den Chor ein, dass Chinas Untergang seiner Unzivilisiertheit geschuldet sei. 1850 erklärte der sozialistische Schriftsteller und Kaufmann Georg Weerth: »Jedenfalls sind mir die Chinesen die ekelhafteste Menschenrasse.«


Feige, verlogen und schamlos

Auch Philosophen bezeichneten das riesige Land nun als Menschen verachtendes und grausames System, als eine »orientalische Despotie«, wie es etwa der deutsche Soziologe Karl August Wittfogel (1896 - 1988) ausdrückte. Lobte man früher Chinas Stabilität, so galt diese nun zunehmend als rückständig und hinderlich für den Fortschritt, der Mutter aller europäischen Ideologien - angefangen vom Technisch-Industriellen bis hin zum Sozial-Politischen. Bekannt wurde die These, die Stagnation Chinas habe System. Ein System, welches der französische Staatstheoretiker Montesquieu (1689 - 1755) und später der deutsche Soziologe Max Weber (1864 - 1920) vor allem im Konfuzianismus begründet sahen. Denn die konfuzianische Lehre orientiere sich an einer idealisierten Vergangenheit. Ihr starres soziales und ethisches Ordnungsmodell erschwere Neuerungsprozesse (siehe den Artikel ab S. 30).

Unabhängig davon, ob jene europäischen Schöngeister mit ihrem Urteil Recht hatten oder nicht, wurde China fortan noch gründlicher missverstanden. Zuvor hatten die Europäer die ferne Kultur ignoriert oder visionär verklärt und sich ihr Bild des »Anderen« aus einzelnen Fragmenten zusammengezimmert. Von nun an ging es um ein Urteilen - oft genug enttarnt als ein Ver-, wenn nicht gar Aburteilen von China als Ganzem: Vielleicht ist der bedeutendste Vertreter des Deutschen Idealismus Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831) in diesem Sinn zu verstehen? Er sprach China jegliche Voraussetzung für die Ausbildung einer eigenen Philosophie ab. Oder vielleicht ist Max Weber so zu lesen, der dem chinesischen Konfuzianismus im Gegensatz zur protestantischen Ethiklehre nicht zutraute, aus sich heraus eine Legitimation für den Kapitalismus zu entwickeln? Bezeichnend jedenfalls war sowohl für Montesquieu als auch für Hegel und Weber: Sie selbst haben China nie besucht. Die Kraft der kantschen »reinen Vernunft« genügte ihnen offenbar, um so absolut gültige Schlüsse über China zu ziehen.

Unterdessen wurde das Bild vom Reich der Mitte längst von ganz anderen Europäern mitgeprägt: von den Kolonialisten. Sie waren ins Land gekommen, nachdem die Herrscher der Qing-Dynastie sie im 18. Jahrhundert im Kampf gegen Aufständische ins Land gerufen hatten. In der Folge aber setzten sich die Europäer mehr und mehr in China fest. Sie kolonialisierten die Küstenregionen - wo die technische Überlegenheit des Westens und die Rückständigkeit Chinas unmittelbar aufeinandertrafen. In der europäischen Wahrnehmung verloren sich die von korrupten Herrschern ausgebeuteten und verelendeten Massen im Aberglauben und in Lastern wie dem Opiumrauchen und dem Glückspiel. Zudem galten Chinesen als feige, verlogen und schamlos. Kein Wort mehr von dem praktisch-pragmatischen Verstand, keine Spur jenes staunenden Respekts davor, dass dieses Volk ohne Glauben alle Katastrophen zu überstehen im Stande war. Die Europäer erwarteten von den Chinesen Dankbarkeit, etwa dafür, dass sie ihnen den technischen Fortschritt gebracht hatten - freilich ohne die Menschen vorher gefragt zu haben, ob sie das Geschenk auch haben wollten. So wunderten sich deutsche Gesandte über die Undankbarkeit der Chinesen. »Man hat sie gezwungen, uns ihre Häfen zu öffnen«, schrieb Karl May in seinem Roman »Kong-Kheou« (1888/89), »aber sie hassen uns.«

Doch in Wirklichkeit waren die Empfindungen der Chinesen weitaus komplexer. Spätestens zum Ende des Ersten Opiumskriegs im Jahr 1840 erkannten Kaiserhof und Gelehrte: Allein mit Verweigerung konnte man die Europäer, auf Chinesisch als »Teufel über den Ozean« bezeichnet, nicht mehr abwehren. Stattdessen müsse man von jenen »Teufeln« lernen, lernen und noch einmal lernen. Niemand ahnte, dass jener Prozess, der bis heute anhält, das Selbstverständnis eines ganzen Volks fundamental verändern sollte.


Teuflische Techniken

Traumatisch war am Anfang nur die Erkenntnis - und dies auch nur für eine dünne Schicht am Hof -, dass Chinas Imperium sich nicht mehr allein auf seine Sitten und Riten stützen konnte. So wie die Ming-Kaiser die Missionare und ihr Wissen über Geografie, Astronomie und Mathematik willkommen hießen, setzte der Kaiserhof der Qing-Dynastie nach dem verlorenen Zweiten Opiumkrieg im Jahr 1860 die erste »Industrialisierungswelle« in Gang - bekannt als »Bewegung zur Selbststärkung«. Allerorts entstanden Hochöfen und Munitionsfabriken - und bis Anfang der 1890er Jahre auch eine Marine, die sich in ganz Asien sehen lassen konnte. Dem unguten Gefühl unter Mitgliedern der geistigen Elite setzten Chinas Herrscher Argumente entgegen wie »teuflische Techniken bedienen, um Teufel zu besiegen«. Diese sollten glauben machen, dass es sich bei dem »Europäischen« zwar nicht um etwas »Zivilisiertes«, immerhin aber um etwas »Nutzbares« handelte - auch wenn es den Chinesen wesensfremd sein mochte. Lange währte dieser Selbstbetrug indes nicht. 1895 verlor China im Krieg gegen Japan die gesamte Marine und viele Territorien - wie die Insel Taiwan. Anders als China hatte das japanische Kaiserreich in der Meiji-Zeit ab 1868 tief greifende politische, soziale und wirtschaftliche Reformen durchgeführt - nach europäischem Vorbild.

Der Schock über die Niederlage gegen den europäisierten Nachbarn saß tief. Um gegen eine nun auch durch Japan symbolisierte europäische Überlegenheit bestehen zu können, reichte eine Modernisierung im technisch-militärischen Sinn offenbar nicht aus. Ein immer größer werdender Selbstzweifel nagte an den Seelen der Chinesen, wenn sie nun an die Europäer dachten.


Rettung oder Vernichtung

Reformer wie der Gelehrte Kang Youwei (1858 - 1927) sahen deren Überlegenheit nicht mehr nur in der fortschrittlichen Technologie, sondern auch in den modernen sozialen und politischen Institutionen des Westens begründet. In der Diskussion um eine Erneuerung des eigenen Wesens ging es nun auch um konstitutionelle Machtstrukturen, Mehrparteiensysteme und Verfassungspolitik. Mit solchen Schlagwörtern sollte die chinesische Nation gerettet werden - ohne den Preis der kulturellen Aufgabe. Doch je fleißiger die Chinesen von Europa lernten, umso schmerzhafter erfuhren sie, wie wenig das Wesen ihrer Kultur für die Moderne taugte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts - die dynastische Zeit neigte sich ihrem Ende zu - ging es den Intellektuellen aller Couleur immer mehr um die Frage: totale Rettung oder totale Vernichtung?

In der gemeinen Bevölkerung wuchs unterdessen der Hass gegen die Kolonialherren, die sie wie Menschen zweiter Klasse behandelten. Die Wut entlud sich schließlich 1900 im so genannten Boxeraufstand, benannt nach der geheimgesellschaftlich organisierten »Boxer-Bewegung« (chinesisch: »Fäuste der Gerechtigkeit«), der sich zunächst gezielt gegen Christen, später jedoch gegen sämtliche Ausländer richtete. In Europa sah man den Aufstand als Zeichen fernöstlicher Brutalität. Die »gelbe Gefahr« drohte nun nicht mehr nur aus einem erfolgreich modernisierten Japan. »Führt eure Waffen so, dass auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen«, befahl Kaiser Wilhelm II. deshalb den Soldaten der gefürchteten deutschen Armee, bevor er sie zur Niederschlagung des Boxeraufstands verabschiedete.


»Pardon wird nicht gegeben!«: Die »Hunnenrede« Wilhelms II.

Als der deutsche Kaiser Wilhelm II . am 27. Juli 1900 in Bremerhaven die deutschen Soldaten des Ostasiatischen Expeditionskorps nach China verabschiedete, hielt er seine berüchtigte »Hunnenrede«. Dabei weicht die offizielle Version deutlich von der tatsächlich gehaltenen, teils improvisierten Rede ab. So hatte Wilhelm II . zu den Soldaten Folgendes gesagt:
»Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!«
Die Journalisten erhielten wenig später eine schriftliche Version, in der unter anderem der Hunnenvergleich fehlte. Wo zuvor der entscheidende Satz: »Pardon wird nicht gegeben« als Aufforderung verstanden war, den Feind gnadenlos zu vernichten, sollte er nun vor der Unbarmherzigkeit des Feindes warnen:
»Ihr wisst es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wisst: Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, dass auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen«.


Derweil teilte sich in Europa, insbesondere in Deutschland, das Chinabild in ein real-rückständiges, dem Verfall geweihtes und ein klassisches, museal-verklärtes. Lange widmeten sich die Sinologen in Deutschland vornehmlich den alten Kaiserreichen, die eher ein aktuelles Gegenstück der Zivilisationsentwicklung darstellten. Das China der Gegenwart mit all seinen unschönen Seiten, Widersprüchen und Oberflächlichkeiten erscheint vielen Wissenschaftlern bis heute als zu banal und wenig erforschenswert. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert trafen die China-Wahrnehmungen der Europäer und das Europabild der Chinesen zum ersten Mal in aufeinander: hier verklärter Altertumsglanz, dort verzweifelter Fortschrittsglaube.

Diese Dichotomie war von 1910 bis 1930 unter den chinesischen Intellektuellen unverkennbar, wenn auch noch etwas anders gelagert: Die eigene Geschichte, insbesondere der Konfuzianismus, wurde von jungen Intellektuellen als Zeichen der Schwäche und als unpassend für den Aufbau einer modernen Nation abgelehnt. Vielmehr sahen sie in westlichen Konzepten die einzige Rettung. Für eine »totale Verwestlichung« sprachen sich etwa Intellektuelle wie der Philosoph Hu Shi (1891 - 1962) aus. Dagegen plädierten Konservative eher für eine Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen.


Ausgleich zwischen den Extremen

Eine dritte Gruppe von Intellektuellen folgte dem europäischen Muster der Ideengeschichte. Sie suchten in Synthesen zwischen chinesischen und westlichen Konzepten den Schlüssel für eine moderne und starke Nation. Von diesem Gedanken geleitet, stellte sie sich ergänzende östliche und westliche Denkweisen gegenüber. Die besondere chinesische Wertschätzung der Familie traf auf die westliche Wertschätzung von Selbstständigkeit in Regierung, Kunst und Wissenschaft. Chinesen halten an Traditionen fest, während der Westen auf Fortschritt drängt.

Viele Intellektuelle plädierten für einen Mittelweg zwischen diesen Extremen. Auf solche monolithischen Gegenüberstellungen greifen in Europa heute auch Veranstalter von Seminaren gern zurück, um Managern und Interessierten »interkulturelle Kompetenz« zu vermitteln. China sei eine kollektivistische Kultur, Deutschland hingegen eine individualistische. Deutsche könnten schlecht mit Unsicherheit umgehen, Chinesen gut, Deutsche seien mittelfristig, Chinesen langfristig orientiert, Chinesen schätzten eher die Nähe, Deutsche hingegen die Ferne - das sind laut einem Vortrag zur Eröffnung des deutsch-chinesischen Zentrums in Hannover die nach »neuerer Forschung« gängigsten Unterschiede beider Kulturen. Der Redner geht zwar davon aus, dass Brücken gebaut werden können, nach Gemeinsamkeiten frage aber weder die deutsche noch die chinesische Seite.

Noch weniger fragt man danach, aus welchen historischen Zusammenhängen sich die meist nicht einmal wirklich allgemein gültigen »Unterschiede« ergeben. Haben die Deutschen im Zeitalter von Massenproduktion, Massenkonsum und Massentourismus wirklich eine »individualistische Kultur«? Ist China wirklich ein Ameisenhaufen aus Arbeitern in blauen Kitteln?

Neben Vereinfachungen beeinflusst auch die eigene Gemütslage oft die Wahrnehmung der Europäer. Die angesprochene Vorliebe der deutschen Sinologen für das alte China ist Ausdruck eines im Wohlstand angelangten Bildungsbürgertums, das exotische Weltfantasien benötigt, das ständig das humboldtsche Ideal eines unentwegt erkundenden und erkennenden Humanisten anstrebt. In den 1970er Jahren verklärten viele Wissenschaftler das maoistische China der Kulturrevolution als ein Ersatzmodell für den viel kritisierten westlichen Kapitalismus.

Doch es liegt auch nahe, dass die Wahrnehmung Europas durch die Chinesen von historisch und kulturell bedingten Umständen mitsamt entsprechendem Psychogramm geprägt ist. Zehn Jahre nach der teils antiwestlichen Kulturrevolution (1966 - 1976) erfasste Chinas Studenten und Intellektuelle eine neue Verehrungswelle des Westens. Der rückständigen und nach innen gewandten »gelben Kultur« (gelb: symbolisch für Erde) wurde eine fortschrittliche, dynamische, nach außen strebende »blaue Kultur« (blau: symbolisch für das Meer und die Seefahrernationen des Westens) gegenübergestellt. Erneut sehnte man sich nach Werten wie Freiheit und Demokratie, um darauf ein neues China zu errichten.

Chinesen wollen von Europa lernen, um die Lehrenden zu überholen; erst Schüler mimen, um eines Tages selbst in die Fußstapfen des Lehrmeisters treten zu können. Dabei wirkt sich insbesondere die konfuzianische Pädagogik - nicht nur als Methode, sondern viel mehr noch als innere Haltung der ethischen Werte - auf das Verhalten aus. Chinesen lernen unermüdlich, kopieren emsig - und werden dabei emotional hin- und hergerissen zwischen totaler Verehrung und nicht weniger totaler Bereitschaft, die Lehrenden als Belehrende zu empfinden und zu verschmähen. In traditionell konfuzianischem Sinn hatte ein Lehrmeister, nun also der europäische Westen, den Schüler, China, nicht allein mit Wissen zu versorgen, sondern im Idealfall auch väterlich zu behüten und zu leiten. Eine Erwartung, die im ausgehenden 19. und im gesamten 20. Jahrhundert aus chinesischer Sicht unzählige Male enttäuscht worden ist.


Zur Strafe kein Hollywood

Zuletzt war dies am 8. Mai 1999 während des Kosovokonflikts der Fall, als die chinesische Botschaft in Belgrad von amerikanischen Bomben getroffen wurde. Aus Wut verkündeten die Behörden der Provinz Sichuan, einen Monat lang keine Hollywood-Filme zu zeigen. Aus Empörung wollten etliche Universitäten die gerade von KP-Chef Jiang Zemin angeregte Auseinandersetzung mit der amerikanischen Verfassung im Geschichtsstudium wieder streichen. Aus Verbitterung schleuderten chinesische Studenten Steine gegen amerikanische Botschaften und Konsulate - um am nächsten Tag wieder vor denselben Botschaften Schlange zu stehen und ein Studentenvisum in das begehrte Land zu beantragen. Wohl wieder einmal in dem nationalistischen Kollektivtraum, eines Tages den arrogant lehrenden Meister niederzuringen.

Bis in unsere unmittelbare Gegenwart reißen die Fäden dieses Beziehungsgewirrs zwischen China und dem Westen nicht ab. Bis auf den heutigen Tag wallen immer wieder heftige Emotionen auf, wenn auf der einen Seite etwas geschieht, was den inneren Zustand der anderen, ihre Erwartungen und Befürchtungen durcheinanderwirbelt. Dann beschwört man hier wie dort schnell Erklärungsmuster wie Mentalitätsunterschiede oder spricht von graduell verschiedener Zivilisiertheit. Belobigungen und Beleidigungen wechseln sich ab, ohne dass sich beide Seiten ernsthaft darum bemühen, der jeweils anderen Kultur respektvoll zu begegnen und sie zunächst als das zu verstehen, was sie ist: ein Gemenge menschlicher Schwächen, das vor allem Politikern und Wirtschaftsbossen beider Seiten nur allzu nützlich ist. Zu welch grotesken und nicht selten auch tragischen Ergebnissen dies führt, zeigen auch die jüngsten Ereignisse um Tibet und die Olympischen Spiele in Peking.


Die Politikwissenschaftlerin und Sinologin Kristin Kupfer lebt in Peking. Als Korrespondentin des österreichischen Magazins »Profil« war sie Ende März 2008 eine der beiden letzten ausländischen Berichterstatter in Tibet, bevor auch sie ausgewiesen wurde.

Shi Ming wurde in Peking geboren. Er ist freier Journalist und Autor. 1989 war er von einem Deutschlandbesuch nicht nach China zurückgekehrt.


ZUSATZINFORMATIONEN

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Der Buddhismus hat in China eine zweitausend Jahre alte Tradition - der Kommunismus eine knapp 60-jährige. Nach der Kulturrevolution Mao Zedongs waren die Klöster und Tempel fast völlig verwaist. seit den 1980er Jahren erlebt der traditionelle Glaube eine Renaissance

Im 6. Jahrhundert n. Chr. war die damalige chinesische Hauptstadt Xi'an mit einer Million Einwohnern die grösste Metropole der Welt - Heute steht Shanghai mit fast zehn Millionen Menschen im internationalen Vergleich auf Platz 8

700.000 Fronarbeiter bauten im 3. Jahrhundert v. Chr. für Qin Shihuangdi, den ersten Kaiser Chinas, eine riesige Grabstätte mit tausenden von Terrakottakriegern - Heute ziehen rund 200 Millionen Wanderarbeiter durch das Land. Am 26. Juni 2005 warten einige hundert in Reih und Glied auf die feierliche Grundsteinlegung für das neue Olympiastadion in Peking

Im 18. Jahrhundert begeisterte sich die europäische Oberschicht für das Fremdartige China und kreierte eine neue Kunstrichtung: die »Chinoiserie«.

Mit seinem Fresko »Landschaft mit Mandarinenbaum« lag Giovanni Domenico Tiepolo (1727 - 1804) in Zeiten der Chinabegeisterung voll im Trend.

Marco Polo berichtete auch von der Jagd auf Einhörner. Dem Künstler dieser Buchmalerei aus dem Jahr 1412 war jedoch nicht klar, dass Polo Nashörner gemeint hatte.

Bilder wie dieses aus der Zeit um 1900 prägten die Meinung vieler Europäer. Demnach waren viele Chinesen dekadenten Lastern verfallen wie etwa dem Opiumrauchen.

Auch nachdem die westlichen Missionare das Reich der Mitte längst verlassen hatten, blieb der christliche Glaube im Land, wie etwa der chinesische Porzellanteller aus der Zeit um 1745 belegt.

Im Jahr 1900 entlud sich im »Boxeraufstand« die Wut vieler Chinesen gegen die europäischen Kolonialherren. Dieses Foto machte der deutsche Militärattaché Otto Brandt, als alliierte Truppen bei der Befreiung des Pekinger Gesandschaftsviertels zahllose Aufständische enthaupteten.

Am 8. Mai 1999 während des Kosovokonflikts trafen amerikanische Bomben die chinesische Botschaft in Belgrad. Dabei kamen vier Menschen ums Leben, etwa zwanzig wurden verletzt. Bis heute halten sich Gerüchte, es habe sich um einen gezielten Angriff gehandelt, weil die jugoslawische Führung von dort aus Nachrichten an die Armee gesendet hätte.

Die deutschen Soldaten lauschten im Sommer 1900 in Bremerhaven den Worten Kaiser Wilhelms II.


© 2008 Kristin Kupfer und Shi Ming, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
epoc 4/08, Seite 16-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2008