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BUCHTIP/304: Als die Westler in den Osten kamen (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Das Potsdamer Universitätsmagazin 3/2010

Als die Westler in den Osten kamen
Von der Bundesrepublik in die DDR:
Historiker untersuchte Motive und Schicksale von Auswanderern

Von Petra Görlich


"Zuflucht DDR" heißt ein Projekt, das den Geschichtsprofessor Bernd Stöver in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigte. Der Historiker an der Universität Potsdam hat 2009 Forschungen abgeschlossen, die sich mit der Auswanderung von Westdeutschen in die DDR zwischen 1949 und 1989 beschäftigten. Schätzungsweise 550.000 Flüchtlinge waren es, die in den 40 Jahren die Grenze von West nach Ost überschritten. Der Wissenschaftler fragte nach Motiven und Schicksalen und fand dabei - auch in lange gut verschlossenen Geheimdienstakten - spannende Biografien. Entstanden ist eine Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte der beiden deutschen Staaten im Kalten Krieg.


Es waren nicht nur Spione, die kamen. Aber einige gab es schon darunter. Der Westberliner Hehler Hans Wachs gehörte dazu. Er wurde 1954 vom Ministerium für Staatssicherheit in Ostberlin angeworben. Kurz darauf setzte man ihn bereits für besonders gefährliche Operationen in der Bundesrepublik an. Das brachte ihm gutes Geld, auch nach seiner Übersiedlung in die DDR im Juli 1961. Bis in den 1970-er Jahren die Entspannungspolitik mit den alten Spionagekadern der 1950-er Jahre kollidierte. Der Haudegen für besondere Einsätze stellte plötzlich eine Gefahr für die innere Sicherheit dar, was mit seiner Überwachung durch das MfS bis zum Tod endete. Daran änderte auch das kurz vor seinem Tod von ihm noch angebotene Selbstmordattentat auf die Druckerei der antikommunistischen Emigrantenorganisation NTS in Frankfurt am Main nichts mehr.

Es ist eine von vielen Biographien, denen Stöver nachging. Zugegeben keine alltägliche. Die Geschichtsschreibung geht von 550.000 Übersiedlern aus, davon rund 500.000 bis 1961. Rund 50 Prozent der "Erstzuziehenden" verließen die DDR wieder. Warum verließen die Menschen die Bundesrepublik? Wie ging die DDR mit Leuten um, die sie eigentlich nicht haben wollte? Wie funktionierte der DDR-Staat im Inneren? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, stöberte der Uni-Historiker in vielen Archiven. Er sichtete Akten des Bundesgerichtshofes, des Ministeriums für Staatssicherheit, der CIA und einer Fülle von anderen Organisationen, besuchte die Bundesarchive und reiste insgesamt viermal nach Washington, um in den dortigen "National Archives" zu forschen. Auf Zeitzeugenbefragungen verzichtete Stöver gänzlich.. "Ich habe mich bewusst dafür entschieden, den Fakten in den Archiven zu trauen", erklärt Stöver dazu, "weil sich Widersprüche durch die unterschiedliche Überlieferung sehr schnell erkennen lassen". Die DDR war laut Aktenauskunft durchaus an den Neuankömmlingen interessiert. Über die Abteilung Bevölkerungspolitik im Innenministerium warb man bis zum Mauerbau 1961 vor allem um Facharbeiter. Die Rechnung ging jedoch nicht auf. "Es siedelten oft diejenigen über, die keine der gewünschten Qualifikationen mitbrachten, aber viele Kinder hatten und sich im Westen mit sozialen Problemen auseinandersetzen mussten", so Stöver. Nicht alle durften deshalb bleiben. Die Übersiedler wurden oft durch mehrere Aufnahmelager geschickt. Beim rigorosen Aufnahmeverfahren wurde gründlich gesiebt. Für diejenigen, die sich schließlich im Osten niederließen, begann nach den Erkenntnissen Stövers nicht unbedingt immer eine glückliche Zeit. "Sie wollten mehr soziale Sicherheit, aber auf ihre gewohnten Freiheiten nicht verzichten."

Beim Übertritt von West nach Ost ist an den Ländergrenzen nach Motiven des Wechsels gefragt worden. Das Verhältnis von politischen zu sozialen Motiven beträgt 40:60, fand der Potsdamer Experte für die Zeitepoche des Kalten Krieges heraus. Das Ergebnis war auch für Stöver überraschend. "Dass 40 Prozent dieser Menschen aus politischen Gründen die alte Heimat verließen, habe ich nicht erwartet. Es ist ein vergleichsweise hoher Wert."

Die Potsdamer Recherchen rütteln an einem lang gehegten deutsch-deutschen Tabuthema. Der Blick von der Mikroebene des Kalten Krieges auf einzelne Biographien war, so sind sich Kenner der Zeitgeschichte einig, längst fällig. Mit den Forschungsergebnissen liegt nun die erste Arbeit eines Wissenschaftlers vor, der sich über den gesamten Zeitraum der Doppelstaatlichkeit mit dem Phänomen der deutsch-deutschen Migrationen beschäftigt hat. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Gerda Henkel Stiftung unterstützten das Forschungsvorhaben finanziell.


Bernd Stöver hat Ergebnisse seines Projekts im Buch
"Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler" zusammengefasst.
Es ist beim Verlag C.H. Beck erschienen. ISBN: 978-3-406-59100-6


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Quelle:
Portal - Das Potsdamer Universitätsmagazin 3/2010, Seite 31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2010