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DISKURS/025: 1968 und die jüngere Generation (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2008

1968 und die jüngere Generation

Von Karsten Wiedemann


Der Deutungskampf um 68 sollte nicht den Kontrahenten von damals überlassen werden. Während diese nur alte Streitigkeiten wieder aufwärmen, hängen die Jungen weder utopischen Entwürfen nach noch beharren sie auf traditionellen Werten. Bei allem politischen Engagement bleiben sie realistisch.


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Bei einer Diskussion vor einigen Wochen in Berlin brachen sie wieder los, die Konflikte von damals. Auf dem Podium: Tilman Fichter, vor 40 Jahren beim SDS in Berlin und Wulf Schönbohm, der Vorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) war. Worüber sie stritten? Über 1968.

Für die Dauer der Podiumsdiskussion - Anlass war die Eröffnung der Ausstellung '68 - Brennpunkt Berlin' sah sich der Beobachter dabei zurückversetzt an die FU Berlin der späten 60er Jahre. Etwa wenn Fichter dem damaligen RCDSler Schönbohm lautstark vorwarf, seine Organisation sei zu feige gewesen, die USA für den Vietnamkrieg zu kritisieren und dieser zurückblaffte, die Ziele von APO und SDS seien allesamt unrealistisch gewesen und das einzige Gute, das die 68er erreicht hätten, sei, dass man endlich ungestraft bei seiner Freundin übernachten durfte.

Runde Geburtstage bieten immer einen Anlass, sich zurückzubesinnen auf die Dinge, die da einst waren. Das geht nicht immer friedlich ab. So verhält sich dies auch mit dem Jahr 1968, das wir, die Kinder der 68er, nur vom Hörensagen kennen. Nach dem Motto: "Papa, was hast Du denn 1968 gemacht?"


Erbitterter Streit bis heute

Was 1968 war und welche Relevanz es für die nachfolgenden Generationen hat und hatte, ist nicht ganz leicht zu eruieren. Stehen sich doch seit dem Jahr zwei Lager unerbittlich gegenüber, die jeweils die Deutungshoheit über die Ereignisse für sich beanspruchen. Da gibt es auf der einen Seite die 68er selbst, die ihre Taten von damals oft mit etwas verklärtem Blick betrachten, und auf der anderen Seite ihre Gegner von einst, für die 1968 offenbar so etwas wie den Untergang der westlichen Wertegemeinschaft markiert. Und dazwischen die in den 70er Jahren Geborenen, die sich einen Reim auf das Ganze machen müssen.

Was nicht ganz leicht ist angesichts des erbitterten Streits, der derzeit um "das Erbe" von 1968 tobt. Da malt ZDF-Dauerlächler Peter Hahne das Bild von marodierenden Studenten, die mit ihrem Angriff auf die Gesellschaft jede Form von Autorität, Tradition und Wertebindung zerstört hätten. Ihm eilt 'Bild'-Chef Kai Dieckmann zur Seite, der 68 als "Epochenbruch in Richtung Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit" brandmarkt. Aber nicht nur von erwartbarer, weil konservativer Seite wird 68er-'Bashing' betrieben. Auch prominente Protestler von einst wie Daniel Cohn-Bendit rufen dazu auf, "'68 zu vergessen". Für den Autor und Historiker Götz Aly war 1968 gar ein Spätausläufer des europäischen Totalitarismus. Die Kinder der Massenmörder seien mit der Bibel des Massenmörders Mao herumgelaufen, so seine Argumentation.


Das Lamento der 68er

Die jüngere Generation, aufgewachsen in Kinderläden, Kommunen oder sonstigen Wohnprojekten und natürlich anti-autoritär erzogen, sieht diesen Diskussionen etwas verwirrt zu. Denn letztendlich geht der Streit um sie, das "fleischgewordene" Erbe von 1968. Es geht um das, was sie sind und warum sie so sind. Und darum, was das, was ihre Eltern damals gemacht oder auch nicht gemacht haben, damit zu tun hat.

"Was bedeutet 1968 für Euch?" Auf diese Frage ergab sich in einer nichtrepräsentativen Umfrage im Freundeskreis des Autors (alle um die 30) ein recht oberflächliches Bild: Flower Power, Umbruch, Studentenrevolte, sexuelle Revolution, Hippies, Woodstock, kiffen, Drogen, Jimi Hendrix, Beatles, Frauenbewegung, Joschka Fischer, gute Musik, geile Klamotten, coole Sonnenbrillen.

Offensichtlich hat das Jahr 1968 im Bewusstsein der Jüngeren vor allem als Klischee überlebt: Demonstrationen, WG-Parties, Woodstock - ein feucht-frivoles Happening in 'Super-8', ähnlich wie die Love Parade, nur mit anderer Musik. Die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit beispielsweise verbinden offenbar die wenigsten mit dem Jahr 1968. Auch bei der Frage, was die Protestbewegung von damals denn eigentlich erreicht hat, steht das Thema Sex beziehungsweise "freie Liebe" ganz oben: An die politischen Forderungen der 68er erinnert sich kaum einer. Haben uns unsere Eltern zu wenig davon erzählt? Oder liegt es daran, dass sie gar keine politischen Ziele hatten, zumindest keine gemeinsamen?

Vielleicht ist auch die "Früher-war-alles-besser"-Attitüde mancher 68er daran Schuld, dass der politische Kampf von damals eher in Vergessenheit geraten ist. In Gesprächen über die Zeit von damals liegt schnell der Vorwurf in der Luft, dass die liebe Nachkommenschaft doch ein ziemlich unpolitischer Haufen sei, nicht einmal fähig, vernünftig gegen Studiengebühren zu demonstrieren (die übrigens von 68ern eingeführt werden). Darin scheinen sich übrigens 68er wie auch ihre Gegner von einst einig zu sein.

Bestätigt das den immer wieder vorgebrachten Vorwurf, die Post-68-Generation sei vor allem materialistisch orientiert. Während die älteren Geschwister in den 80er Jahren noch fleißig gegen Atomkraft und Pershings demonstrierten, trollten sich ihre jüngeren Geschwister einige Jahre später lieber auf 'Raves'. Der "68er-Mainstream" lief aus, sagt dazu der Politologe Franz Walter. "Zu Ende ging es mit Anti-AKW-Stickern und Betroffenheitspathos." Mit der postmaterialistischen Einstellung der Älteren hatten die jüngeren Geschwister nicht mehr viel am Hut. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts musste keiner mehr den nuklearen 'Fall-Out' fürchten. Spaß haben stand auf der Agenda. Die "Generation Golf" war geboren.


Engagierte Realisten

"Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche", hieß einer der 68er-Rufe. In der heutigen Anti-Globalisierungsbewegung, die hin und wieder mit 1968 verglichen wird, heißt es etwas bescheidener: "Eine andere Welt ist möglich". Mit dieser Möglichkeit einer anderen Welt lässt es sich aber ganz gut im "Hier und jetzt" einrichten. Es geht darum, sich individuell zu verwirklichen (also ganz 68), aber in der Masse nicht unbedingt aufzufallen. Ein Freund schreibt dazu passend: "So krass die Zeit und die kulturelle Revolution war, hat sie wahrscheinlich auch oftmals 'das Kind mit dem Bade ausgeschüttet' und war in der Massivität und in den Ausmaßen nicht immer gut. Grenzenlosigkeit ist nicht immer gut."

Das Extreme liegt den Jüngeren also nicht so. Daran sind die 68er sicher nicht ganz unschuldig. Baader, Meinhof auf der einen, Horst Mahler auf der anderen Seite: Was die 68er an ihren Rändern hervorgebracht haben, wirkt bis heute als abschreckendes Beispiel. Das "Über-die-Stränge-Schlagen" einer radikalen Minderheit hat der Mehrheit der nachfolgenden Generation wohl den revolutionären Impetus geraubt. Vielleicht fehlte es auch an einem Benno Ohnesorg. Der einzige brauchbare Märtyrer, den die 90er Jahre hervorbrachten, war Kurt Cobain und der erschoss sich bekanntermaßen selbst - aus Protest gegen sich selbst.

Es schmerzt zwar ein wenig, wenn ein Konservativer wie Wulf Schönbohm sagt, von den heutigen jungen Menschen eine ähnliche Revolte zu erwarten wie damals, sei lachhaft. Recht hat er trotzdem. Das aber als einen Sieg der Konservativen zu feiern, wäre ebenso falsch. Niemand sehnt sich heute zurück in die miefigen 50er Jahre, nicht mal die Konservativen.

Einer ganzen Generation ein gemeinsames Merkmal aufzudrücken ist schwierig und kann nur oberflächlich gelingen. Im Vergleich zu ihren Eltern lässt sich dennoch sagen, dass die Kinder der 68er Realisten sind. Das Unmögliche zu fordern, ist ihre Sache nicht. Die Aussicht auf eine Räterepublik lockt heute wohl niemanden mehr auf die Straße. Für idealistische Träumereien bleibt wenig Zeit. Zwischen Studium, Praktikum und Job muss die Weltverbesserung hintanstehen, und sie muss vor allem in den Tagesablauf passen.

Die Art und Weise und die Orte des Protestes haben sich verändert. Sitzblockaden, Streiks, Massen-Demos, klammert man die Anti-Irakkriegs-Bewegung einmal aus, waren gestern. Wer heute etwas Gutes tun will, geht zum Live-Aid- oder Live-Earth-Konzert und kauft im Anschluss die DVD mit einer Spende für den Regenwald. Oder er unterschreibt eine Online-Petition gegen die Schließung des Bochumer Nokia-Werks. Ob das mehr oder weniger effektiv ist, als das Springer-Gebäude anzuzünden, darüber lässt sich sicher streiten.

Von einer Generation der "Realisten" spricht der Soziologe Helmut Klages. Er charakterisiert sie als erfolgsorientiert und ehrgeizig, aber auch als tolerant und flexibel. Sie sind angekommen im Zeitalter der Globalisierung. Dazu passt, dass laut 'Shell-Jugendstudie' traditionelle Werte wie Familie, Fleiß und vor allem materielle Sicherheit bei der jüngeren Generation wieder hoch im Kurs stehen.

Das ewige Lamentieren konservativer Chronisten, die 68er hätten eine Generation von unerzogenen, respektlosen und egoistischen Kindern hervorgebracht, wird damit Lügen gestraft. Auch weil sich laut Klages die "Realisten" überdurchschnittlich häufig für die Gesellschaft engagieren. Ganz anders als die so genannten "Konventionalisten", die ewig über das Unheil der 68er schimpfen. So kommt Klages zu dem Urteil, dass das in allen entwickelten Ländern beobachtbare Vordringen von Selbstentfaltungswerten die Engagementbereitschaft der Bevölkerung nicht geschwächt, sondern gestärkt habe. So viel zum Thema Egoismus.

Dass die junge Generation ihr Heil nicht in Sit-Ins oder Teach-Ins sucht, wie vielleicht ihre Eltern, hat viele Gründe. Zunächst einmal ist es ein ganz normales Phänomen, dass sich Kinder von ihren Eltern emanzipieren müssen. Nach dem Motto: Wenn Mama und Papa kiffend in der Kommune saßen, geh ich eben ins Büro und nachher ins Reihenhaus. Daraus mangelndes politisches Interesse zu schlussfolgern, greift aber zu kurz.

Denn wahr ist auch - Vorsicht Plattitüde -, dass sich die Zeiten gewandelt haben. Die Generation der 68er-Kinder erlebte zunächst das Ende der Geschichte, die schier unglaublichen Möglichkeiten der Globalisierung, des Internets, dann aber auch den 11. September und den Zusammenbruch der New Economy. Weder mit ewigem Frieden noch mit ewigem Wachstum ist es also weit her.

Mit diesen Unsicherheiten gilt es sich zu arrangieren. Auch mit der Tatsache, dass auf Studium oder Ausbildung nicht automatisch der Job folgt, sondern viel eher das unbezahlte Praktikum. Rente mit 67? Schöne Sache, nur mit dem regelmäßigen Einzahlen gibt es Probleme, wenn man nur noch Zeitverträge bekommt. Die 68er konnten vom "Marsch durch die Institutionen" träumen und ihn teilweise auch verwirklichen. Die Institutionen ließen sie herein und dort sitzen viele heute immer noch. Sie haben nur vergessen Platz zu machen.

Daniel Cohn-Bendit kritisierte die Studentenproteste (es gibt sie also doch noch!) in Frankreich im Jahr 2006, weil die Protestler seiner Meinung nach eine zu negative Sicht auf die Zukunft hätten. Der Mai 1968 sei dagegen eine Bewegung mit einer positiven Vision der Zukunft gewesen. Vielleicht sollte er darüber nachdenken, warum das so ist.

Natürlich ist nicht alles nur negativ. Wie jede Generation ringen die Post-68er mit den Herausforderungen ihrer Zeit. Da geht es eben weniger um den "Mief von Tausend Jahren" sondern mehr um die Frage, ob fünf Praktika für eine Trainee-Stelle qualifizieren.

Und trotzdem ist das "Erbe" präsent, auch wenn das vielleicht vielen nicht bewusst ist: Für die jüngere Generation ist es selbstverständlich, dass Frauen arbeiten, dass Schwule heiraten. Für die jungen Väter von heute ist es ganz natürlich, den Kinderwagen durch den Park zu schieben, Windeln zu wechseln oder Erziehungszeit zu nehmen. In der Uni kommt keiner "mehr auf die Idee, seinen Tischnachbarn zu siezen.

Nur von den großen politischen Visionen haben wir Realisten uns entfernt und backen kleine Brötchen. Oskar Negt schreibt, die 68er hätten Hügel hinterlassen, aber keine Berge versetzt. Daraus haben die jüngeren gelernt. Sie nehmen die Hügel in Anspruch und denken nicht mehr an die Berge.


Karsten Wiedemann (*1977) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Redakteur bei der Berliner 'vorwärts' Verlagsgesellschaft.
wiedemann@vorwaerts.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2008, S. 52-55
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2008