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FORSCHUNG/114: Polnische Forschung zur Erschließung des Getto-Materials (Spiegel der Forschung - Uni Gießen)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008 Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Wege der polnischen Forschung zur Erschließung des Getto-Materials
Stationen und Beschreibung von Archivalien

Von Krystyna Radziszewska


Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Getto in Lodz und dem umfangreichen überlieferten Material hat in Polen eine bewegte Geschichte. Die ersten Dokumente wurden bereits 1946 veröffentlicht. Allerdings fand das Getto in Lodz, das zweitgrößte in Polen, das im August 1944 aufgelöst wurde, nie die Aufmerksamkeit der Forschung, wie sie dem Warschauer Getto zuteil wurde. Die Lodzer Juden hatten sich nicht gegen die Nazis erhoben, und das "Wohngebiet der Juden in Lodz" galt als Beispiel für die Kollaboration des Judenrats mit den Besatzern. 1968 wurde dann sogar die Publikation der "Chronik des Lodzer Gettos" aus politischen Gründen gestoppt.


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"Vor dem Zweiten Weltkrieg war jeder dritte Lodzer jüdischen Glaubens. Nur der Friedhof zeugt noch von der dominierenden Rolle, die das Judentum einst in dieser Stadt gespielt hat." Dies schrieb 1987 Hans Magnus Enzensberger nach seinem Aufenthalt in Lodz in seiner Reiseprosa "Ach Europa!". Die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Polen, die 234.000 Mitglieder zählte, wurde von den Nazis fast völlig vernichtet. In der Stadt wurde das zweitgrößte Getto nach Warschau eingerichtet, in das die Besatzer 1940 über 160.000 Menschen eingepfercht haben. Dazu kamen noch fast 20.000 Menschen aus den aufgelösten Provinzgettos im so genannten Warthegau und 20.000 Juden aus Westeuropa. Dieses hermetisch abgeriegelte "Wohngebiet der Juden", das am längsten von allen Gettos im besetzten Polen existierte, war nur eine Station auf dem Weg zu den Gaskammern von Auschwitz und Kulmhof.

In polnischen Archiven gibt es eine umfangreiche Dokumentation über das Leben, die Verfolgung und Vernichtung der Juden aus dem Lodzer Getto. Keine andere jüdische Gemeinde in Polen verfügt über eine so reichhaltige Dokumentation. Wenn es im Archiv in Lodz keine Angaben zu einer bestimmten Person aus dem Getto gibt, dann ist dies eine Ausnahme. In anderen Archiven, vor allem in Warschau, ist es gerade umgekehrt. Die Bestände aus dem Lodzer Getto, die größtenteils von dem ehemaligen Briefträger im Getto, Nachman Zonabend, gerettet wurden, befanden sich seit 1947 im Jüdischen Historischen Institut in Warschau.

Meldung zum Arbeitseinsatz im Getto Lodz/Litzmannstadt

Meldung zum Arbeitseinsatz im Getto Lodz/Litzmannstadt


Nachman Zonabend verließ 1947 Polen und nahm einen Teil der Dokumente mit. Auf ihrer Grundlage erschienen im Ausland die ersten Veröffentlichungen über das Lodzer Getto. Zonabend, der in Schweden lebte, begann nach 1956, nach dem "Tauwetter", Polen zu besuchen. Er wurde als mutmaßlicher Spion des Westens ständig vom Sicherheitsdienst beobachtet. Nach 1968 wurde ihm die Einreise nach Polen verweigert. Im Jahre 1969 hat das Jüdische Historische Institut fast die gesamte Dokumentation des Lodzer Gettos dem Staatsarchiv in Lodz überlassen, wo sie von Julian Baranowski - heute dem besten Kenner dieser Problematik in Lodz - ausgewertet, geordnet und wissenschaftlich erschlossen wurde.

Die Quellen zur Erforschung des Lodzer Gettos bilden Dokumente, autobiographische Texte, d.h. Tagebücher, die im Getto geführt wurden, und die nach dem Kriege verfassten Erinnerungen, die eine Rekonstruktion der Ereignisse sind, Pressetexte und im engeren Sinne literarische Texte. Der wissenschaftliche Wert dieser Quellen ist unterschiedlich. Unschätzbar sind vor allem Dokumente, in denen am deutlichsten und objektivsten die Vernichtungspolitik der Nazis gegen die Lodzer Juden zum Ausdruck kommt. Von fundamentaler Bedeutung zur Erforschung der Geschichte des Gettos ist der Bestand "Der Älteste der Juden", der aus fast 2500 Mappen besteht.

Titelblatt Lodzer Zeitung

Bestand "Der Älteste der Juden"

In den Institutionen, Abteilungen, Ressorts und Stellen der jüdischen Selbstverwaltung im Getto wurden zahlreiche Dokumente produziert. Mit der Sammlung und Aufbewahrung dieser Dokumentation beschäftigte sich das im November 1940 eingerichtete Gettoarchiv. Parallel zu den Sammlungsarbeiten wurden zwei Monographien verfasst. Sie thematisierten sowohl die ganze Geschichte des Gettos als auch einzelne Lebensbereiche im jüdischen Wohnviertel. Die erste mit dem Titel "Historia getta Litzmannstadt. Z miasta do getta"/Geschichte des Gettos Litzmannstadt. Aus der Stadt ins Getto/umfasst die Geschichte der Lodzer Juden vom September 1939 bis Ende Mai 1940, die zweite in deutscher Sprache "Das Getto in Litzmannstadt" beinhaltet die Geschichte vom Mai 1940 bis Ende 1940. Der Wert der beiden Monographien wird dadurch erhöht, dass dort Dokumente aus der frühen Phase der Besatzung in Lodz, die nicht erhalten geblieben sind, in extenso zitiert werden.

In der Druckerei des Gettos

In der Druckerei des Gettos


Das Archiv im Getto stellte auch Materialien zu solchen Bereichen wie Lebensmittelversorgung, soziale Fürsorge, Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsstatistiken zusammen. Gesammelt wurden auch Verordnungen, Erlasse, Bekanntmachungen und Reden des Ältesten der Juden. Wichtiges Material vor allem über die Arbeit der Gettobewohner sind Fotoalben und Beschreibungen der einzelnen Betriebe, Abteilungen, Werkstätten und derer Produktion. Im Gettoarchiv ist eine Sammlung entstanden, die aus den Dokumenten der aus Westeuropa deportierten Juden bestand. Sie umfasst etwa 2370 Einheiten. Es sind Briefe, Personalausweise, Pässe, Meldekarten.

Im Bestand "Der Älteste der Juden" gibt es auch Dokumente aus der Statistischen Abteilung, die aus zahlreichen Tabellen, Graphiken und Diagrammen bestehen. Sie zeigen auch die Tätigkeit in den einzelnen Betriebe und ihre Produktion, Lebensmittelversorgung, Sterbefälle, Geburten, Ein- und Ausweisungen. Die erhaltenen Dokumente aus vielen Abteilungen, wie z.B. der Gesundheitsabteilung, der Abteilung für Approvisation, also für Lebensmittelzuteilung, der Schulabteilung, dem Ordnungsdienst und dem Kulturhaus etc., geben Einblick in verschiedene Aspekte des Lebens und Sterbens im Getto.


Bestand "Deutsche Gettoverwaltung"

Von großer Bedeutung für die Erforschung der Problematik des Gettos und besonders seiner Ausbeutung, Warenproduktion und Einnahmen aus dem Verkauf ist der zweite Bestand "Deutsche Gettoverwaltung", der 2190 Mappen umfasst. In diesem Bestand gibt es auch eine Dokumentation der Produktion der einzelnen Betriebe mit monatlichen Gehaltslisten der Arbeiter, Bestellungen von Militärbehörden und Privatfirmen aus dem Reich, Korrespondenz der deutschen Gettoverwaltung mit staatlichen Ämtern, polizeilichen und militärischen Stellen. Auch in der allgemeinen Verwaltung der deutschen Stadtverwaltung Litzmannstadt gibt es eine Sammlung von Berichten und Protokollen von Konferenzen über das Getto Litzmannstadt. Die Bestände der Gesundheitsabteilung der deutschen Verwaltung der Stadt enthalten Informationen, vor allem über die Sterblichkeit und die Krankheiten der Gettobevölkerung. Zum Teil sind auch Dokumente der Polizeibehörden erhalten. Die Tages-, Wochen- und Monatsberichte enthalten Informationen über Sterblichkeit, Selbstmorde, Erschießungen, Hinrichtungen, Verhaftungen und Urteile des Gerichts des Ältesten der Juden.

Deutsch-jiddische Bekanntmachung einer Hinrichtung im Getto
Deutsch-jiddische Bekanntmachung einer Hinrichtung im Getto


Einen weiteren, wichtigen Bestand bilden Dokumente des "Chefs der Zivilverwaltung bei dem Oberkommando der 8. Armee". In dieser Sammlung gibt es Verordnungen für die polnische und jüdische Bevölkerung aus der ersten Phase der deutschen Besatzung der Stadt.


Texte im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts

Ein Teil der von Nachman Zonabend aus dem Lodzer Getto geretteten Dokumente befindet sich bis heute im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts unter der Signatur "Lodzer Getto". Diese Sammlung ist wesentlich kleiner als die Lodzer Bestände und nicht einheitlich. In diesem Bestand haben gerade in diesen Tagen zwei Mitarbeiter des polnischen Editions-Teams der "Chronik des Lodzer Gettos", Ewa Wiatr und Jacek Walicki, ein weiteres Konvolut mit ca. 300 Seiten Chroniktexten aus dem Getto gefunden. Die Sammlung wird im Moment konserviert. Es handelt sich hier aber um eine weitere Kopie aus dem Getto, die in die deutsche Edition der Chronik aus dem Jahre 2007 bereits Eingang gefunden hat. Im Bestand "Literarische Texte" aus dem Warschauer Archiv gibt es neben den Texten aus anderen Gettos in Polen auch Texte, vor allem Gedichte, aus Lodz.


Pressetexte und Tagebücher

Eine wichtige Quelle zur Erforschung des Gettos ist auch die fast komplett erhaltene Presse. Die "Lodzer Zeitung" und nach ihrer Umbenennung die "Litzannstädter Zeitung" veröffentlichte vor der Einrichtung des Gettos alle Verordnungen gegen die jüdische Bevölkerung, brachte Mitteilungen über Urteile gegen die Juden, Informationen über Maßnahmen gegen sie, über Verbrennung von Synagogen etc. In der Presse wurden auch Polizeiverordnungen über die Einrichtung des Gettos und Umsiedlungen ins Wohngebiet der Juden veröffentlicht.

Auch die im Getto verfassten Tagebücher, u.a. von Dawid Sierakowiak, Jakub Poznanski, Szlomo Frank, Józef Zelkowicz, Szmul Rozensztajn, Irene Libman und anderen, die ein subjektives und fragmentarisches Bild der Gettowirklichkeit darstellen, ergänzen die Dokumente und bereichern diese um Inhalte, die in keinem Dokument zu finden sind. Einen besonderen Stellenwert unter allen diesen Materialien hat die "Chronik des Lodzer Gettos", auf die im weiteren noch genauer eingegangen wird.


Kinder nähen Mützen für die deutsche Wehrmacht


Forschungsarbeiten und Publikationen

Wenn man die der Forschung, die dem Warschauer Getto gewidmet wird, mit der vergleicht, die das Lodzer Getto zum Gegenstand ihrer Untersuchungen hat, bemerkt man eine deutliche Disproportion zugunsten des Warschauer Gettos. Obwohl das Staatsarchiv in Lodz über eine umfangreiche Dokumentation des Lebens und Sterbens der Gettobevölkerung verfügt, wurde dieses Material nur in einem sehr bescheidenen Umfang herausgegeben. Ebenso fand das Lodzer Getto viele Jahre lang wenig Beachtung unter den Forschern. Lange Zeit war es ein Tabu-Thema, was damit zu begründen ist, dass sich die Lodzer Juden, anders als die Juden in Warschau oder Bialystok, nicht gegen die Nazis erhoben. Die Forscher schenkten ihre Aufmerksamkeit vor allem dem jüdischen Widerstand oder dem Massensterben des jüdischen Volkes. Sie interessierten sich kaum für den Alltag und die Lebensbedingungen in geschlossenen Wohnvierteln der Juden. Der Tod, vor allem der heroische Tod, war viel interessanter als das grausame Leben und langsame Sterben hinter Stacheldraht und Zäunen. Das Lodzer Getto passte nicht zu dem Opfermythos, der im kommunistischen Polen verbreitet wurde. Überdies galt das "Wohngebiet der Juden" als Beispiel für die Kollaboration des Judenrates mit den Besatzern. Die Politik des Judenältesten Chaim Mordechaj Rumkowski wurde eindeutig negativ bewertet. Wie kompliziert das Problem der Zusammenarbeit der Judenräte mit den Nazis war, zeigte auch die vom YIVO-Institut in New York im Dezember 1967 organisierte Tagung. Dies alles waren Gründe dafür, dass sich das Lodzer Getto im Schatten des Warschauer Gettos befand und wenig Beachtung in der Forschung fand.

'Kindererholungsheim' des Ältesten der Juden im Getto

"Kindererholungsheim" des Ältesten der Juden im Getto


Die Überlebenden wollten aber das Leben von etwa 200.000 Menschen nicht aus dem kollektiven Gedächtnis auslöschen. Zum ersten Jahrestag der Befreiung von Lodz traf sich auf Initiative der "Gesellschaft für Freunde der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission" eine Gruppe von Überlebenden des Lodzer Gettos und beschloss das Material aus der Zeit der Nazi-Besatzung herauszugeben. Artur Eisenbach veröffentlichte im Jahre 1946 Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Besatzung in Polen. Der dritte Band dieser Edition enthält Dokumente aus dem Lodzer Getto, die sich u.a. auf die Einrichtung des Gettos, seine Ausbeutung und Schließung beziehen. Sie wurden in der Originalsprache, d.h. in deutscher Sprache der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Mitglieder der bereits 1944 gegründeten Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, deren erster Sitz in Lodz in der ul. Narutowicza 25 war, gaben weiteres Quellenmaterial heraus. Im Jahre 1946 erschienen die Gedichte und Briefe eines der bedeutendsten Dichter des Gettos, der in Auschwitz ermordet wurde, Simcha Bunem Szajewicz, mit dem Vorwort des Herausgebers Nachman Blumental. Diese Veröffentlichung war in der Originalsprache: in Jiddisch. Die Hauptkommission zur Aufdeckung der Nazi-Verbrechen in Polen, Kreisstelle in Lodz, leitete nach dem Kriege die Fahndung gegen den Henker des Gettos Hans Biebow und sammelte eine umfangreiche Dokumentation über den Leiter der deutschen Gettoverwaltung und über das Vernichtungslager Kulmhof. Diese Dokumentation wurde vor allem im Prozess gegen Biebow von Richtern und Staatsanwälten benutzt, jedoch nicht durch Historiker ausgewertet. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde die Tätigkeit der Kommission "bewusst eingeschränkt", wie es im "Bulletin der Zentralen Jüdischen Kommission zur Aufdeckung der Nazi-Verbrechen" aus dem Jahre 1993 heißt. Man merkt, dass die Auseinandersetzung mit der Gettoproblematik sehr spärlich war, doch in sehr bescheidenem Ausmaß war sie stets vorhanden. So erschien z.B. im Jahre 1946 der erste Beitrag über Kulmhof, dessen Autor Wladyslaw Bednarz war.

Titelseite Litzmannstädter Zeitung

Im Jahre 1984, zum vierzigsten Jahrestag der Auflösung des Gettos, organisierte die Kommission eine Tagung in Lodz, die als "Einführung und Ausgangspunkt für weitere Recherchen über das Lodzer Getto" konzipiert wurde. Die Organisatoren setzten sich zum Ziel, die Wissenschaftler in Lodz zu aktivieren und zur Arbeit an der Erforschung der Gettoproblematik zu motivieren. Ein weiteres Ziel war eine Bestimmung des Forschungsstandes und der Forschungsperspektiven. Während der Diskussion kam es zur Auseinandersetzung über die Rolle des Ältesten der Juden, Chaim Mordechaj Rumkowski, im Getto. Der Tagungsband wurde erst 1988 veröffentlicht.

Im Jahre 1984 wurde eine Forschungsgruppe zur Erforschung der Vernichtung der Juden im Warthegau einberufen. Sie arbeitete bei der Kreiskommission zur Aufdeckung der Nazi-Verbrechen und wurde von Professor Jan Fijalek geleitet. Die erste Monographie über das Lodzer Getto stammt aus der Feder von Icchak Rubin. Der Autor schrieb und verteidigte erfolgreich seine Dissertation über die Lodzer Juden unter der Nazi-Besatzung. Die in der Arbeit enthaltenen kontroversen Thesen über Rumkowskis positive Rolle im Getto stießen bei anderen Forschern auf Ablehnung. Einige aber betonten auch den großen wissenschaftlichen Wert und die umfangreichen Recherchen, die der Autor in den Archiven durchgeführt hatte. Rubins Arbeit erschien erst 1988 in London in Buchform.


Die politische Wende von 1989

Eine wichtige Zäsur auch in den Forschungen über das Lodzer Getto bildet das Jahr 1989. Nach der politischen Wende kam es zum Paradigmenwechsel vom Nationalstaat bis hin zum multikulturellen Staat. Dieser Wechsel hat sich auch in Lodz vollzogen: Die Stadt besann sich auf ihre einst multikulturelle Vergangenheit. Polnische, deutsche, russische und jüdische Identitäten wurden zum Aushängeschild von Lodz. Es wurden vielfältige Initiativen entwickelt, wie etwa das "Festival der vier Kulturen". Auch die Forschungsarbeiten über das Lodzer Getto wurden intensiviert. Das Ergebnis sind verschiedene Abhandlungen, die ansatzweise diese Problematik ansprechen. An dieser Stelle sind die Arbeiten von S. Liszewski, W. Pus, J. Baranowski, P. Samus, A. Kuligowska-Korzeniowska, M. Leyko, A. Galinski, J. Wróbel, F. Tych, S. Abramowicz, L. Olejnik, J. Podolska, K. Radziszewska, M. Budziarek und andere zu nennen.


"Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt"

Einen außerordentlich hohen Wert für die Forschungen über das Lodzer Gettos stellt die vom 12. Januar 1941 bis zum 31. August 1944 fast täglich geführte Getto-Chronik dar. Ihre Bedeutung unterstrichen im Vorwort Danuta Dabrowska und Lucjan Dobroszycki, die 1965 den ersten Band dieser "Schatzgrube für künftige Gelehrte" im "Lodzer Verlag" herausgaben. Lucjan Dobroszycki - selbst ein Überlebender des Gettos - war Mitarbeiter des Historischen Instituts der Polnischen Akademie der Wissenschaften /PAN/ in Warschau. Sein Forschungsschwerpunkt war die legale und die illegale Presse im besetzten Polen während des Zweiten Weltkrieges. Danuta Dabrowska war Mitarbeiterin des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. Sie bezeichneten die "Chronik des Lodzer Gettos" als "unschätzbare Quelle von Informationen, die ihresgleichen im Schrifttum über das Lodzer Getto sucht".

In dieser Chronik, wie in keiner anderen Quelle dieser Art "stützen sich die dargestellten Fakten und Ereignisse auf Informationen aus erster Hand oder auf Dokumente, die der Öffentlichkeit damals nicht bekannt waren". Dies ergab sich daraus, dass die Chronik in einer Institution verfasst wurde, die Zugang zu fast der ganzen Dokumentation des Gettos hatte. Fast vier Jahre lang wurden im Archiv des Gettos Bekanntmachungen und Verordnungen der Gettoverwaltung, Rundbriefe und Reden des Judenältesten, die Korrespondenz der einzelnen Stellen des Judenrates, verschiedene amtliche Drucke und Kopien von Materialien, Embleme und ikonographische Dokumentationen gesammelt.

Dem Vorwort der Ausgabe ist zu entnehmen, dass die Chronik vollständig herausgegeben werden sollte. Laut Danuta Dabrowska umfasst die Edition "alle Bulletins der Tageschronik in polnischer Sprache und alle Tageschroniken in deutscher Sprache mit Anhängen und Sonderbulletins". Dem ersten Band sollten die weiteren folgen. Der zweite Band erschien im Jahre 1966. Im Archiv des "Lodzer Verlags" befindet sich eine Kopie des Antrags, der als Anlage zur Verordnung Nr. 10 des Kultusministers vom 19. September 1959 angefertigt wurde. Es ist ein Antrag auf "Buchung als Verlust und Aufgabe der Edition des dritten und vierten Bandes der "Chronik des Lodzer Gettos". Aus dem Antrag ist ersichtlich, dass die Typoskripte bereits eingereicht waren. Der dritte Band sollte im Jahre 1968 und der vierte 1969 erscheinen. In der lakonischen Begründung des Antrags ist zu lesen: "'Die Chronik des Lodzer Gettos' ist als Dokument, das aus dem Kontext der Okkupationsereignisse herausgerissen ist, nicht geeignet, um in Buchform herausgegeben zu werden". Diese Entscheidung, die eine politische Entscheidung war, ist aus dem Kontext der antisemitischen März-Ereignisse von 1968 zu verstehen.

Die Unruhen im März 1968 begannen mit Protesten gegen die Absetzung des Stückes "Dziady" /Totenfeier/ im Nationaltheater in Warschau. Viele Demonstranten, die auch Kultur ohne Zensur, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit forderten, wurden festgenommen. Zwei von ihnen, Adam Michnik und Henryk Szlajfer, wurden von der Universität verwiesen. Die Partei hob die jüdische Herkunft der Anführer hervor und nutzte dies für Säuberungen in den eigenen Reihen. Es wurde eine antisemitische Hetze entfesselt, in deren Folge fast 20.000 Menschen jüdischer Abstammung Polen verließen, u.a. auch prominente Wissenschaftler und Künstler. Infolge der Märzereignisse wurde die Zensur noch verstärkt, Bücher jüdischer Autoren oder solche, die der jüdischen Problematik gewidmet waren, wurden nicht herausgegeben.

Kinderarbeit im Getto

Kinderarbeit im Getto


Auch im "Lodzer Verlag" ist es zu Säuberungen gekommen. Der Sicherheitsdienst machte eine Analyse der Verlagstätigkeit, aus der sich ergab, dass der Verlag "zu einer Tribüne für anti nationale Autoren wurde, die sich für die Umsetzung der Richtlinien der Partei nicht engagierten". Dem Verlag wurde auch vorgeworfen, dass er "zuviel Geld für Veröffentlichungen über die jüdische und zu wenig über regionale Problematik ausgab". Der damalige Direktor des Verlags, Aleksander Postolow, war jüdischer Abstammung. Er gab Erinnerungen der Juden aus dem Getto heraus, u.a. das Tagebuch von Jakub Poznanski, oder von Menschen, die während des Krieges in einem Versteck lebten. Im Jahre 1968 wurde Direktor Postolow aus dem Verlag entlassen. Sein größtes Vorhaben - "Die Chronik des Lodzer Gettos" - wurde vernichtet und aus den Bibliotheken entfernt. Lucjan Dobroszycki, der seit 1965 vom Sicherheitsdienst wegen seiner Kontakte mit der Botschaft von Israel beobachtet wurde und 1968 einen Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei unterzeichnete, verließ 1969 Polen in Richtung New York. Danuta Dabrowska emigrierte nach Israel.


Vollständige Edition der Chronik

Die Initiative zur Wiederaufnahme der Arbeit an der vollständigen Edition der Chronik kam von Sascha Feuchert von der Lodzer Partneruniversität in Gießen (siehe Artikel Seite 36 ff.). Die Wege zu diesen Arbeiten wurden bereits durch Projekte, die seit 1987 bei der Lodzer Germanistik durchgeführt wurden, gebahnt. Studierende der Germanistik setzten sich unter der Leitung von Krystyna Radziszewska mit der Geschichte der multikulturellen Stadt Lodz auseinander. Fünf zweisprachige Bücher über Polen, Deutsche und Juden wurden herausgegeben und eine Ausstellung über diese Problematik vorbereitet. Die Mitarbeiter des Lehrstuhls für Sprachwissenschaft erforschten in Zusammenarbeit mit den Gießener Kollegen die deutschsprachige Presse in Lodz.

Das polnische Herausgeber-Team besteht aus dem Archivar und ausgezeichneten Kenner des Lodzer Gettos Julian Baranowski, den Historikern Jacek Walicki, Leiter des Zentrums für jüdische Forschung, der die Geschichte der polnischen Juden im 19. und 20. Jahrhundert untersucht, und Ewa Wiatr, Mitarbeiterin des Zentrums, der Germanistin Krystyna Radziszewska, die sich mit den regionalen Identitäten von Lodz und Umgebung und der Literatur aus dem Lodzer Getto beschäftigt, und der Journalistin Joanna Podolska, die sich bei der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" ebenfalls mit der Geschichte von Lodz befasst.

Die Edition der Chronik, vor allem in polnischer Sprache, ist von großer Bedeutung für die polnische Wissenschaft. Im Institut für Germanistik der Universität Lodz werden bereits zahlreiche Magisterarbeiten geschrieben, die diese "Schatzgrube" unter verschiedenen Aspekten auswerten. Es ist auch eine unschätzbare Quelle für historische, kulturwissenschaftliche, soziologische und philologische Forschungen. Das Anliegen der Chronisten, die "in aller Stille das Material für die künftige Schilderung/Geschichte des Gettos sammel[te]n und selbst entsprechende Aufzeichnungen mach[t]en" erfüllt sich allmählich - nach über sechzig Jahren.


Dr. Krystyna Radziszewska
Lehrstuhl für Kultur und Literatur
Deutschlands, Österreichs und der Schweiz
Ul. Sienkiewicza 21
91-114 Lodz/Polen
E-Mail: krystynarad@tlen.pl

Krystyna Radziszewska ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultur und Literatur Österreichs, Deutschlands und der Schweiz an der Universität Lodz/Polen. Dort hat sie Germanistik studiert und im Jahre 1991 ihre Dissertation über den Einfluss der Philosophie des Dialogs und des Chassidismus von Martin Buber auf die deutschsprachige Literatur verteidigt. Ihr wissenschaftlicher Forschungsschwerpunkt sind regionale Identitäten. Diese Problematik behandelt sie auch in projektorientierten Seminaren mit den Studierenden. Als Ergebnis sind fünf zweisprachige Bücher über die polnische, deutsche und jüdische Vergangenheit von Lodz entstanden. In den letzten Jahren befasst sie sich vor allem mit der Edition der Texte aus dem Lodzer Getto. Sie untersucht auch das kulturelle Leben und die Dichtung hinter dem Stacheldraht.


Alle Abbildungen: Copyright Staatsarchiv Lodz
mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Lodz
Erstveröffentlicht in: "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt",
herausgegeben von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Institut der polnischen Partneruniversität Lodz und dem Staatsarchiv Lodz.


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008, 25. Jahrgang, S. 16 - 23
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Pressestelle der JLU Gießen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 03. April 2009