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FORSCHUNG/115: Das Getto Lodz/Litzmannstadt in der westlichen Forschung (Spiegel der Forschung - Uni Gießen)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008 Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Das Getto Lodz/Litzmannstadt in der westlichen Forschung
Ein kurzer Überblick

Von Andrea Löw


Lange Zeit stand die Beschäftigung mit dem Getto Lodz/Litzmannstadt stark im Schatten der Untersuchungen über das Warschauer Getto. Zu heikel erschien die Beschäftigung mit dem umstrittenen Judenältesten Mordechaj Chaim Rumkowski, zudem fehlten in Lodz - die Nazis hatten die Stadt im April 1940 in Litzmannstadt umbenannt - die großen Widerstandshandlungen, über die man hätte schreiben können. Gleichzeitig gibt es aber kein zweites Getto, aus dem ein derart umfangreicher Quellenkorpus überliefert ist wie das in Litzmannstadt. Gerade in Deutschland stand allerdings eine Sprachbarriere der Auseinandersetzung mit diesen Dokumenten entgegen, sind doch zahlreiche Selbstzeugnisse in polnischer oder jiddischer Sprache verfasst. Umso wichtiger sind Krystyna Radziszewskas Hinweise auf die polnischen Vorarbeiten in diesem Heft (siehe Artikel auf Seite 16 ff.).


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So stammen auch zwei der frühesten Untersuchungen über das Getto Lodz von Autoren, die selbst Jiddisch schrieben; und ihre Studien wurden in der deutschen Historiographie kaum zur Kenntnis genommen: die Werke von Wolf Jasni und Isaiah Trunk. Jasnis Arbeit erschien in zwei Bänden, der Autor hatte nach eigenen Angaben nicht den Anspruch, eine "streng-wissenschaftliche" Arbeit vorzulegen, sondern er wollte eine "populäre" historische Arbeit schreiben. Doch wertet er eine Vielzahl von Dokumenten aus; entstanden ist so eine sehr detaillierte, beeindruckende Untersuchung. Trunks "historishe und sotsiologishe shtudie", wie es im Untertitel heißt, liegt seit dem letzten Jahr endlich in einer englischen Übersetzung vor. Für die Übertragung und die überaus sorgfältige Kommentierung zeichnet Robert Moses Shapiro (New York) verantwortlich, mit dem die Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Universität Gießen in engem Kontakt steht.

Lucjan Dobroszycki hat seiner gekürzten englischen Edition der Getto-Chronik 1984 eine umfassende Einleitung vorangestellt. Zu einer Ausstellung in Yad Vashem in Jerusalem erschien 1995 ein von Michal Unger herausgegebener Katalog mit Texten und Dokumenten über das Leben im Getto Litzmannstadt. Unger hat zudem eine detaillierte Doktorarbeit über das Getto verfasst, die bisher zwar nur im hebräischen Original vorliegt, an einer Übersetzung ins Englische wird aber derzeit gearbeitet. Über die in das Getto Litzmannstadt deportierten so genannten Westjuden hat neben Danuta Dabrowska auch der ebenfalls in Israel lebende Avraham Barkai geforscht. Geburtsort von Dabrowska und Barkai ist Berlin.

Juden schleppen Gepäck

In Deutschland war bereits 1962 eine knappe Darstellung des Gettos Litzmannstadt von dem polnischen Holocaust-Überlebenden Josef Wulf erschienen. Danach folgte lange nichts bzw. war das Getto Litzmannstadt nur ein Teilaspekt in Arbeiten, die auf andere Themen fokussiert waren. 1964 erschien Adolf Diamants "Getto Litzmannstadt. Bilanz eines nationalsozialistischen Verbrechens. Mit Deportations- und Totenlisten der aus dem Altreich stammenden Juden." Diamant selbst, in Chemnitz geboren, hatte das Getto Litzmannstadt überlebt, seine Eltern wurden im Sommer 1944 in Auschwitz ermordet. War das Getto Litzmannstadt demnach nur für die Überlebenden interessant?

Mitnichten: In den letzten Jahren hat sich zunehmend auch die deutsche Forschung - und hier nicht nur Historiker - für die Geschichte dieses Gettos interessiert. Gewissermaßen ein Ausgangspunkt war im Jahre 1990 eine Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt/Main, in deren Zuge ein Katalog über dieses Getto mit wissenschaftlichen Aufsätzen unter anderem von Wolfgang Scheffler und den österreichischen Historikern Florian Freund, Bertrand Perz sowie Karl Stuhlpfarrer erschien, ebenso ein Sammelband, der - ausgehend von Rumkowskis handlungsleitender Maxime "Unser einziger Weg ist Arbeit" - Handlungsmöglichkeiten und -weisen von Juden hinterfragte.

Der Berliner Historiker Peter Klein arbeitet seit Jahren zur deutschen Verwaltung in Litzmannstadt, seine Untersuchung der "Gettoverwaltung" wird in diesem Jahr erscheinen. Ebenfalls die deutsche Politik hatte zuvor bereits ein anderer deutscher Forscher in den Blick genommen: Eine Synthese der Judenverfolgung und der Genese der "Endlösung" im "Reichsgau Wartheland", zu dem Litzmanstadt ja gehörte, hat Michael Alberti im Jahre 2006 vorgelegt. Alberti, der auch die polnische Literatur auswertet, zeigt in seiner Untersuchung die zentrale Rolle des Reichsgaues Wartheland mit Gauleiter Arthur Greiser an der Spitze für die Erforschung der Judenvernichtung. Er untersucht die Akteure und ihre jeweilige Rolle bei der Ingangsetzung und Durchführung des Massenmordes und stellt die Bedeutung des systematischen Arbeitseinsatzes der jüdischen Bevölkerung in Gettos und Zwangsarbeitslagern und besonders im Getto Litzmannstadt für die Kriegswirtschaft dar. Alberti analysiert umfassend die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland "aus der Täterperspektive heraus".

Einen anderen Zugang hat die Verfasserin dieses Artikels gewählt. Ausgehend von der Frage, wie Juden im Getto ihre Situation analysierten und welche Handlungsoptionen sie daraus ableiteten, habe ich anhand ihrer Quellen den Versuch unternommen, die Perspektive von Juden im Getto in die Geschichtsschreibung einzubeziehen. "Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten" ist 2006 in der "Schriftenreihe zur Lodzer Gettochronik" erschienen, denn zu dieser Zeit durfte ich bereits an der Edition der "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt" mitarbeiten. Die Vorgeschichte dieses Projekts soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Für die Erforschung des Gettos Lodz sind die auch im Vorfeld der Edition geleisteten Arbeiten wegweisend gewesen. Sascha Feuchert hat 2004 eine beeindruckende literaturwissenschaftliche Untersuchung der Texte von Oskar Rosenfeld und Oskar Singer, zwei der Hauptautoren der Chronik, vorgelegt (siehe auch Spiegel der Forschung 1-2002, Seite 76 ff.). Die Arbeitsstelle Holocaustliteratur veröffentlichte im selben Jahr die Reportagen und Essays von Oskar Singer und machte sie damit erstmals vollständig in ihrer Originalsprache einem breiten Publikum zugänglich. Auszüge waren zuvor in dem genannten Frankfurter Ausstellungskatalog erschienen.

Nun liegt also die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt in fünf Bänden vor. Wenn die polnische Ausgabe unserer Partner in Lodz komplett veröffentlicht ist, liegt damit einer der wohl wichtigsten Texte, den Juden in einem Getto verfasst haben, endlich vollständig vor, in jenen Sprachen, in denen die Einträge ursprünglich verfasst wurden. Ein gigantischer Quellenkorpus, der sicherlich neue Forschungen zum Getto Lodz anregen und ermöglichen wird.


Dr. Andrea Löw war von 2004-2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und ist inzwischen am Institut für Zeitgeschichte, München, tätig.


Alle Abbildungen: Copyright Staatsarchiv Lodz
mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Lodz
Erstveröffentlicht in: "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt",
herausgegeben von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Institut der polnischen Partneruniversität Lodz und dem Staatsarchiv Lodz.


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008, 25. Jahrgang, S. 24 - 25
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 03. April 2009