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FORSCHUNG/136: "Corporate Design" im Mittelalter? (Spiegel der Forschung)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juni 2010 Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Giessen


"Corporate Design" im Mittelalter?
Ein Forschungsprojekt zu den Siegelbildern sozialer Gruppen im spätmittelalterlichen Westeuropa

Von Markus Späth


Für Korporationen jeglicher Art - seien es private Firmen oder öffentliche Institutionen - ist es heute selbstverständlich, ein Logo zu führen. Es dient dazu, die spezifische Identität der Gruppe in visuelle Strukturen zu übersetzen, um diese der Umwelt gegenüber vermittelbar zu machen. Doch was sind Bilder eigener identität aus historischer Perspektive? Die Untersuchung der Bildkultur mittelalterlicher Korporationssiegel in ihren vielfältigen Aspekten der Bildfindung, der Medialisierung und der Verbreitung steht im Mittelpunkt des Forschungsprojekts Identitätsstiftung und Repräsentation. Korporative Siegelbilder im Spätmittelalter am Institut für Kunstgeschichte. Es wird im Rahmen eines fünfjährigen Dilthey-Fellowships durch die Volkswagen-Stiftung finanziert, die damit neue Wege in der Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses geht.


Identität meint kulturelle Muster des Denkens, Handelns oder Darstellens, in denen eine Gruppe sich mit sich selbst in Übereinstimmung wähnt und sich dadurch zugleich von der Umwelt als einzigartig abgrenzt. Logos, wie auch das unserer Universität, sind typische Beispiele für solche identitätsstiftenden Bilder (Abb. 1 in der Printausgabe).

Das Logo der Universität Gießen zeigt das Wappen des vormaligen Grünberger Antoniterkonvents mit dem hellblauen T-Kreuz auf silbernem Grund. Die Universität führte es seit dem 18. Jahrhundert, da sie bei ihrer Gründung 1607 mit dem Besitz des in der Reformation aufgelösten Klosters ausgestattet worden war. Vervollständigt wird es durch den Schriftzug JUSTUS-LIEBIG-UNIVERSITÄT GIESSEN im serifenfreien Schrifttyp Arial, der mit seinem dezidiert modernen Erscheinungsbild im Kontrast zur deutlich vormodern konnotierten Bildlichkeit des Wappens steht. Wird damit eine Identität der Hochschule konstruiert, die sich im Spannungsfeld zwischen einer langen, mehr als vierhundertjährigen Geschichte einerseits und dem Anspruch einer modernen, für Veränderungen offenen Institution andererseits sieht?

Der Blick auf Logos anderer Universitäten legt dies nah. So zeichnen sich diejenigen von Reformuniversitäten, die in den 1960er und 1970er Jahren gegründet wurden, vielfach durch eine abstrahierende Bildlichkeit aus. Doch das Beispiel des Bielefelder Universitätslogos zeigt, dass man trotz Abstraktion nicht auf Figuration verzichtete (Abb. 2 in der Printausgabe): Die beiden dunkelgrünen Rechtecke sind so ineinander verschränkt, dass sie eine deutliche Ähnlichkeit mit dem Grundriss des zentralen Campusgebäudes aufweisen und somit für die Mitglieder identitätsstiftend wirken.


Die Wahl des Logos erhitzt nicht selten die Gemüter

Traditionsreiche Hochschulen nutzen wiederum dezidiert anachronistische Formen von Bildlichkeit aus ihrer Gründungszeit, um Kontinuität als einen zentralen Aspekt ihrer Identität zu demonstrieren. Die wieder nach ihrem Gründer, dem hessischen Landgrafen Philipp des Gutmütigen, benannte Marburger Universität präsentiert sich seit 1996 mit einem Logo, das im wesentlichen aus einem frühneuzeitlich anmutenden Siegelbild besteht. Es handelt sich dabei um das leicht modifizierte 'Remake' des ursprünglichen Universitätssiegels, in dessen Bildfeld eine Profilansicht Philipps samt der Angabe des Gründungsjahres 1527 von zwei konzentrischen Umschriftenringen gefasst wird. Anlässlich des 475-jährigen Jubiläums der Hochschule sollte dieses Logo gegen den radikalen Neuentwurf einer abstrahierenden Text-Bild-Marke ersetzt werden, bei der die gekerbten geometrischen Formen eines Kreises und Karos zu beiden Seiten eines vertikalen Balkens angeordnet sind. Das Unterfangen scheiterte am massiven Widerstand innerhalb wie außerhalb der Universität, u.a. deshalb, weil hierbei die aus der Tradition gestiftete Identität der Institution nicht angemessen repräsentiert schien. 2007 wurde schließlich eine mit der Gießener Lösung vergleichbare Form gefunden, die Tradition und Innovation miteinander in Einklang bringt: Im aktuellen Logo wird das modifizierte korporative Siegelbild durch einen modernen, serifenfreien Schriftzug eingefasst (Abb. 3 in der Printausgabe).

Die Suche nach dem richtigen Logo für eine Universität ist also kein von der internen wie externen Öffentlichkeit unbeachteter Vorgang, der in den Hinterzimmern von Hochschulleitungen entschieden werden könnte. Es ist vielmehr eine politisch brisante Angelegenheit, welche die Wirkmächtigkeit solcher repräsentativer Zeichen eigener Identität belegt. Die Rolle dieser Zeichenfindung einer Gruppe, die heute unter dem Begriff des Corporate Design firmiert, war in der vormodernen Gesellschaft Europas kaum weniger bedeutend. Dies gilt umso mehr, als dass infolge eines regelrechten 'Booms' an Korporationsbildungen im Hoch- und Spätmittelalter von einer "Gruppengesellschaft" gesprochen werden kann, wie dies der Historiker Otto Gerhard Oexle charakterisiert hat. Diese Gruppen suchten jeweils nach einer eigenständigen Identität, welche sie von allen vergleichbaren Korporationen unterscheidbar machte. Ein zentrales Medium der Repräsentation korporativer Identität stellte das Siegel dar, das in vielfacher Hinsicht als ein Vorläufer des modernen Logos angesehen werden kann. Wie heute das Markenlabel auf einem Kleidungsstück oder das Logo am Kopf eines Hochschulzeugnisses wurde es immer dann an Selbstkundgaben einer Gruppe gehängt, wenn diese der Umwelt als authentisch vermittelt werden sollten.


Erforschung einer wichtigen Bildkultur des Mittelalters

Siegel waren im europäischen Mittelalter ein Instrument zur Beglaubigung von Rechtsdokumenten. Entsprechend mussten sie beliebig oft reproduzierbar sein, weshalb sie mittels eines oder mehrerer Stempel (Typar, Petschaft) in ein weiches Trägermaterial, zumeist Wachs oder Blei, geprägt wurden. Mit jeder Besiegelung einer Urkunde wurde die rechtsstiftende Präsenz ihres Ausstellers über den konkreten Rechtsakt hinaus beim Adressaten erzeugt - nämlich über die Bildlichkeit, aber auch die Medialität und Materialität des dreidimensionalen Siegels. Dementsprechend war der Aspekt der Stellvertreterschaft für das Medium zentral. Bis weit ins Hochmittelalter hinein blieb die Urkundenkommunikation ausschließlich natürlichen Personen vorbehalten. Auf der Oberfläche des Siegels erschien in der Regel das Bildnis seiner Führerin oder seines Führers. Dieses war jedoch nicht von der Individualität der betreffenden Person geprägt, sondern es folgte einem stereotypen Bildformular, das ihren sozialen Status wiederspiegelt. So wurden in vielen Regionen Europas über Jahrhunderte Herzöge und Grafen im Profilbildnis als gerüstete Ritter hoch zu Ross dargestellt (Abb. 4 in der Printausgabe), Äbtissinnen zumeist frontal stehend in ihrem Habit.

Mit der Ausdifferenzierung der sozialen Gruppen seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert entwickelte sich im Rechtsdenken die Konstruktion der juristischen Person. Dadurch konnten Gruppen zu rechtsfähigen Korporationen werden, die selbst Urkunden ausfertigten und dazu nun der Siegel zu deren Beglaubigung bedurften (Abb. 5 in der Printausgabe). Doch welches Bildmotiv konnte eine vielgliedrige und heterogene Korporation wie eine Bürgerschaft in ihrer Identität repräsentieren? Die Darstellung einer ganzen Bürgerschaft auf einem Bildträger, der nur selten mehr als zehn Zentimeter Durchmesser überschritt, war unmöglich. Somit war die Äquivalenz zwischen der natürlichen Rechtsperson und dem sie repräsentierenden Bildnis für die neue Kategorie der Siegel obsolet geworden. Als sich seit Ende des 12. Jahrhunderts die Korporationssiegel in vielen Regionen des lateinischen Europas verbreiteten, vervielfältigte sich auch die Zahl der Bildstrategien. Selbst innerhalb desselben korporativen Milieus eines überschaubaren geographischen Raumes konnte die Gestaltung der Siegelbildmotive zur selben Zeit höchst unterschiedlich ausfallen. In der nordfranzösischen Region Picardie mit ihrem dichten Städtenetz wählte die Kommune der Bischofsstadt Beauvais das Motiv der ummauerten Stadt mit sakraler Architektur darin (Abb. 5 in der Printausgabe), während die Bürgerschaft des benachbarten Bischofssitzes von Soissons einen Ritter mit gezogenem Schwert ins Zentrum stellte, zu dessen Seiten sich jeweils sieben Personen scharen (Abb. 6 in der Printausgabe). Lassen sich in dieser vordergründig Individualität betonenden Bildkultur Grundmuster und übergreifende visuelle Strategien erkennen? Welche der Siegelbildkonventionen der tradierten Personensiegel übernahm man? Welche Motive und Strategien kamen aus anderen künstlerischen Medien der Zeit? Konnten sich bestimmte Bildkonzepte als wirksam durchsetzen und verbreiten? Mit dem Gießener Projekt Identitätsstiftung und Repräsentation. Korporative Siegelbilder im Spätmittelalter wird dieser Problemkomplex erstmals aus kunstgeschichtlicher Perspektive untersucht, nachdem die Kunstwissenschaft bis in die jüngste Vergangenheit wenig Interesse an diesem Bildmedium gezeigt hatte. Die vermeintlich starren Bildkonventionen und ein daraus folgender Mangel an künstlerischer Originalität, die beliebige Reproduzierbarkeit des Bildes und nicht zuletzt dessen pragmatische Nutzung als Rechtsmittel haben wenig mit dem Idealbild des autonomen Kunstwerks gemein, dem sich das Fach lange verpflichtet sah. Seit der Genese der universitären Disziplinen im 19. Jahrhundert waren Siegel daher zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft und der ihr angegliederten Hilfswissenschaft der Sphragistik, also der Siegelkunde, geworden. Umfassende Grundlagenforschung wurde seither geleistet, um das Siegel als zentrale Quelle der Rechts- oder Sozialgeschichte nutzen zu können. Angesichts dieser wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung blieben zentrale, medienspezifische Aspekte unbeachtet, beispielsweise die Frage, welchen Einfluss Materialität und Medialität des dreidimensionalen Mediums auf die Gestaltung des Bildinhalts hatten. Und schließlich stellt das Siegel aufgrund seiner Überlieferung im Zusammenhang von Urkunden eines der am stärksten flächendeckend erhalten gebliebenen Bildmedien des europäischen Mittelalters dar, während von den meisten anderen lediglich geringe Teile des ursprünglichen Bestandes überkommen sind. Dadurch lassen sich die grundlegenden Charakteristika einer ganzen und zudem zentralen Bildkultur dieser Epoche rekonstruieren.

Als Untersuchungsgrundlage dient dem Projekt exemplarisch die reiche Siegelüberlieferung in England und Frankreich während des 13. bis 15. Jahrhunderts, die zudem in einem zweiten Schritt miteinander verglichen werden sollen. Warum gerade ein Vergleich dieser beiden Länder? Während der Norden Frankreichs, wie alle Teile des vormaligen karolingischen Reiches, seit dem Frühmittelalter zur Kernlandschaft des europäischen Siegelwesens gehörte, setzte in England eine vergleichbare Entwicklung erst mit der normannischen Eroberung im Jahr 1066 ein. Da die neuen Eliten des insularen Königreichs hauptsächlich vom französischen Festland stammten, entwickelte sich folglich in den nachfolgenden Jahrhunderten ein intensiver kultureller Austausch über den Ärmelkanal hinweg. Folglich erlauben die blühenden Siegelkulturen beider Reiche für das Hoch- und Spätmittelalter einen differenzierten Vergleich bezüglich gemeinsamer und divergierender Strukturen.

Die im Projekt zu leistende Analyse profitiert zudem von den bis ins Mittelalter zurückreichenden zentralstaatlichen Strukturen des Untersuchungsraumes, die bis in die Wissenschaftskultur im heutigen Vereinigten Königreich und in der Republik Frankreich nachwirken. In den Hauptstädten finden sich gigantische Abgusssammlungen von all den vormodernen Siegeln des jeweiligen Landes, die bei systematischem Suchen in den Archiven beider Länder während des 19. Jahrhunderts entdeckt werden konnten. So kann von den Replikensammlungen der Londoner British Library und der Pariser Archives nationales de France die Recherche zielgerichtet in die einschlägigen Archive der Provinz verlagert werden. Vergleichbare zentralisierte Sammlungen gibt es in Deutschland nur mit der Siegelsammlung Beissel im Historischen Archiv des Erzbistums Köln. Der Jesuit und Gelehrte Stephan Beissel (1841-1915) nahm Abdrücke von etwa 30.000 Siegelstempeln aus dem vormodernen Europa, die uns den Bestand an erhaltenen Typaren vor den Zerstörungen des 1. und 2. Weltkriegs aufzeigen (Abb. 7-10). Doch für den Bereich des vormaligen Römisch-Deutschen Reichs gibt es aufgrund der historischen (Um-)Brüche nicht die gleichmäßig guten Überlieferungsverhältnisse mittelalterlicher Siegelprägungen, die vor allem in Großbritannien herrschen. Dort sind zahlreiche Archive, insbesondere kirchliche, völlig unge- und unzerstört noch an Ort und Stelle, wo sie einstmals im Mittelalter gegründet wurden.


Vielfalt korporativer Identitätskonstruktionen im Spiegel der Siegelbildkultur

In einem ersten Untersuchungsschritt gilt es zu klären, welche zentralen Aspekte korporativer Identität in Siegelbilder übersetzt wurden, damit sich die Mitglieder der siegelführenden Institution darüber repräsentiert sahen. Ähnlich wie bei der Bildfindung für moderne Logos erweisen sich die einschlägigen Aspekte korporativer Identität dabei als vielfältig, so dass die Zahl der Motivlösungen beinahe endlos groß erscheint (Abb. 5 und 6 in der Printausgabe). Jeweils ein Beispiel aus England und Frankreich im 13. Jahrhundert soll dies konkretisieren.

Im Milieu von Religiosengemeinschaften war es geradezu naheliegend, die Person des oder der Patronatsheiligen auf das Siegelbild zu setzen, dem die betreffende Gemeinschaft geweiht war. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts legten sich die Kanoniker des Augustinerpriorats von St. Mary's Southwick in der südenglischen Grafschaft Hampshire ein neues Siegel zu. Sie wählten ein beidseitig geprägtes Siegel - ein so genanntes Münzsiegel - von 72 Millimetern Durchmesser (Abb. 7 und 8 in der Printausgabe) und platzierten auf der Vorderseite das Bild ihrer Patronin Maria. Dort (Abb. 7 in der Printausgabe) erscheint sie thronend im Ornat einer Königin als Typus der Maria lactans, der das Christuskind stillenden Mutter. Dabei wird sie von der weiten Bogenöffnung einer reichen Kirchenarchitektur gerahmt, in deren flankierenden Baugliedern sich auf zwei Etagen Fenster öffnen, aus denen jeweils ein menschliches Haupt herausschaut. Die beiden Köpfe der unteren Etage, die ihren Blick auf die stillende Maria richten, weisen eine für Kanoniker typische Tonsur auf, so dass in ihnen Mitglieder der örtlichen Gemeinschaft erkannt werden können. Die Konstruktion einer auf dem Patronat Mariens fußenden Identität in Southwick war jedoch differenzierter, wie die Rückseite des Siegels belegt (Abb. 8 in der Printausgabe). Auch dort ist das Bildfeld durch eine gotische Kirchenarchitektur geprägt, in deren Tür- und Fensteröffnungen reichlich Bildpersonal erscheint. Durch das zentrale Doppelportal öffnet sich der Blick auf die biblische Geschichte der Verkündigung von Jesu Geburt an Maria durch den Erzengel Gabriel. Im großen Vielpassfenster darüber zeigt sich Christus im Typus des vom Tod auferstandenen Triumphators. Damit wird der Prolog und der Epilog von Marias Rolle als Gottesmutter erzählt und dies nicht nur zu illustrativen Zwecken: In der Liturgie - und damit einem wichtigen Aspekt der Identität einer Priestergemeinschaft - von Southwick spielte das Verkündigungsfest eine zentrale Rolle.

Auch wenn einige Kommunen das Motiv des Stadtpatrons auf ihrem Siegel führten (Abb. 9 in der Printausgabe), waren die Identitätskonstruktionen städtischer Bürgerschaften und entsprechend deren Siegelbildmotive wesentlich vielfältiger. In weiten Teilen des lateinischen Europas dominierte das Bild einer durch Mauern und Tore umwehrten Stadt, aus der Kreuze, Kuppeln und andere sakrale Baustrukturen hervorragen (Abb. 5 in der Printausgabe). Manchmal lieferten diese Bilder erkennbare Referenzen auf reale Gebäude, aber die im modernen Sinn 'porträthafte' Darstellung der betreffenden Stadt war im Mittelalter nicht das zentrale Anliegen. Vielmehr sollten solche Siegelbilder sowohl die Wehrhaftigkeit der Kommune als auch eine sakrale Konnotation des Gemeinwesens ausdrücken, welche auf der Vorstellung des Himmlischen Jerusalems als Idealstadt der Endzeit basierte. Die Identität einer mittelalterlichen Kommune gründete dabei jedoch weniger auf der Herrschaft über das ummauerte Gebiet, als vielmehr auf dem gegenseitigen Treueschwur ihrer Bewohner und der daraus resultierenden partizipativen Selbstverwaltung.

In Frankreich finden sich seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert eine Reihe von Stadtsiegeln, die diesen Aspekt in prägnante Bilder übersetzten, wie beispielsweise dasjenige der Kommune der nordfranzösischen Stadt Soissons (Abb. 6 in der Printaugabe): Im Zentrum des Bildfeldes des im Jahr 1228 erstmals belegten Siegels von 90 Millimeter Durchmesser steht ein Ritter, der durch Kettenhemd, Nasenhelm und Langschild geschützt ist, während er in seiner rechten Hand ein gezogenes Schwert hält. Er wird zu beiden Seiten von jeweils sieben, dicht gedrängt stehenden Personen flankiert. Sie sind - sofern erkennbar - nicht zum Kampf gerüstet, sondern erscheinen in ziviler Kleidung, teils auch mit Kopfbedeckungen. Unterschiede ergeben sich jedoch in der Physiognomie sowie in dem Umstand, dass einige einen Bart tragen und andere nicht. Bereits die bisherige Forschung hat mit guten Gründen vermutet, dass in der Figur des Ritters der Bürgermeister zu erkennen ist, welcher zugleich als Führer der städtischen Miliz fungierte. Die Assistenzfiguren identifiziert sie aufgrund der zahlenmäßigen Übereinstimmung als die Ratsleute bzw. Richter der Kommune.


Erste Ergebnisse aus kunsthistorischer Perspektive

Für die Erforschung der Bildkultur der spätmittelalterlichen Korporationssiegel gibt es keine Schriftquellen - z.B. Ratsprotokolle - die uns berichten würden, wie es zur Findung eines solchen Bildmotivs kam. Es ist bereits ein seltener Glücksfall, wenn sich der Preis für einen Siegelstempel in Rechnungsbüchern findet. Solche Entscheidungsprozesse lagen - wie auch bei vielen anderen Kunstwerken im Mittelalter - jenseits dessen, was schriftlich aufgezeichnet wurde. Daher müssen die Bedeutungsdimensionen ausschließlich über die Analyse der Siegelbilder und ihrer künstlerischen Kontexte erarbeitet werden. Dank der Urkunden, für deren Beglaubigung die Siegel gefertigt wurden, sind wir jedoch bestens über die Fragen nach den Anlässen ihres Gebrauchs, nach ihren Rezeptionswegen und Verbreitungsräumen informiert. Im Verlauf des ersten Projektjahres haben sich folgende Befunde abgezeichnet:

In einem ersten Schritt wird untersucht, in welchem Verhältnis die Bilder der 'neuen' Korporationssiegel zu den über Jahrhunderte entwickelten Bildkonventionen der 'alten' Personensiegel standen. Dabei zeigt sich in der Gesamtkomposition vieler Korporationssiegel eine deutliche Ambivalenz zwischen Bezugnahmen zur bisherigen Siegelbildkultur und Versuchen zur Findung neuer Bildmuster. Das Motiv der thronenden Gottesmutter als Himmelskönigin auf der Vorderseite des Konventssiegels von Southwick (Abb. 7 in der Printausgabe) greift auf das typische Motiv des Thronsiegels von Herrschern zurück. Doch die Inszenierung Marias als stillender Mutter brach die Aura des tradierten Bildformulars ebenso auf, wie die Rahmung durch eine elaborierte Kirchenfassade. Solche Architektonisierungen des Siegelbildfeldes wurden im Südosten Englands während des 13. Jahrhunderts zum konstitutiven Mittel der Repräsentation monastischer Identität.

Auch das Stadtsiegel von Soissons (Abb. 6 in der Printausgabe) evozierte über das Motiv des gerüsteten Ritters Reminiszenzen an den traditionellen Typus des hochadeligen Reitersiegels. Dennoch dürfte sein Anblick eine mit der damaligen Siegelbildlichkeit vertraute Person irritiert haben: Der Ritter erscheint hier nicht hoch zu Ross, sondern inmitten einer Gruppe von Menschen. Nach außen kommunizierte das Bild die Wehrhaftigkeit und Rechtsfähigkeit der Kommune, nach innen jedoch balancierte seine Gesamtkomposition die komplexe politische Identität einer typischen nordfranzösischen Kommune aus. Diese war einerseits von der herausragenden Stellung des oft aus altem Adelsmilieu stammenden Bürgermeisters geprägt. Da der maior jedoch aus der Mitte einer Gemeinschaft gewählt wurde, war er andererseits auf deren Kooperation im partizipativen Stadtregiment angewiesen. Das Siegelbild kann folglich als bildliche Übersetzung dieses zentralen Aspekts städtischer Identität interpretiert werden.

Angesichts der Bedeutung der Interaktion von Individuum und Gruppe im Stadtregiment liegt die Vermutung nahe, dass sich auch andere Kommunen vergleichbare Siegelbilder zulegten. Besonders die deutschsprachige Forschung hat in der reichen Überlieferung immer wieder ikonographische Typen erkannt und kategorisiert. Doch ein Blick auf die mittelalterlichen französischen Stadtsiegel zeigt, dass die einzelnen Bilder zu unterschiedlich waren, um in solche (modernen) Kategorien zu passen. Die französische und die angelsächsische Forschung haben diese Bilder daher als Ausdruck individueller Identität gedeutet, mit denen sich eine Kommune von allen anderen hervorzuheben versuchte. Eine erneute Untersuchung der französischen Stadtsiegel im Rahmen des Gießener Projekts kommt nun zu dem Schluss, dass im dortigen kommunalen Milieu durchaus sich wiederholende Bildmuster zu finden sind. So zirkulierten mehrere Bildkonzepte die weniger durch einen festen Motivtypus geprägt waren als vielmehr von einer gemeinsamen, leitmotivischen Identitätskonstruktion. Das im Stadtsiegel von Soissons evidente Zusammenspiel von Einzelperson und Kollektiv erwies sich im 13. Jahrhundert im Norden und Osten Frankreichs als sehr populär.

Auch im Siegelbild der Bürgerschaft von Dijon in Burgund wurde in der Zeit um 1200/1220 dieser Leitgedanken in visuelle Strukturen übersetzt, ohne dem Bildtypus von Soissons ikonographisch zu folgen (Abb. 10 in der Printausgabe). Im Zentrum des Bildfeldes steht vielmehr das Motiv eines jungen, ungerüsteten Mannes zu Pferde. Dieses wird von einer konzentrischen Besitzerumschrift eingefasst (SIGILLUM : CONMUNIE : DIVIONIS), welche wiederum von einem Ring aus zwanzig Männerköpfen umgeben wird. Auch hier war das zentrale Motiv des jugendlichen Reiters informierten zeitgenössischen Betrachtern als typisches adeliges Siegelbild geläufig, während die zwanzig peripheren Häupter den damaligen Siegelbildkonventionen fremd waren. Wiederum existiert eine Zahlenkoinzidenz zwischen den dargestellten Figuren und den Funktionären des städtischen Regiments: Der Bürgermeister könnte in der Figur des Reiters repräsentiert sein, die zwanzig Ratsleute in derselben Zahl menschlicher Köpfe.

Ebenso wie im Soissonaiser Siegelbild (Abb. 6 in der Printausgabe) stehen auch in demjenigen aus Dijon Individuum und Gruppe in einem Spannungsverhältnis zueinander, wobei das konkrete Verhältnis zueinander jedoch ein anderes ist. Hier wird die zentrale Figur von der Gruppe von allen Seiten eingefasst. Sämtliche Häupter sind dadurch gleichmäßig ansichtig und repräsentieren eine große Bandbreite an Altersstufen, physiognomischen Erscheinungsformen und Haartrachten. Zudem sind die Köpfe jeweils paarweise einander zugeordnet, was in der mittelalterlichen Bildsprache mündliche Kommunikation anzeigte. Diese Beobachtungen korrespondieren mit der Stadtverfassung, die eine schwächere Stellung des Bürgermeisters vorsah, der jährlich aus der Mitte der Ratsleute gewählt wurde und nach maximal drei Amtsjahren in diesen Kreis zurückkehren musste. Interessanterweise wurde das Stadtrecht in wesentlichen Zügen aus Soissons übernommen, wie dies für viele Kommunen im Nordosten des Königreichs der Fall war. Nach weiteren Recherchen lässt sich eine häufige Verbindung zwischen der Rezeption des Stadtrechts von Soissons und einer Übernahme dieses Bildkonzepts nachweisen.

Das Beispiel des Konventssiegels von Southwick zeigt, dass die identitätsstiftenden Bildkonzepte nicht auf die motivische Ebene begrenzt waren, sondern auch in medialer und materieller Hinsicht milieuspezifische Eigenarten aufwiesen: Mittels vier Siegelstempeln, die erhalten gebliebenen sind (Abb. 11 in der printausgabe), wurden in einem komplizierten Prozess zunächst zwei Wachsschichten von beiden Seiten geprägt, ehe man diese beiden Schichten zum fertigen Siegelkorpus montierte. Dadurch erzielte man den Effekt realer räumlicher Schichtung: Die repräsentativen Kirchenfassaden auf der äußeren Wachsschicht wurden vor Figuren und Szenen auf der inneren Wachsschicht platziert, die direkte liturgische oder historische Bezüge zur besitzenden Institution aufwiesen. Dadurch wirkten sie identitätsstiftend. Erst in einem abschließenden Schritt wurde das Wachs aus den Türen und Fenstern entfernt, so dass dieses Bildpersonal aus dem Siegelkörper heraus an der Oberfläche sichtbar wurde. Diese aufwändige Technik der Besiegelung fand in England nur unter religiösen Gemeinschaften Verbreitung, obwohl die Siegelstempel von denselben hochspezialisierten Londoner Goldschmieden gefertigt wurden, die auch die meisten anderen Typare im Inselkönigreich herstellten.

Doch wer bekam diese Bilder zu Gesicht? Wie weit gelangten sie? Wie lange sah eine Gruppe sie als identitätsstiftend an? Waren sich die Empfänger der durch das Bildkonzept kommunizierten Botschaft bewusst? Wo und wann bewirkten neue Vorbilder einen Wechsel des eigenen Siegelbilds? Alle diese Fragen sind in der bisherigen Forschung unbeantwortet geblieben, da die jeweilige Überlieferungsgeschichte nicht untersucht worden ist. Da Korporationen als überpersönliche Besitzer eines Siegels im Gegensatz zu einer natürlichen Person potenziell dauerhaft existieren konnten, waren ihre Siegel oft über Jahrhunderte im Umlauf und sind in entsprechend großen Zahlen überliefert. Die Aufarbeitung der Urkundenkommunikation einer sozialen Gruppe und damit der Verbreitung ihres Siegels ist sicherlich die mühsamste wie zeit-und ressourcenintensivste Aufgabe dieses Projekts, da sie nur durch Sichtung zahlreicher Archivbestände möglich sein wird. Doch die Untersuchung gut überlieferter Beispiele erlaubt es, den zeitlichen, sozialen und geographischen Wirkungsraum solcher Bilder im spät-mittelalterlichen Europa erstmals empirisch belegt aufzeigen zu können.


Informationskasten:

Das Dilthey-fellowship
Das Projekt Identitätsstiftung und Repräsentation. Korporative Siegelbilder im Spätmittelalter wird im Rahmen eines fünfjährigen Dilthey-Fellowships der VolkswagenStiftung gefördert. Die nach dem deutschen Geschichtsphilosophen Wilhelm Dilthey (1833-1911) benannte Förderlinie ist Bestandteil der breiteren Initiative Pro Geisteswissenschaften des Deutschen Stifterverbandes, die von der VolkswagenStiftung sowie der Fritz Thyssen Stiftung finanziert wird. Ziel der Initiative ist es, entgegen dem Trend zur Förderung von kurzfristigeren und in Verbünden erarbeiteten Projekten eine mittel- bis langfristige Individualforschung wieder mehr zu unterstützen, die für die Geisteswissenschaften von zentraler Bedeutung ist. Dadurch sollen risikoreiche Vorhaben gefördert werden, die das Potenzial zum thematischen und methodischen Transfer zwischen den Disziplinen mitbringen und somit helfen sollen, zukünftige Forschungsfelder zu erschließen. Seit 2006 werden als Instrument der Nachwuchsförderung jährlich zu zehn Fellowships vergeben, die neben der Ausstattung des Fellows mit einer eigenen Stelle für fünf Jahre auch eine großzügige Sachmittelförderung zur Realisierung der eigenständigen Forschung einschließt. Für die Geisteswissenschaften wird damit ein neuer Weg in der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses beschritten.


Der Autor
Markus Späth, Jahrgang 1969, studierte Kunstgeschichte sowie Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Hamburg, Wien und London. 2003 Promotion an der Universität Hamburg mit einer interdisziplinären Studie über Bildmedien als Erinnerungsträger hochmittelalterlicher Klöster in Italien. Seit 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit November 2008 Dilthey-Fellow.

Kontakt
Dr. Markus Späth
Justus-Liebig-Universität
Institut für Kunstgeschichte
Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen
E-Mail: markus.spaeth@kunst.geschichte.uni-giessen.de



Literatur

Brigitte M. Bedos-Rezak: Du modèle à l'image: Des signes de l'identité au Moyen Âge; in: Le verbe, l'image et les représentations de la société urbaine au Moyen Âge, hg. v. Marc Boone u.a. (Studies in Urban Social, Economic, Political History of Medieval and Early Modern Low Countries 13), Louvin/Leuwen 2002, S. 189-205.
Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter: Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, hg. v. Markus Späth (sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst, 1), Köln 2009.
Toni Diederich: Prolegomena zu einer neuen Siegeltypologie; in: Archiv für Diplomatik 29 (1983), S. 242-284.
Good impressions: image and authority in medieval seals, hg. v. Noël Adams u.a. (The British Museum. Research Publication 168), London 2008.
Das Siegel. Gebrauch und Bedeutung: hg. v. Gabriela Signori, Darmstadt 2007.
Markus Späth: Individuum und Gruppe. Zu einem Bildkonzept nord-und ostfranzösischer Stadtsiegel des 12. und 13. Jahrhunderts; in: Francia. Zeitschrift für westeuropäische Geschichte 36 (2009), S. 67-90.

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen:

Abb. 1: Logo der Universität Gießen
Abb. 2: Logo der Universität Bielefeld
Abb. 3: Logo der Universität Marburg
Abb. 4: Siegel des Grafen Renard de Dampierre-le-Chateau; Prägung an einer Urkunde um 1200, Châlons-en-Champagne, AD Marne, 20 H 10/2 - Ch 64. Reproduziert nach: Sceaux et usages de sceaux. Images de la Champagne médiévale, hg. v. Jean-Luc Chassel, Paris 2003, Abb. 111
Abb. 5: Siegel der Kommune von Beauvais; Prägung an einer Urkunde von 1317; Paris, Centre Historique des Archives nationales (CHAN), J 443 B n° 4188, Foto: Paris, CHAN
Abb. 6: Siegel der Kommune von Soissons; Prägung an einer Urkunde von 1228; Paris, CHAN, J 627 n° 819, Foto: Paris, CHAN
Abb. 7: Siegel des Augustinerpriorats St. Mary's in Southwick, Vorderseite; moderne Prägung vom mittelalterlichen Siegelstempel; Köln, Historisches Archiv des Erzbistums (HEK), Siegelslg. Beissel, Foto: Köln, HEK
Abb. 8: Siegel des Augustinerpriorats St. Mary's in Southwick, Rückseite; moderne Prägung vom mittelalterlichen Siegelstempel; Köln, Historisches Archiv des Erzbistums (siehe auch Seite 14). Foto: Köln, HEK
Abb. 9: Siegel der Kommune der Quedlinburger Altstadt, vor 1298; moderne Prägung vom mittelalterlichen Siegelstempel; Köln, (HEK), Siegelslg. Beissel, Foto: Köln, HEK
Abb. 10: Siegel der Kommune von Dijon; moderne Prägung vom mittelalterlichen Siegelstempel; Köln, (HEK), Siegelslg. Beissel, Foto: Köln, HEK
Abb. 11: Funktionsweise der Siegelstempel des Augustinerpriorats St. Mary's in Southwick,Quelle: Späth

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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juni 2010, 27. Jahrgang, S. 34-41
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Pressestelle der JLU Gießen
Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
Tel.: 0641/99-120 40; Fax: 0641/99-120 49
E-Mail: pressestelle@uni-giessen.de
Internet: www.uni-giessen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2010