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FRAGEN/002: Welche Rolle spielt Zukunft in der Geschichtswissenschaft? (UniSpiegel - Uni Heidelberg)


UniSpiegel Universität Heidelberg - 2/2010, Februar 2010

Herr Prof. Grethlein, wir haben da eine Frage ...
Welche Rolle spielt Zukunft in der Geschichtswissenschaft?


Wieso, weshalb, warum? Ohne Fragen keine Wissenschaft. Die Redaktion des unispiegel nimmt diesen Grundsatz ernst und bittet Heidelberger Wissenschaftler um Antworten.


Historiker versuchen, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Aber die Zukunft, spielt sie eine Rolle für die Geschichtswissenschaft? Zuletzt hat der amerikanische Historiker D. J. Staley behauptet, er und seine Kollegen seien in besonderem Maß befähigt, Aussagen über die Zukunft zu treffen. Die Methoden, mit denen Historiker Licht in das Dunkel der Vergangenheit brächten, können auch dazu dienen, die Zukunft zu erhellen. Zugegeben, Aussagen darüber, was die Zukunft bringen wird, haben nur den Charakter von Szenarien, die an Schärfe verlieren, je weiter man sich vorwagt. Aber das kritische Instrumentarium, mit dem Historiker ihre Quellen lesen, um Schlüsse über die Vergangenheit zu ziehen, kann zugleich gewinnbringend für Analysen verwandt werden, auf die "Futurologen" ihre Prognosen stützen.

Auch im Tagesgeschäft der Historiker spielt die Zukunft eine Rolle. Sie betrifft aber weniger ihre eigene Zukunft als die Zukunft der Zeit, die sie erforschen. Sätze wie der folgende sind dafür charakteristisch: "Der 30-jährige Krieg begann im Jahr 1618." Getroffen wird eine Aussage über das Jahre 1618, der Satz bezieht sich aber zugleich auf das Ende des Krieges im Jahr 1648. Ein anderes Beispiel: "Der Autor von "Sein und Zeit" wurde 1889 geboren." Hier geht es um das Geburtsjahr Heideggers, aber die Erwähnung von "Sein und Zeit" lässt uns nach vorne in das Jahr 1927 blicken, in dem dieses Werk des Philosophen erschien. Eine solche zeitliche Struktur liegt nicht nur einzelnen Sätzen, sondern auch Geschichtswerken als ganzen zugrunde: Historiker erzählen die Vergangenheit vor dem Horizont von Ereignissen, welche für die historischen Agenten noch Zukunft ist. Für sie selbst und ihre Leser dagegen sind diese Ereignisse bereits vergangen - mit Reinhart Koselleck lässt sich daher von einer "vergangenen Zukunft" sprechen.

Welchen Einfluss die Wahl eines solchen narrativen Fluchtpunktes auf Geschichtsschreibung hat, können Sie sich verdeutlichen, wenn Sie an eine Geschichte Deutschlands in den 1920er-Jahren denken. Die literarische Tätigkeit des NSDAP-Vorsitzenden in der Festung Landsberg wird in einer Darstellung, die nicht über das Jahr 1930 hinausblickt, kaum Erwähnung finden. Für eine Darstellung, deren Perspektive Auschwitz mit einschließt, wird Hitlers "Mein Kampf" aber durchaus von Interesse sein.

Seit Herodot und Thukydides setzt die "vergangene Zukunft" Historiker einer Spannung aus: Aus der Retrospektive konstruieren sie Verbindungen, die für die historischen Akteure noch nicht ersichtlich waren. Aber in dem Maße, wie die Historiographie sich ihre überlegene Perspektive zunutze macht, entfernt sie sich davon, wie Geschichte von den Akteuren erfahren wurde. In den Geisteswissenschaften der letzten zehn Jahre ist ein neues Interesse an Konzepten wie "Präsenz" und "Erfahrung" erwacht. Dadurch hat auch die Frage nach der "vergangenen Zukunft" an Relevanz gewonnen. Die literarisch ausgefeilten Werke der antiken Historiker sind ein höchst lohnender Gegenstand, um die narrativen Mittel zu erforschen, mit denen entweder der Vergangenheit etwas von ihrer Gegenwärtigkeit wiedergegeben oder die "Gnade der späten Geburt" ausgespielt wird.

Prof. Dr. Jonas Grethlein, Jahrgang 1978, ist Professor für Griechische Literaturwissenschaft am Seminar für Klassische Philologie. Für sein aktuelles Forschungsprojekt "Futures past in ancient historiography" erhielt er gerade das Gerda Henkel Scholarship 2010. Damit verbunden ist ein Aufenthalt an der renomierten Brown University in Providence, USA. Angesiedelt an der Schnittstelle von Geschichtstheorie, Narratologie und Klassischer Philologie, beschäftigt sich Jonas Grethlein mit der Frage, wie antike Historiker mit dem Umstand umgehen, dass sie stets nach den Ereignissen schreiben. Für das Sommersemester hat der Altertumswissenschaftler zusammen mit dem Heidelberger Archäologen Prof. Dr. Tonio Hölscher eine Ringvorlesung zum Thema "Mimesis - Bild und Erzählung" organisiert.


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Quelle:
UniSpiegel - Universität Heidelberg 2/2010
42. Jahrgang, Februar 2010, Seite 5
Herausgeber:
Der Rektor der Ruprecht-Karls-Universität
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2010