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KULTUR/099: Deutsch. Afrodeutsch - Transkulturelle Geschichte(n) (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 1/2015 - Universität Bayreuth

Deutsch. Afrodeutsch
Transkulturelle Geschichte(n)

Von Susan Arndt und Christian Wissler


Interkulturell - multikulturell - transkulturell. Immer wieder neue Begriffe, um eines zu benennen: Wir leben in einer global vernetzten Welt, und es gibt keinen Ort, den diese globalen Vernetzungen nicht erreichen. Am ehesten ist der Begriff der Transkulturalität geeignet, um diese Dynamik auszudrücken. Auch Europa und Afrika waren niemals einheitliche und in sich geschlossene kulturelle Systeme. Das bezeugen nicht zuletzt die Menschen mit afrikanischen Herkunftsgeschichten, die in Deutschland - in afrikanischen Diasporas(1) - leben und gelebt haben. Dafür stehen im Folgenden drei Beispiele aus verschiedenen Epochen.


Zwischen Aufklärung und Versklavung: Ein afrikanischer Gelehrter in Deutschland

Im Jahre 1727 immatrikulierte sich "Antonius Guilelmus Amo Afer ab Aximo in Guinea", wie er im universitären Latein seiner Zeit genannt wurde, für die Fächer Rechtswissenschaften und Philosophie an der 1694 gegründeten Universität Halle. Er stammte aus einem Dorf, das heute zu Ghana gehört, und war der erste Mensch afrikanischer Herkunft, der an einer deutschen Hochschule studierte. Als er 1734 nach einem Wechsel an die Universität Wittenberg mit einer Arbeit über das seinerzeit vieldiskutierte Leib-Seele-Problem promovierte, würdigte der Universitätsrektor Johann Georg Kraus seine herausragenden Fähigkeiten und stellte ihn in eine Reihe mit dem römischen Komödiendichter Terenz und mit spätantiken Kirchenvätern wie Tertullian, Cyprian und Augustin.(2) In der Gestalt des jungen Amo, so glaubte er, reiche eine alte afro-europäische Geistes- und Religionsgeschichte in sein sächsisches Universitätsstädtchen hinein.

Einen Brückenschlag von der Antike zur Gegenwart hatte auch Anton Wilhelm Amo selbst vollzogen: De iure Maurorum in Europa lautete der Titel der Disputatio, mit der er 1729 sein rechtswissenschaftliches Studium in Halle abschloss. Nur eine knappe Inhaltsangabe ist überliefert.(3) Demnach hat Amo eine geschichtliche Kontinuität von Abhängigkeit und Entrechtung rekonstruiert: beginnend mit der Legitimität afrikanischer Könige, die ihnen nicht aus eigenem Recht zukam, sondern von den römischen Kaisern verliehen wurde, bis hin zum Rechtsstatus afrikanischer Menschen, die im Zuge des europäischen Sklavenhandels versklavt, verschleppt und als Ware gehandelt wurden. An den Höfen der europäischen Aristokratie waren sie gezwungen, als Dienstpersonal, als Musiker oder in Leibgarden zu arbeiten. De facto und de jure waren sie rechtlos.

Die Universität hatte dieses Disputationsthema - so der überlieferte Bericht - für Amo "seinem Stande gemäß"(4) ausgewählt. 1705, im Alter von 5 Jahren, wurde er von der Niederländisch-Westindischen Gesellschaft versklavt und nach Amsterdam gebracht. 1707 gelangte er als 'Geschenk' in den 'Besitz' des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel und wurde kurz darauf getauft. Dabei erhielt er je einen Vornamen des Herzogs Anton Ulrich und seines Sohnes Wilhelm August. Den Nachnamen Amo hatte er mitgebracht, wobei unbekannt ist, ob dieser auf seine Eltern zurückgeht.

An den Höfen der europäischen Aristokratie war es seit dem 16. Jahrhundert üblich, versklavte Kinder aus Afrika als Statussymbol zu besitzen und sie zu Kammerdienern auszubilden. Selten war es hingegen, dass diese Kinder eine solide Ausbildung erhielten. Amo jedoch besuchte die Ritterakademie Wolfenbüttel, dann die Universität Helmstedt und lernte nicht nur Deutsch, sondern auch Latein, Griechisch, Hebräisch, Französisch und Niederländisch. Die weitere universitäre Laufbahn verlief erfolgreich - über die Promotion hinaus. Nachdem er zunächst in Halle und Wittenberg als Privatdozent tätig war, bewarb er sich 1739 erfolgreich an der Universität Jena.

Über den weiteren Lebensweg ist wenig bekannt. Es kamen anscheinend viele Gründe zusammen, die ihn 1747 zur Rückkehr nach Ghana bewogen: der Tod von engen Freunden und Förderern, Streitigkeiten über philosophische Fragen, die wohl auch Grundsätze christlicher Orthodoxie berührten, und nicht zuletzt rassistische Urteile, die in den universitären Zentren der europäischen Aufklärung tonangebend wurden. Es war Immanuel Kant, der 1775 den Begriff der "Rasse" in Deutschland einführte(5) und mit entsprechenden Klassifikationen die Vorstellung verband, die Menschheit lasse sich unter Aspekten der Bildung und Vollkommenheit hierarchisch ordnen: "Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen".(6)

Bereits 1747 publizierte der Hallenser Rhetorikprofessor Johann Ernst Philippi Spottgedichte, in denen Anton Wilhelm Amo einer von ihm geliebten Frau namens Astine sein Herz offenbart und schroff abgewiesen wird:(7)

"[...] weil Dich mein Herze liebt, Und meine Seel um Dich als ihren Leitstern schwebet, Die sich dir ganz und gar zum Eigenthum ergiebt, Und unabläßlich vest an dir alleine klebet, So sey mein Lustgestirn, voll Glanz der Liebligkeiten, Die Wonne meiner Zeiten."

lautet eine der satirischen Liebeserklärungen. Die sarkastische Replik:

"Ich lache über die, die in den Flammen leben;
Mein Herr Magister, sey ein Herrscher deiner Triebe,
Und rede nicht von Liebe."

Die Aufforderung zur 'Triebkontrolle' lässt rassistische Ausgrenzungsmuster erkennen, die seit der Antike tradiert,(8) in der frühen Neuzeit verstärkt wurden und in europäischen Intellektuellen ihre Fürsprecher fanden. Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel erklärt etwa 1830/31, unter Verwendung des N-Worts: Der Schwarze "stellt [...] den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar: [...] es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden."(9) Auch Astine begründet ihre Zurückweisung mit der Hautfarbe des von Liebe - also von etwas Menschlichem - sprechenden Amo, den sie im Gedicht als Rosantes anredet. "Den teutschen Jungfern ist ein Mohr was unbekantes", lässt sie ihn wissen. Und: "Rosantes kan als Mohr bey mir auf dieser Erden / Niemahlen glücklich werden."

Vermutlich 1754 ist Anton Wilhelm Amo in seinem westafrikanischen Geburtsort Axim gestorben. Erst in den letzten Jahrzehnten sind sein Leben und Werk allmählich wieder in das historische Gedächtnis zurückgekehrt. Die Universität Halle vergibt seit 1994 einen nach ihm benannten Preis für ausgezeichnete Forschungsarbeiten.


Afrodeutsche Lebensgeschichten

Anton Wilhelm Amo ist einer von vielen, die Deutschlands transkulturelle Geschichte erzählen: eine Geschichte, die vor allem in und aus der afrikanischen Diaspora heraus lebendig gehalten wird. Ein aktuelles Beispiel ist die Ausstellung Homestory Deutschland (2006) der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD). Im Juni 2014 wurde sie im Rahmen des BIGSAS- Festivals afrikanischer und afrikanisch-diasporischer Literaturen in der Bayreuther Universitätsbibliothek gezeigt. Die Ausstellung umfasst 27 visuelle Biographien aus drei Jahrhunderten deutscher Geschichte: afrodeutscher Geschichte. "Afrodeutsch" ist ein politisch gewachsener Begriff, der auch aus Rassismuserfahrungen hervorgegangen ist. Er gibt Menschen eine Heimat, die in Deutschland leben und über Familiengeschichten mit dem afrikanischen Kontinent verbunden sind.

Auch der 1925 geborene Theodor Wonja Michael ist Teil dieses kollektiven Selbstporträts. Nach dem Tod seiner Mutter wurde er von seinen Pflegeltern für so genannte "Völkerschauen" missbraucht. In diesen seit dem 19. Jahrhundert überall in Europa und Nordamerika veranstalteten Ausstellungen wurden Menschen außereuropäischer Herkunft einem Massenpublikum vorgeführt. Die Nürnberger Rassegesetze von 1935 nahmen dem in Berlin aufgewachsenen Jungen die Möglichkeit einer Ausbildung, durch den Entzug seines deutschen Passes wurde er staatenlos. Nachdem er seinen Lebensunterhalt zunächst als Komparse in UFA-Filmen verdient hatte, wurde er während der letzten beiden Kriegsjahre in einem Arbeitslager gefangen gehalten. In seiner 2014 erschienenen Autobiographie Deutsch Sein und schwarz dazu blickt Theodor Michael nicht nur auf seine Kindheit zurück, sondern erzählt auch von seinem bewegten Leben nach dem Krieg - unter anderem als Chefredakteur des Afrika Bulletin und als Beamter des Bundesnachrichtendienstes. Der Universität Bayreuth schenkte er 1997 als Vorlass seine mehrere hundert Bände umfassende Privatbibliothek.


Visionen für die Zukunft

Deutschland ist heute, ebenso wie der europäische Kontinent, längst von transkulturellen Prozessen geprägt. Zunehmend wird dies auch in künstlerischen Entwicklungen sichtbar, quer durch alle Generationen, Genres und ästhetischen Ausdrucksformen. Einer der derzeit wichtigsten afrodeutschen Künstlerinnen und Künstler ist Philipp Khabo Koepsell. 1980 geboren, ist er in Göttingen aufgewachsen. Vor wenigen Jahren hat er sich an der Universität Bayreuth - im Masterstudiengang "Intercultural Anglophone Studies" - mit dem Begriff der Transkulturalität auseinandergesetzt. Koepsell ist Spoken Word Lyriker, aktivistischer Blogger und Intendant am Ballhaus Naunynstraße, einem Berliner Theater und Kulturzentrum. 2010 veröffentlichte er, in Anspielung an Michael Endes Jim Knopf, den Gedichtband Die Akte James Knopf. Die Texte lesen sich wie eine Abrechnung mit Lebenserfahrungen, die seine Kindheit belasteten: von "Wo kommst du her?" bis zu "Du sprichst aber gut deutsch."

Koepsell lässt sein Lesepublikum hautnah spüren, wie es ist, Deutschland als ein Land zu erleben, in dem Schwarzsein als Anderssein wahrgenommen wird. Indem er in seinen Texten rassistische Zuschreibungen aus einem gesellschaftlichen Umfeld abwehrt, das in ihm geradezu die Verkörperung Afrikas sieht, kommt er paradoxerweise nicht umhin, (auch) über Afrika zu sprechen. Seine Gedichte bestechen durch eine Satire, die gesellschaftliche Problematiken zielsicher aufs Korn nimmt. Unwiderruflich werden dabei Wissenswelten und Lifestyle-Attitüden verabschiedet, die ihre kolonialistischen Wurzeln nicht verbergen können: "[...] dass "die Tropen", "der Dschungel", "die dritte Welt", "das / Entwicklungsland", "Schwarzafrika" / Begriffe sind wie Striche am Lineal, die grobe geographische Grenzen ziehen zwischen Terra-inkognita / und Terra Da-war-ich-schon. / [...] es gibt keine Safari. / es gibt keinen Reggae und kein Holiday Inn; es gibt keine / Touristen; es gibt keine Weltbürger. / Keine Kamele, keine Träger, keine Wasserstelle. / Ich verstehe, dass Sie das verunsichert. / I tolerate confusion here." (10)

Die Abkehr von überlebten Klischees aber schafft Raum für kreative Blicke in die Zukunft. Vor kurzem gründete Philipp Khabo Koepsell das erste afrofuturistische Magazin Deutschlands, den Afropean Contemporary. Hier verschmelzen Afrika und Europa als Räume, die sich monologischen Erzählungen und allen Entweder-Oder-Klassifizierungen entziehen und eben dadurch differenziert gedacht werden können. Das World Wide Web avanciert dabei zu dem Ort, wo geopolitische Räume in neue Identitäten umgemünzt werden. Auch wenn Breitbandkabel und schnelles Internet noch immer ein Privileg sind, schon jetzt eröffnen digitale Kompetenzen neue Zugriffe auf Wissen, Erinnerung und Zukunft.


...nebenbei bemerkt ist dies mein Land.
Ich, deutsch wie... ich sag mal Bommerlunder
und ich weiß,
Deutschland arbeitet
an der aktiven Akzeptanz
heterogener Identitäten
Thaka, nna ke mogeremane.

(aus: Philipp Khabo Köpsell, Die Akte James Knopf, S. 80. Die letzte Gedichtzeile ist in Sesotho, einer in der Republik Südafrika und in Lesotho verbreiteten Sprache, verfasst und bedeutet: Kumpel, ich bin Deutscher.)


Anmerkungen

(1) Zum Begriff der "Diaspora" und seiner Bedeutung für das Verständnis der Globalisierung vgl. in dieser Spektrum-Ausgabe, S. 6-9, den Beitrag von Susanne Lachenicht: Transkulturelle Lebensformen.

(2) vgl. Burchard Brentjes: Anton Wilhelm Amo. Der schwarze Philosoph in Halle. Leipzig 1976, S. 105.

(3) In den vom Kanzler der Universität Halle, Johann Peter von Ludewig, herausgegebenen "Wöchentlichen Hallischen Frage= und Anzeigungs=Nachrichten" vom 28. November 1729; vgl. Brentjes (1976), S. 37-38.

(4) ebd. S. 38.

(5) Immanuel Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen (1775). In: Kant's Werke (Akademie-Ausgabe), Band II. Berlin 1912, S. 427-443.

(6) Immanuel Kant, Physische Geographie (erschienen 1802). In: Kant's Werke (Akademie-Ausgabe), Band IX. Berlin und Leipzig 1923, S. 316.

(7) Erhalten ist die folgende Ausgabe: Johann Ernst Philippi: Belustigende Academische Schaubühne: Auf welcher die, Auf Universitäten im Schwange gehende, Tugenden und Laster, In Sieben Auftritten, Poetisch abgeschildert werden. Leipzig, Franckfurth 1749. Vgl. auch die Quellensammlung www.theamoproject.org (letzter Aufruf am 7.6.2015).

(8) vgl. Benjamin Isaac: The Invention of Racism in Classical Antiquity. Princeton 2006.

(9) Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, entstanden zwischen 1822/23 und 1830/31. Frankfurt am Main (Suhrkamp Werkausgabe Bd. 12), 1970, S. 122.

(10) Philipp Khabo Köpsell: Die Akte James Knopf. Afrodeutsche Wort- und Streitkunst. Münster 2010; hier: S. 10. Nach der Veröffentlichung dieses Buchs änderte der Wortkünstler seinen Nachnamen in Koepsell.


Autoren

Prof. Dr. Susan Arndt ist Professorin für Englische Literaturwissenschaft und Anglophone Literaturen sowie Zweite Sprecherin der Bayreuth Academy of Advanced African Studies an der Universität Bayreuth.

Christian Wißler M.A. ist in der Stabsabteilung Presse, Marketing und Kommunikation der Universität Bayreuth für den Bereich Wissenschaftskommunikation verantwortlich.


Literaturhinweise

- Ottmar Ette: Anton Wilhelm Amo. Philosophieren ohne festen Wohnsitz. Eine Philosophie der Aufklärung zwischen Europa und Afrika. Berlin 2014.
Das Buch ist aus einem Workshop hervorgegangen, den die Bayreuth Academy of Advanced African Studies 2013 veranstaltet hat. Der Autor gehört dem Beirat der Academy an.

- Theodor Michael: Deutsch sein und schwarz dazu: Erinnerungen eines Afro-Deutschen. München 2013.
Der Autor war auch 2015 wieder Gast des BIGSAS-Festivals afrikanischer und afrikanisch-diasporischer Literaturen.

- Philipp Khabo Köpsell: Die Akte James Knopf. Afrodeutsche Wort- und Streitkunst. Münster 2010.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften von im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die Ausstellung Homestory Deutschland der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) wurde seit 2006 in den Goethe-Instituten von 11 afrikanischen Ländern sowie in zahlreichen deutschen Städten gezeigt, so auch 2013 im Künstlerhaus Nürnberg

- Im Gedenken an Anton Wilhelm Amo ließ die Universität Halle 1965 eine Bronzeplastik des Bildhauers Gerhard Geyer aufstellen. Die Plastik zeigt einen afrikanischen Mann und eine afrikanische Frau. Das Aussehen Amos ist nicht überliefert. Bleibt die Frage: Weshalb soll eine Figur mit nacktem Oberkörper an einen Philosophen der Aufklärung erinnern, und was hat die Frauenfigur hier zu bedeuten?

- Theodor Michael

- Philipp Khabo Koepsell

- Titelseite der Erstausgabe des Magazins Afropean Contemporary

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juni 2015, Seite 18-21
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de
 
Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2015

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