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LÄNDER/117: 1862 - Sächsischer Landtag debattiert über das BGB (LTK)


Landtags Kurier - Freistaat Sachsen 5/06

"wegen unverbesserlicher Trunksucht"
Die Erste Kammer des sächsischen Landtages debattiert über das BGB

Von Josef Matzerath


"Was den Fall der Trunksucht anbelangt, so ist mir dabei der selbst erlebte Fall wieder vor Augen getreten, wo eine sonst ganz redlich und gut beleumundete Frau schlüßlich ihren Mann im Unwillen erschlug, weil er durch wiederholte Trunkenheit sie und ihre Kinder blos stellte und dem Elende Preis zu geben drohte." Johann Heinrich August von Behr, der von 1858 bis 1866 sächsischer Justizminister war, verteidigte am 1. Mai 1861 in seinem Schlussplädoyer das von der Regierung vorgelegte Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen und die darin akzeptierten Gründe für eine Ehescheidung. Zwei Tage hintereinander hatte die Erste Kammer des Landesparlaments kontrovers darüber diskutiert, ob das Land ein kodifiziertes Zivilrecht überhaupt brauche. Daneben wurde eine theologische Bewertung der Scheidungsgründe zum Prüfstein für das Gesetz.

Selbstverständlich bestanden schon im frühneuzeitlichen Sachsen nicht nur Regulierungen für den öffentlich-rechtlichen Bereich, sondern auch für die Privatsphäre. Kurfürst August hatte beispielsweise im Jahre 1572 ein Landesgesetz, die Konstutionen, erlassen, die auch in den privaten Rechtsbereich der Untertanen ordnend eingriffen. Seither waren noch weitere einschlägige Rechtsquellen geschaffen worden. Die so genannten "Decisionen" der Jahre 1661 und 1746 klärten strittige Rechtsfragen auch des Zivilrechts und im Jahre 1782 erhielt das Kurfürstentum Sachsen ein Vormundschaftsrecht. Dennoch erfassten diese Gesetze nicht alles, was ins Privatrecht fiel. Deshalb konnten die Juristen auf eine Vielzahl anderer Bestimmungen zurückgreifen, die nicht vom sächsischen Landesherrn erlassen worden waren. Die Motive, mit denen die Regierung die Einführung eines Bürgerlichen Gesetzbuches begründete, erläuterten den Zustand so: Es bestehe in Sachsen ein "gemeines Recht", das sich aus den "Localstatuten, Landesrechten und [dem] gemeinen Sachsenrecht" zusammensetze. Wo die Bestimmungen dieser Texte Lücken offen ließen, entstehe aber kein rechtsfreier Raum, sondern es gelten dafür subsidiär die "deutschen Reichsgesetze, das canonische Recht und das römische Recht". Man fällte daher durchaus noch Urteile nach dem mittelalterlichen Sachsenspiegel oder nach den antiken Pandekten, einer Zusammenstellung aus den Werken römischer Rechtsgelehrter. Diese Art der Rechtsfindung konnten lediglich gelehrte Juristen betreiben. Den meisten Menschen blieben zentrale Quellen des Rechts schon aus sprachlichen Gründen verschlossen. Die Texte, die man für einen Urteilsspruch heranziehen durfte, waren keineswegs aufeinander abgestimmt, sodass sich schon deshalb mit guten Gründen konträre Positionen vertreten ließen. Außerdem mussten die antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen auf die Lebensverhältnisse der beginnenden Moderne angewandt werden. Als dann in den 1830er Jahren des 19. Jahrhunderts die Privilegien der ständischen Gesellschaft schrittweise beseitigt wurden, kamen auch neue Gesetze in Geltung, die zunächst partiell das bislang im "gemeinen Recht" Festgelegte außer Kraft setzten. In der modernen Gesellschaft Sachsens bildeten sich immer mehr Zustände heraus, die sich unter die Rechtssetzungen der Vergangenheit kaum noch subsumieren ließen. Industrielle Fabrikproduktion, Güter- und Personentransport mit der Eisenbahn oder auch Felddüngung mit Kali, Phosphor und Stickstoff waren den Menschen der Vormoderne noch nicht bekannt. Gemeinsam mit einem enormen Bevölkerungswachstum sowie dem Um- und Ausbau des Staatsapparates führten sie zu neuen sozialen Konstellationen, für die eine einheitlichere und allgemein verständlichere Form der Rechtssetzung eine erforderliche Infrastruktur darstellte.

Die staatlichen Bürokratien der europäischen Staaten standen schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einer Kodifizierung des Rechts weithin positiv gegenüber. Eine Systematisierung des Rechts, eine Selektion der vielen Bestimmungen und gegebenenfalls auch eine Neuschöpfung von Bestimmungen entsprachen nicht nur der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch dem Selbstverständnis der Spitzenbeamten, dass sie selbst eine unabdingbare staatliche Ordnungsfunktion auszuüben hätten. Wenn ein Staat das Privatrecht kodifizierte, entzog er es seiner traditionellen Verankerung und überführte bislang kaum wandelbare Rechtsbereiche in die Disposition des Gesetzgebers. Im konstitutionellen Königreich Sachsen steigerte dies vor allem den Einfluss der staatlichen Zentralbehörden. Für die bislang Privilegierten fiel hingegen die Möglichkeit fort, sich zur Verteidigung ihrer rechtlichen Besitzstände auf das Herkommen zu berufen. Schon deshalb plädierten konservative Traditionalisten für die Beibehaltung zumindest des römischen Rechts neben dem modernen Privatrecht.

In der Debatte der Ersten Kammer des sächsischen Landtages über das Bürgerliche Gesetzbuch formulierte Curt Robert Freiherr v. Welck diese Bedenken: "Wir sehen hier kein Gesetz gewöhnlicher Art vor uns liegen, sondern ein Gesetzbuch, einen Codex, welcher die ganze Civilrechtstheorie enthält, die künftig in Sachsen gelten und für immer einen Abschluß mit einer mehr als tausendjährigen Vergangenheit rechtfertigen und feststellen soll." Es sei doch nicht klug, "mit dem römischen Recht so ganz zu brechen und nicht einmal mehr den Recurs auf dasselbe zu gestatten". Deshalb müsse es doch möglich bleiben, "auf die einzig authentische Urquelle alles Rechts zurückzugehen". Freiherr v. Welck, der von 1816 bis 1820 selber in Leipzig Jura studiert hatte, argumentierte vor allem dagegen, dass "der bloße starre Buchstabe des Gesetzesparagraphen das Recht bestimmen soll". Die nachwachsenden jungen Juristen müssten doch dann das römische Recht als einen "geradzu todten Mann" betrachten. Dies sei besonders bedenklich in einer Zeit, die sich "vorzugsweise immer nur in der Gegenwart und in der Zukunft ... bewegt, und viel weniger auf die Vergangenheit blickt". Der konservative Redner befürchtete, der organische Anschluss an eine gewachsene und im Bewusstsein des Volkes verankerte Rechtstradition werde von ihren Wurzeln getrennt und künftig einer willkürlichen Setzung anheim fallen.

Sachsens Regierung und das Gros der Mitglieder der Ersten Kammer waren bei weitem nicht so skeptisch für die künftige Entwicklung. Sie argumentierten ganz pragmatisch damit, dass mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch nicht etwa ein ganz neues Recht geschaffen werden solle, sondern eine Kodifizierung auf der Grundlage des bisherigen Rechts entstehe, die lediglich das "gemeine Recht" systematisiere. Dieses neue Recht basiere daher letztlich auf dem römischen Recht. Es sei von diesem auch nicht abgeschnitten, weil die wissenschaftliche Forschung auch weiterhin auf das römische Recht zurückgreifen könne. Der Gesetzgeber dürfe aber das römische Recht neben dem Bürgerlichen Gesetzbuch nicht aushilfsweise in Geltung lassen. Denn der Nutzen, den eine Kodifizierung ermögliche, liege doch gerade darin, widersprüchliche Bestimmungen aus der Gesetzgebung auszugrenzen. Bleibe das römische Recht aber subsidiär, kämen gerade die Widersprüche erneut zum Tragen, die man habe beheben wollen. Außerdem verstünden dann die meisten Menschen wieder nicht die Entscheidungsgründe der Richter, was ja ebenfalls geändert werden sollte.

Die Deputation der Ersten Kammer des sächsischen Landtages, die im Plenum des Oberhauses ihre Ansicht über den Gesetzentwurf zu einem sächsischen BGB vortrug, pflichtete diesem Argument bei. Das Parlament, erläuterte Karl v. Könneritz, der Referent dieses Parlamentsausschusses, habe auf vorangegangenen Landtagen wiederholt geltend gemacht, dass "für das practische Leben Gewißheit des Rechts und möglichste Sicherheit gleichmäßiger Anwendung desselben unentbehrlich wären". Ebenso habe der Landtag verlangt, dass das geschriebene Gesetz in deutscher Sprache abgefasst sein müsse. Es sei doch unzweckmäßig, dass "das Privatrecht des Volks nach Rechtsbegriffen und Rechtssätzen beurtheilt werde, deren Quellen dem Volke völlig unzugänglich wären und die auf andere Zeiten, andere Sitten und andere Verhältnisse berechnet, für die Gegenwart nicht mehr ausreichten." Schließlich habe das Parlament auf vorangegangenen Landtagen bereits beklagt, "das Recht [sei] dem Volksbewußtsein entfremdet und lediglich Eigenthum der Juristen geworden".

Für den Landtag des Jahres 1861 stellte sich bei der Debatte über ein Bürgerliches Gesetzbuch noch ein ganz anderes Problem. Der Gesetzentwurf umfasste nämlich 2653 Paragraphen. Eine solche Masse konnte nicht nach dem ansonsten üblichen Prozedere Paragraph für Paragraph diskutiert werden, um dann von der Regierung im Detail Änderungen zu verlangen. Bei einem Dissens zwischen der Ersten und der Zweiten Kammer hätten die beiden Häuser außerdem noch eine gemeinsame Meinung über ihre Ansichten herstellen müssen. Dieses Verfahren konnte der Landtag nicht mit vertretbarem Aufwand bewältigen. Das gängige Verfahren, ein solches Problem zu bewältigen, war eine Zwischendeputation. Ein solches parlamentarisches Gremium hielt seine Beratungen zwischen zwei Landtagen ab. Denn im Königreich Sachsen tagten die Kammern nicht permanent, sondern sie wurden vom Fürsten einberufen, tagten einige Monate und wurden wieder verabschiedet. Bis zum nächsten Landtag konnten dann unter Umständen zwei bis drei Jahre vergehen. Der Versuch, durch eine Zwischendeputation der Materialfülle des Bürgerlichen Gesetzbuches Herr zu werden, war schon wenig erfolgreich gewesen, als dem Landtag des Jahres 1854 ein erster Entwurf vorgelegen hatte. Daher schlug der Parlamentsausschuss, der sich auf dem Landtag 1860/61 mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch befasste, vor, das Gesetz en bloc anzunehmen. Auf diese Weise entstand ein höherer Druck, der Vorlage zuzustimmen. Wenn die Parlamentarier insgesamt mehr Vor- als Nachteile im neuen Privatrecht sahen, waren sie genötigt, auch Unliebsames mit in Kauf zu nehmen.

In der Debatte der Ersten Kammer kristallisierte sich diese Entscheidung um Ablehnung oder Zustimmung neben dem Römischen Recht vor allem um einen zweiten moralisch aufgeladenen Dissens. Gleich nachdem der Redner der Deputation und der Justizminister ihren Standpunkt zur Gesetzesvorlage dargelegt hatten, erhob sich als erster Debattenredner der Oberhofprediger Dr. Theodor Albert Liebner. Er war von Amts wegen Mitglied des sächsischen Oberhauses. Liebner sprach ganz aus der Position des Theologen, der nach dem Willen der Verfassung die evangelisch-lutherische Kirche im Parlament repräsentierte. Er wolle nur über die Ehegesetzgebung reden, erklärte der Oberhofprediger vorneweg, weil er über den sonstigen Inhalt des Bürgerlichen Gesetzbuches "als Laie ein wirklich eingehendes Urtheil... nicht abzugeben" im Stande sei. Wegen der Ehegesetzgebung könne er jedoch, falls er vor die Wahl einer En-bloc-Entscheidung gestellt werde, letztlich das Bürgerliche Gesetzbuch nur ablehnen. Zwar sei in der evangelisch-lutherischen Landeskirche eine umfangreiche und unentschiedene Debatte über die Ehe im Gange, meinte Liebner. Das mache eine Positionierung für einen Geistlichen schwierig. Aber soweit bestehe doch theologischer Konsens, dass "alle wirklich gültigen Ehescheidungsgründe irgendwie schuldhafte Thathandlungen gegen das Wesen der Ehe selbst ... involvieren" müssten. Die Gesetzesvorlage der Regierung bestimmte nun in Paragraph 1766 "Wurde eine Ehe wegen Trunksucht des einen Ehegatten von Tisch und Bett getrennt und dauert die Trunksucht nach Beendigung dieser Trennung wenigstens noch ein Jahr lang fort, so kann wegen unverbesserlicher Trunksucht der andere unschuldige Ehegatte Scheidung verlangen." Diese Bestimmung ging nach Ansicht des Theologen an der Substanz der Ehe vorbei, weil der Scheidungsgrund nicht "aus dem evangelischen Bewusstsein" herkomme.

Das evangelische Konsistorium Sachsens habe den Ehescheidungsgrund der Trunksucht nur unter der Voraussetzung akzeptiert, dass das Verhältnis der Ehepartner durch dieses Laster "in nicht geringerem Grade als durch bösliche Verlassung gestört und aufgehoben worden sei. Denn aus Sicht der Landeskirche gebe es lediglich zwei in der Bibel auffindbare Gründe für eine Ehescheidung: "Ehebruch und bösliche Verlassung". Unter "unverbesserlicher Trunksucht" könne man doch alles Mögliche verstehen, führte Liebner aus. Deshalb brauche man eine moralische Messlatte, an der die Auswirkung der Trunksucht auf die Ehe gemessen werden könne. Es müsse eben "das Wesen der Ehe selbst" verletzt werden, wenn Trunksucht eine Scheidung rechtfertigen solle. Dann wurde Liebner grundsätzlich: "Die Gesetze, meine hochgeehrten Herren, machen und bilden auch Sitten; ... und hier ist der Fall, wo durch die Gesetze, die wir geben, die christliche Sitte im Lande und Volke gebildet werden soll. Der Hauch, der durch die Gesetze geht, ist entscheidend für das sittliche Bewusstsein im Volke und gerade dieses Gesetz ist von so tiefer Bedeutung, weil es das Entscheidende für das ganze gemeinsame Leben, die Ehe und die Familie trifft. Wenn das nicht erhalten wird im christlichen Sinn, so geht Alles aus einander." Ähnliche Befürchtungen hatte der Oberhofprediger auch für den Fall, dass Ehen wegen einer vierjährigen Freiheitsstrafe eines Ehepartners oder nur "wegen fortgesetzter Misshandlung" geschieden werden würden. Immer fehlte ihm der Zusatz "in nicht geringerem Grade wie durch bösliche Verlassung". Denn "'die Gesundheit gefährdend' das reicht nicht", sagte Liebner.

Mit dieser Stellungnahme brachte der hoch rangierte Theologe selbstverständlich alle Kammermitglieder seiner Konfession in argumentative Engpässe. Einige Redner wie der Leutnant a. D. und Kammerherr Otto Heinrich v. Erdmannsdorff auf Schönfeld meinten, der Staat dürfe gerade in Sachen Ehe "nicht gegen die Principien der Kirche verstoßen". Andere prinzipielle Gegner des Bürgerlichen Gesetzbuches, wie Friedrich Freiherr v. Friesen auf Rötha, erklärten, im Allgemeinen habe Liebner zwar recht, dass die Ehe in das Ressort der Landeskirche gehöre, aber die "bürgerliche Gesetzgebung müsse doch das Recht haben ..., zu bestimmen und zu verordnen, welche bürgerlichen Wirkungen aus einem Ehevertrag ... hervorgehen" sollten.

Unter denen, die als Befürworter des Bürgerlichen Gesetzbuches das Wort in der Debatte ergriffen, fanden sich noch ausführlichere Repliken auf die Rede Liebners. Ludwig Eduard Victor v. Zehmen auf Stauchitz wies die Befürchtung zurück, "durch Lockerung der Ehe und Familie könne der Staat zu Grunde gehen" oder eine Spaltung in der evangelisch-lutherischen Kirche entstehen. Derartige Vorwürfe gegen das Bürgerliche Gesetzbuch seien unbegründet. "Spaltungen und verschiedene Meinungen über die Fragen des Eherechts sind nicht neu", sagte v. Zehmen, "sie haben in früherer Zeit bestanden, bestehen jetzt und werden künftig bestehen; so lange wir auf dieser Erde wandeln, wird die Kirche ein ecclesia militans sein und bleiben." Es sei auch die Trunksucht oder lebensgefährliche Misshandlung nicht besser definiert, wenn man sie an der Messlatte der "böswilligen Verlassung" messen wolle. Der Spielraum des Richters werde durch diese Zusatzbestimmung nur erweitert. Welches Maß von Trunksucht einem böswilligen Verlassen entspreche, lasse sich doch nicht eindeutig festlegen.

Dem Oberlausitzer Rittergutsbesitzer Egon Heinrich Gustav Freiherr v. Schönberg-Bibran auf Luga ging nicht einmal der vorgelegte Gesetzentwurf weit genug. Er sah in den einschlägigen Paragraphen "dogmatische Glaubenslehren mit civilrechtlichen Bestimmungen vermischt" und forderte den biblischen Grundsatz (Mk 12, 17) ein, "daß man dem Staate zu geben habe, was dem Staate und der Kirche, was der Kirche gebührt". Ohne sich an der Exegese dieses Jesus-Wortes zu versuchen, sah v. Schönberg in diesem Satz den Gedanken ausgesprochen, "die Civilehe sei der einzige Weg aus diesem Labyrinth". Mancher möge die Zivilehe zwar für gefährlich halten. Man könne da durchaus verschiedener Meinung sein. Er glaube aber, dass "die staatlich=kirchliche Frage in Bezug auf das Eherecht nur durch die Civilehe geschlichtet und gelöst zu werden vermöge".

Demgegenüber argumentierte der Minister Johann Paul v. Falkenstein, der für die Kirchen und das gesamte Bildungswesen zuständig war, die Ehe sei seiner Ansicht nach zwar "eine sittliche Institution göttlicher Stiftung", sie habe aber einen doppelten, "einen bürgerlichen und einen religiös=kirchlichen" Charakter. Daher sollten im besten Fall Staat und Kirche Hand in Hand gehen. Allerdings sei die Kirche verpflichtet, "immerfort nach dem Ideale zu streben". Der Staat hingegen könne nicht außer Acht lassen, "in welchem Bildungszustande... die bürgerliche Gesellschaft [sei], für die ein Gesetz wirksam sein" solle. Deshalb ließen sich nicht alle Forderungen der Kirche in die Praxis umsetzen. Man müsse in einem solchen Fall warten, bis die Gesellschaft noch mehr und so weit vom christlichen Prinzip durchdrungen worden sei, um die Maximen der Kirche akzeptieren zu können. Christliche Ideale könnten doch nicht anbefohlen werden. Nach v. Falkensteins Meinung ging aber doch "ein Zug wahrhaft kirchlichen Sinnes durch das ganze Volk" Sachsens. Daher sei es nicht angebracht, die Zivilehe einzuführen, die die Ehe "nur als einen Vertrag" betrachte.

Eine Trennung von Kirche und Staat hat das konstitutionelle Königreich Sachsen durchaus nicht in allen Bereichen durchgeführt. In der Ersten Kammer des sächsischen Landtages saßen von Amts wegen Vertreter der evangelisch-lutherischen und der katholischen Kirche. Sie nahmen allerdings keineswegs permanent im Sinne ihrer Kirchen einen nachhaltigen Einfluss auf die Parlamentsentscheidungen. Offensichtlich fanden die Parlamentarier ebenso wie die Regierungsvertreter Strategien der Abgrenzung gegenüber den Wünschen der Kirchen, denen sie selbst angehörten. Die Debatte der Ersten Kammer über das Bürgerliche Gesetzbuch zeigt zwar, dass moraltheologische Erwägungen durchaus Relevanz in der parlamentarischen Auseinandersetzung gewinnen konnten. Letztlich hat sich mit 26 gegen neun Stimmen aber eine deutliche Mehrheit der Kammermitglieder trotz der Intervention des Oberhofpredigers für die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches entschieden. Es wurde en bloc angenommen, von der Regierung am 2. Januar 1863 publiziert und trat am 1. März 1865 in Kraft. Die Definition von Alkoholkrankheit unterliegt allerdings bis heute einer kultur- und epochenspezifischen Zuschreibung.


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Quelle:
Landtags-Kurier Freistaat Sachsen 5/2006, Seite 12-15
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den 19. Januar 2007