Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

MEMORIAL/075: Vor 85 Jahren - Antonio Gramsci vor Mussolinis Sondertribunal (Gerhard Feldbauer)


Vor 85 Jahren

Antonio Gramsci vor Mussolinis Sondertribunal:
Ihr werdet Italien ins Verderben führen, uns Kommunisten wird die Aufgaben zufallen, es zu retten

von Gerhard Feldbauer, 28. Mai 2013



Am 4. Juni 1928 verurteilte das faschistische Sondertribunal den Generalsekretär der PCI, Antonio Gramsci zu 20 Jahren Kerker. Am 8. November 1926 war er trotz seiner Immunität als Parlamentsabgeordneter verhaftet worden. Vom Vorsitzenden des Sondertribunals nach der Bedeutung der in seinen beschlagnahmten Schriften gebrauchten Begriffe Krieg und Machtübernahme gefragt, gab der IKP-Generalsekretär die berühmte Antwort, dass alle Militärdiktaturen früher oder später zu einem Krieg führen und dass es in einem solchen Fall dem Proletariat zukomme, die herrschende Klasse zu ersetzen und die Zügel des Landes zu ergreifen, um das Schicksal der Nation zu wenden. Als der Staatsanwalt ihn unterbrechen wollte, fügte er hinzu: "Ihr werdet Italien ins Verderben führen, uns Kommunisten wird die Aufgaben zufallen, es zu retten."

Nach dem "Marsch auf Rom", der Machtübergabe von führenden Kapitalkreisen, König und Klerus an Mussolini am 22. Oktober 1922, hatte sich Gramsci der Ausarbeitung einer an den konkreten Entwicklungsbedingungen in Italien orientierten antifaschistischen Strategie gewidmet, mit der er sich, wie Domenico Losurdo in seinem Werk "Der Marxismus Antonio Gramscis" (Hamburg 2000) schrieb, als "ein kommunistischer Führer ersten Ranges" erwies. Gramsci zeigte die Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse auf und formulierte als erster marxistisch-leninistischer Theoretiker, dass der "Faschismus als Instrument einer Industrie-Agraroligarchie handelt, um in den Händen des Kapitals die Kontrolle des gesamten Reichtums des Landes zu konzentrieren". 1926 führte er auf dem VI. Weltkongress der Komintern aus, dass der Faschismus nicht nur die Diktatur einer Handvoll Monopolisten und des Finanzkapitals ist, sondern ein reaktionäres Regime, dem es gelungen war, sich den Konsens der Massen zu sichern. Zu den Kampfbedingungen der Arbeiterklasse schätzte er ein, dass "die herrschende Klasse in den kapitalistisch hochentwickelten Ländern politische und organisatorische Reserven besitzt, die sie z. B. in Russland nicht hatte". Er schlussfolgerte, dass diese Situation "von der revolutionären Partei eine sehr viel komplexere Strategie und Taktik, die weit von der entfernt ist, die für die Bolschewiki zwischen März und November 1917 notwendig war", erfordere. Dazu gehörten weiter solch strategisch bedeutsame Gesichtspunkte, dass nach der Machtergreifung des Faschismus die proletarische Revolution zunächst nicht mehr auf der Tagesordnung stand, die Arbeiterklasse ihre "politische Hegemonie" auf der Grundlage der Freiwilligkeit und Überzeugung erringen müsse, ihr Masseneinfluss voraussetze, das Sektierertum zu überwinden und sie die Eigenständigkeit der Bündnispartner respektieren müsse. Gestützt auf seine Faschismus-Analyse verband Gramsci den Kampf für den Sozialismus mit der Verteidigung bzw. der Eroberung der Demokratie.

Den Kern der Bündnispolitik Gramscis bildete seine These vom "Historischen Block", die er aus dem Kerker heraus vervollständigte und theoretisch begründete. "In keinem Land ist das Proletariat in der Lage, allein die Macht zu erobern und aus eigener Kraft zu behaupten. Es muss sich also Verbündete schaffen, das heißt, es muss eine solche Politik betreiben, die es ihm erlaubt, sich an die Spitze der anderen Klassen, die antikapitalistische Interessen haben, zu stellen und sie in den Kampf zum Sturz der bürgerlichen Gesellschaft führen". Ausgehend vom Bündnis der Arbeiter und Bauern als Grundlage entwarf er ein System von Bündnissen der Arbeiterklasse mit den Mittelschichten und der Intelligenz, in dem er dem Zusammengehen mit den katholischen Volksmassen einen hohen Stellenwert beimaß. Gramsci ging von Lenins Hinweisen für die italienischen Kommunisten auf dem III. KI-Kongress aus, denen zufolge Grundlage eines solchen Bündnisses sein müsse, dass die Partei im revolutionären Kampf "die Massen", die "Mehrheit der Arbeiterklasse" gewinnt. Diesen zähen Kampf um die Massen, um die Erringung der Hegemonie bezeichnete Gramsci als Stellungskrieg im Gegensatz zum in den revolutionären Nachkriegskämpfen geführten Bewegungskrieg, der in Russland in der Oktoberrevolution zur Eroberung der Staatsmacht, zur Errichtung der Diktatur des Proletariats geführt hatte.

Prophetisch war die Erkenntnis Gramscis, dass in der dem Faschismus eigenen Aggressivität nach außen "die Keime für einen Krieg liegen, der anscheinend wegen der italienischen Expansion ausgetragen wird, in dem jedoch in Wirklichkeit das faschistische Italien ein Werkzeug in den Händen einer der imperialistischen Gruppen sein wird, die um die Weltherrschaft ringen." Eine Einschätzung, die durch die spätere Haltung der Westmächte, Mussolini und danach Hitler als "Bollwerk gegen den Bolschewismus" zu nutzen als auch durch das Verhältnis zwischen dem faschistischen Regime in Berlin und Rom bestätigt wurde.

Gramscis Strategie setzte sich auf dem Lyoner Parteitag 1926 nach harten Auseinandersetzungen durch. Die "Thesen von Lyon", die faktisch ein Parteiprogramm darstellten, wurden von 90,8 Prozent der Delegierten gebilligt, die sich damit hinter das neue Zentralkomitee mit Gramsci an der Spitze stellten.

Das faschistische Regime erkannte sehr gut, welch große Gefahr die theoretische und praktische Arbeit Gramscis für seine Herrschaft bedeutete. "Dieser Kopf muss für 20 Jahre gehindert werden zu arbeiten", führte Mussolinis Propagandaminister Michele Isegre vor dem Tribunal aus. Das gelang nur teilweise. Es bedarf jedoch keiner näheren Begründung, dass dieser geniale Kopf in Freiheit zweifelsohne einen noch größeren Beitrag für die IKP, für den antifaschistischen Widerstand und auch die kommunistische Weltbewegung hätte leisten können. Denn schon das, was er im Kerker weiter erarbeitete, war ein ungeheures Pensum an theoretischen Erkenntnissen, orientiert auf den praktischen revolutionären Kampf. Gramsci, der einen Buckel hatte und von zwergenhafter Gestalt war, litt von früher Kindheit an unter einer schwachen Gesundheit. Im Gefängnis kämpfte er gegen diese Schwäche an und lieferte einen Beweis seiner enormen Energie und Willenskraft.

1937, kurz bevor er am 27. April 1937 verstarb, wurde Gramsci im Ergebnis einer internationalen Protestbewegung todkrank aus dem Kerker entlassen. Unter denen, die ihre Stimme erhoben, befanden sich Persönlichkeiten wie Romain Rolland und Henri Barbusse.

*

Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2013