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MEMORIAL/086: Vor 75 Jahren floh Nobelpreisträger Enrico Fermi vor Mussolini in die USA (Gerhard Feldbauer)


Vor 75 Jahren floh Nobelpreisträger Enrico Fermi vor Mussolini in die USA

Er baute den ersten Atomreaktor zur Herstellung der Atombombe

von Gerhard Feldbauer, Dezember 2013



Um der Verfolgung des Mussolini-Regimes zu entgehen, emigrierte der italienische Physiker Enrico Fermi mit seiner jüdischen Frau und zwei Kindern wenige Tage, nachdem er am 10. Dezember 1938 den Nobelpreises für Physik entgegen genommen hatte, von Schweden aus in die USA, wo er maßgeblich an Entwicklung und Bau der Atombombe mitwirkte. Der 1901 geborene Fermi, der in Italien, den Niederlanden und Deutschland Physik studiert hatte, fiel frühzeitig durch seine Experimentierfreudigkeit auf, mit der er sich vor allem der Theorie über Wesen und Wirken der kleinsten Bausteine der Materie zuwandte. Seit 1927 Professor für Physik verfasste er gleichzeitig mit dem Physiker M. Dirac ein Verzeichnis für Elektronen, das Fermi-Dirac-Statistik genannt wurde. Auch die physikalische Maßeinheit der Größenordnung des Atomkerndurchmessers - ein Millionenmilliardstel Meter - wurde später nach Fermi benannt.


Italiens industrielle Konzentration Basis des Forschungspotenzials

Grundlage des Wirkens von Wissenschaftlern wie Fermi war, dass Italien in dieser Zeit einen wirtschaftlichen Aufschwung erzielte, der dem westeuropäischer Staaten in nichts nachstand. Erreicht wurde das durch die Beseitigung sozialer Arbeiterrechte, darunter des Achtstundentages, und Lohnsenkungen. Die Industrieproduktion, die 1925 den Vorkriegsstand erreichte, überbot ihn 1929 um 40 Prozent. Das italienische Kapital, das die Rüstung für seine zahlreichen Expansionskriege auf dem Balkan und in Afrika forcierte, erlebte unter der faschistischen Diktatur eine bis dahin nicht gekannte Zentralisation und Konzentration. 1939 produzierten acht Unternehmen 77 Prozent der Elektroenergie, die zu 80 Prozent den Dampfantrieb der Maschinen ersetzte. Sechs Konzerne erzeugten 84 Prozent des Stahls, zwei 90 Prozent der Kunstfasern und vier 82 Prozent des gesamten Gummis. In der Textilbranche bestimmte die Kunstseide die Entwicklung, bei deren Erzeugung Italien im Weltmaßstab hinter den USA auf Platz zwei lag.


In der Tradition von Galvani, Volta und Marconi

In den 1930er Jahren bestimmte Fermi an der Spitze einer Gruppe italienischer Wissenschaftler in der modernen Physik den Fortschritt der Quantentheorie. Mit seinen Erkenntnissen stand er in der Reihe so bedeutender Physiker seines Landes wie Luigi Galvani, Alessandro Volta und Guglielmo Marconi. 1934 entdeckten Marie Curie und ihr Mann Frédéric Joliot die künstliche Radioaktivität. Bis dahin war nur die natürliche Radioaktivität bekannt, die beim spontanen Zerfall von Atomkernen entsteht. Im selben Jahr gelang Fermi an der Universität von Rom als erstem Physiker die künstliche Erzeugung von Radioaktivität durch Neutronen-Beschuss von Atomen. Er bewies, dass sich fast jeder Atomkern spalten lässt, wenn man ihn mit Neutronen beschießt, und dass außerdem langsam fliegende Neutronen sich besser als schnelle dafür eignen. Welche Bedeutung die Entdeckung Fermis hatte, zeigte sich vier Jahre später, als die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Strassmann von Fermis Versuchen der Kernspaltung ausgingen und sie bestätigten. Der Nobelpreis für Physik wurde Fermi daraufhin für seine Entdeckung radioaktiver Elemente durch Neutronenbeschuss und von Kernreaktionen mittels langsamer Neutronen verliehen.


Furcht vor dem römischen Rassismus der Herrenmenschen

Fermi lebte in seiner wissenschaftlichen Arbeit, war jedoch nicht blind für das, was unter der faschistischen Diktatur vor sich ging. Parallel zu den faschistischen Rassengesetzen in Deutschland entwickelt sich in Italien unter dem Einfluss der Ideologie von Julius Evola der römische Rassismus. Evola, ein Anhänger des berüchtigten deutschen Herrenklubs, aus dem nach Hitlers Machtantritt der Freundeskreis des Chefs des Sicherheitshauptamtes, Heinrich Himmlers, entstand, verherrlichte in seinem Hauptwerk "Die Söhne der Sonne" die Überlegenheit der arischen Rasse, Führerkult und Ordensstaat. Seine "Sonnensöhne" waren Herrenmenschen, neben denen nur Sklaven existierten, "Leute, die überhaupt keine Rechte haben", auch nicht "das auf Leben" und über deren Vernichtung "man keine Träne zu vergießen braucht". Im eroberten Äthiopien hatte Mussolinis Marschall Graziani dieser Ideologie folgend nach einem erfolglosen Attentat gegen sich im Februar 1937 allein in Adis Abeba 30.000 Menschen umbringen lassen und 1.000 Häuser niedergebrannt. Im Juli 1938 übernahm Mussolini die Rassengesetze Hitlerdeutschlands, und es begann auch in Italien die erbarmungslose Jagd auf Juden.


Für seine jüdische Frau und die Kinder

Fermi fürchtete das Schlimmste für seine jüdische Frau, die bekannte Schriftstellerin und Naturwissenschaftlerin Laura Capon und die beiden Kinder. Er nutzte die Privilegien, die ihm noch gewährt wurden, und brachte es fertig, Frau und Kinder zur Verleihung des Nobelpreises mit nach Stockholm zu nehmen. Die USA wussten, welch Koryphäe zu ihnen wollte. Um seine Sicherheit zu gewährleisten, beförderten sie Fermi und seine Familie in einem U-Boot in die Vereinigten Staaten. Dort wurde Fermi mit Forschern wie Albert Einstein, Nils Bohr, Otto Hahn und Robert Oppenheimer zu den Pionieren der modernen Physik und Wegbereitern der Herstellung der ersten Atombombe. Nach der Entdeckung der Uranspaltung durch Otto Hahn und Fritz Strassmann untersuchte er Möglichkeiten zur Erzeugung einer nuklearen Kettenreaktion.


Mitarbeit am Manhattan-Projekt Roosevelts

Der Schweizer Albert Einstein, der wegen seiner jüdischen Herkunft 1933 aus Deutschland in die USA emigrieren musste und am Institute for Advanced Study in Princeton arbeitete, schrieb am 2. August 1939 einen Brief an Präsident Roosevelt, in dem er mit weiteren führenden Wissenschaftlern darauf aufmerksam machte, dass in Hitlerdeutschland an der Herstellung von Uran 235 zur Herstellung von Atombomben gearbeitet werde. Danach beschloss die US-Regierung das so genannte Manhattan-Projekt zu Entwicklung und Bau einer einsatzfähigen Atombombe. Fermi wirkte in Chicago an dem Projekt mit und baute den ersten Atomreaktor, in dem er 1942 mit dem Kernreaktor Chicago Pile No 1 die erste kontrollierte Kettenreaktion zündete. Seit 1944 nahm er an den unter Leitung des US-Physikers Robert Oppenheimer in Los Alamos in der Wüste von Neu-Mexico durchgeführten ersten Atombombenversuchen teil.


Ohne militärische Notwendigkeit Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki

Ohne zwingende militärische Notwendigkeit (Hitlerdeutschland hatte kapituliert, Japans Niederlage war unausweichlich) befahl US-Präsident Truman, Nachfolger des unerwartet am 12. April 1945 verstorbenen Roosevelt, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945, die etwa 92.000 Menschen sofort töteten. Bis Jahresende starben weitere 130.000 Menschen, unzählige weitere an Folgeschäden, die bis heute anhalten. Entscheidender Beweggrund Trumans war, der UdSSR mit der militärischen Überlegenheit zu drohen, um sie den Weltherrschaftsplänen der USA gefügig zu machen. Angesichts dieses Einsatzes und der Drohungen zu weiteren Einsätzen, so gegen Vietnam und China, bereuten später an der Atomforschung beteiligte Wissenschaftler ihre Mitarbeit. Einstein, der selbst nicht direkt am Bau der Bombe teilgenommen hatte, setzte sich dafür ein, die Atomkraft nur friedlich zu nutzen. Eine Woche, bevor er am 18. April 1955 verstarb, unterschrieb er ein mit dem Philosophen und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russel verfasstes Manifest gegen einen Atomkrieg, dem sich weitere mit der Atomforschung befasste Wissenschaftler anschlossen.


Kein Einwand Fermis gegen die Atombombe

Enrico Fermi arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg im Kernforschungszentrum an der Universität von Chicago weiter an der Grundlagenforschung zur Kernphysik. Später wandte er sich auch der Erforschung kosmischer Strahlungen zu. Den Aktivitäten gegen die Atombombe schloss er sich nicht an. Erst als die USA, nachdem die UdSSR gegen die von ihnen ausgehende Bedrohung eine eigene Atombombe entwickelt und 1949 erprobt hatten, im November 1952 eine die Zerstörungskraft der Atombombe um das 700- bis 1000-fache übertreffende Wasserstoffbombe (H-Bombe) erprobt hatten, wandte er sich dagegen. Das bei H-Bombentests in den USA künstlich entstandene Element der Ordnungszahl 100 wurde dennoch nach ihm "Fermium" genannt. Er verstarb mit nur 53 Jahren am 28. November 1954 an Krebs.

Nach seinem Tod stiftete die Atomenergiebehörde der USA ihm zu Ehren einen mit 375.000 US-Dollar dotierten Enrico-Fermi-Preis. In Chicago wurde das National Accelerator Laboratory nach ihm benannt. In seinem Heimatland trägt die International School of Physics seinen Namen und die Italienische Physikalische Gesellschaft vergibt für Absolventen ihrer Kurse regelmäßig den Premio Enrico Fermi.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2013