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MEMORIAL/202: Mai 1954 - Schlacht um Dien Bien Phu besiegelte Niederlage Frankreichs in Indochina (Gerhard Feldbauer)


Die Schlacht um Dien Bien Phu im Mai 1954 besiegelte die Niederlage Frankreichs zur kolonialen Wiedereroberung Vietnams

Paris wollte Atombomben einsetzen
Aber Eisenhower meinte, die Franzosen sollten sich ruhig verschleißen

von Gerhard Feldbauer, 6. Mai 2019



Abbildung: 19th century print. Reproduction [Public domain]

Saigon, die spätere Ho-Chi-Minh-Stadt, wurde bereits 1859 von französischen Truppen eingenommen
Abbildung: 19th century print. Reproduction [Public domain]

Als der Chef des französischen Generalstabes, Paul Ély, am 20. März 1954 nach Washington flog, glich das einem Bittgang nach Canossa. Eine Woche vorher hatte der Befehlshaber der Vietnamesischen Volksarmee (VVA), Vo Nguyen Giap, zum Sturm auf die französische Dschungelfestung im Tal von Dien Bien Phu im nordwestlichen Bergland Vietnams angesetzt und den ersten der sechs Stützpunkte, das Fort "Beatrice", in nur zwei Tagen eingenommen. Vor dem Abflug aus Paris hat Ély noch erfahren, dass Giap zwei weitere Stützpunkte und eine Landebahn für Flugzeuge erobert hatte. Die Hälfte der Befestigungen, der ganze nördliche Cordon, befand sich damit in der Hand der Volksarmee. Fast alle Offiziere waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten. 200 Thai-Söldner hatten sich ergeben. Ein zur Verstärkung aus Hanoi angeflogenes Fallschirmjägerbataillon erlitt so starke Verluste, dass es kaum noch Kampfwert besaß. Es ging für Frankreich um Sieg oder Niederlage in der 1946 begonnenen kolonialen Wiedereroberung des 1945 unabhängig gewordenen Vietnam.


Die Entscheidungsschlacht

Dabei hätte der Waffenstillstand, der am 27. Juli 1953 in Panmunjon den dreijährigen Korea-Krieg mit einer Niederlage der USA beendete, zum Nachdenken anregen müssen. Zunächst hatte es auch so ausgesehen, dass sich unter realistisch denkenden Politikern der herrschenden Kreise in Frankreich die Erkenntnis durchsetzte, dass auch in Vietnam ein militärischer Sieg nicht mehr zu erringen war. Es mehrten sich die Stimmen, Verhandlungen über Indochina zustimmen, Nordvietnam der Viet Minh zu überlassen, sich dafür Südvietnam und den Einfluss in Kambodscha und Laos zu sichern. Doch zunächst setzen sich, beeinflusst aus den USA, noch einmal die reaktionärsten Kolonialkreise durch, die auf einen militärischen Sieg setzen. Ihr Mann wurde der General de Corps d'Armee, Henri Navarre, zuletzt Chef des Stabes beim Oberbefehlshaber der NATO in Zentraleuropa, der am 8. Mai 1953 das Kommando in Indochina übernahm. Er war der siebte Oberkommandierende seit 1946, ein Zeichen für den Verschleiß französischer Spitzenmilitärs in Indochina.


Graphik: Don-kun, NordNordWest [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

Der erste Indochinakrieg von 1946 bis 1954
Graphik: Don-kun, NordNordWest [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

Der ehrgeizige Vier-Sterne-General faßte eine spektakuläre Feldschlacht ins Auge, für die er das Terrain festlegte, auf dem er mit waffentechnischer Überlegenheit die Vietnamesische Volksarmee stellen und vernichtend schlagen wollte. Im Talkessel von Dien Bien Phu (was wörtlich übersetzt "Große Kreisstadt an der Landesgrenze" hieß), ließ er eine Festung ausbauen, die die VVA zum Angriff provozieren sollte. Aus der Festung sollte die Volksarmee dann zur Feldschlacht gestellt und vernichtet werden. Der Talkessel, der eine Ausdehnung von etwa 18 km Länge und acht km Breite hatte, war von steil aufragenden, über 1.500 Meter hohen Bergen umgeben. Durch das Tal schlängelte sich der Fluß Nam Youm. Dien Bien Phu bildete eine strategisch wichtige Position zwischen Nordvietnam, Südwestchina und Nordlaos.


Ein kleines Stalingrad im Dschungel

Während die Versorgung der Volksarmee auf dem Landweg in unzähligen Fahrradkolonnen und selbst zu Fuß gewährleistet wurde, führte nach Dien Bien Phu nur eine Straße aus Nordlaos über Lai Chau, die noch von den Franzosen kontrolliert wurde. Nach Hanoi und dem Delta des Roten Flusses, wo die gesamte Nachschubbasis für die Festung lag, bestanden also keine gesicherten Landverbindungen. Die Forteresse konnte von dort aus nur auf dem Luftweg versorgt werden. Die Schlacht von Dien Bien Phu ist später in zwar hinkenden, aber nicht ganz unberechtigten Vergleichen als ein kleines Stalingrad im Dschungel bezeichnet worden. Denn in der Endphase der Schlacht war Navarre nicht mehr in der Lage, die eingeschlossene Festung auch nur minimal mit Nachschub zu versorgen. Das ergab sich vor allem daraus, dass die vietnamesische Flak, mit der überhaupt nicht gerechnet worden war, die meisten Transportmaschinen vom Himmel holte. Und das, obwohl viele der eingesetzten amerikanischen B 26 von Air-Force-Piloten mit Koreaerfahrung geflogen wurden. Völlig überraschend für die Franzosen setzte die Volksarmee zum Beispiel nachts Flakscheinwerfer ein und erhöhte so ihre Abschüsse.


Eine waffenstarrende Festung

Kommandant der Festung wurde ein Oberst der Panzertruppen mit dem langen Namen Christian Marie Ferdinand de la Croix de Castries. Wie Navarre stand auch er im Ruf, ein kolonialkriegserfahrener Kommandeur zu sein. Er ließ den Talkessel zu einer waffenstarrenden Dschungelfestung samt einem Militärflugplatz mit mehreren Landebahnen ausbauen. Das Zentrum mit der Kommandozentrale wurde von einem Gürtel mit auf sechs Hügeln liegenden selbständigen Stützpunkten umgeben: Er begann im Nordwesten mit "Huguette", zu dem der Flugplatz gehörte, und zog sich im Uhrzeigersinn weiter über "Dominique", "Eliane", "Junon", "Claudine" und Françoise". Im Vorfeld der Festung wurden Außenforts angelegt. Auch sie trugen französische Mädchennamen: "Gabrielle" und "Anne Marie" im Nordwesten, "Beatrice" im Nordosten, und "Isabelle" im Süden, zu dem ein Ausweichflugplatz gehört. Dazwischen lagen zahlreiche Stellungen, bestückt mit schwerer Artillerie, die sich gegenseitig durch Feuer unterstützen konnten. Südlich der Kommandozentrale wurden Panzer konzentriert, auf den Flugplätzen standen über ein Dutzend Maschinen. Das aus pioniertechnisch stabil ausgebauten Bunkern bestehende Stützpunktsystem war durch ein Labyrinth aus Gräben verbunden. Die Angreifer erwarteten Stacheldrahtverhaue und Minenfelder, in denen auch Napalm-Behälter mit elektrischer Zündung untergebracht waren.


Foto: Starry, Donn A Mounted combat in Vietnam. DEPARTMENT OF THE ARMY. [Public domain]

Französische M24-Panzer bei der Schlacht um Dien Bien Phu
Foto: Starry, Donn A Mounted combat in Vietnam. DEPARTMENT OF THE ARMY. [Public domain]

In Paris hatte Navarre für De Castries zusätzlich vier Infanterieregimenter, ein Fallschirmjägerbataillon, 3.000 Offiziere und Unteroffiziere zur Festigung der mittleren und unteren Kommandostrukturen, 100 gepanzerte Transportfahrzeuge und einen Flugzeugträger mit Schlachtflugzeugen angefordert. Nicht alles, aber einen großen Teil davon bekam er geliefert. Der Flugzeugträger wurde ihm ausgeschlagen, was ihn während der Schlacht noch mehr von der ohnehin starken amerikanischen Luftunterstützung abhängig machte. Während der Schlacht waren rund 16.000 Mann eingesetzt. Es waren beste Truppenteile: Durchweg kiegserfahrene Kolonialbataillone, darunter fast die Hälfte Fallschirmjäger und viele Fremdenlegionäre, von denen nicht wenige während des Zweiten Weltkrieges der deutschen Waffen-SS-Division "Charlemagne" oder der "Legion des volontaires français contre le bolchévisme" angehört hatten. Während der Schlacht wurde die Besatzung durch etwa 170 Kampfflugzeuge unterstützt, die mit Napalm, Bomben und Bordwaffen die Stellungen der VVA angriffen. Selbst an gewisse Amüsements der Soldaten war gedacht und dazu ein sogenanntes "Bordell mobile de Campagne" eingeflogen worden.

Eine Strecke zwischen Dien Bien Phu und einer etwa 100 km nördlich ebenfalls an der laotischen Grenze liegenden Garnison Lai Chau bildete außerdem einen Sperrgürtel, der die Verbindung zwischen der VVA und der laotischen Befreiungsarmee, die ihre Operationen koordinierten, zunächst unterbrach. Navarre wollte die Volksarmee in Operationen aus der Festung und von Lai Chau aus getrennt schlagen. Er kalkulierte, das werde Giap zwingen, die Entscheidungsschlacht anzunehmen. In der Tat begann im Tal von Dien Bien Phu Anfang 1954 die letzte militärische Auseinandersetzung im seit acht Jahre dauernden französischen Indochina-Krieg. Sie endete allerdings ganz anders, als Navarre sie auf seinen Generalsstabskarten konzipiert hatte. Sie wurde für die Franzosen zur Kesselschlacht, die zur Niederlage Frankreichs in Vietnam und damit in ganz Indochina führte.


Graphik: BrunoLC [CC0]

Die Lage Dien Bien Phus in Vietnam - französische Luftversorgungsrouten sowie Anmarsch- und Nachschubwege der Viet Minh
Graphik: BrunoLC [CC0]

Am 11. März unternahm de Castries den ersten Versuch, die Vietnamesen zur Eröffnung der Schlacht zu provozieren. Im Morgengrauen ließ er vom nordöstlichen Fort "Beatrice" aus zwei Bataillone Fallschirmjäger in Richtung Bergstellungen der Volksarmee angreifen. Es wurde ein Desaster. Nach ein paar hundert Metern lagen die Angreifer unter schwerem Artilleriefeuer, es gab zahlreiche Tote und Verwundete, der Angriff stockte. Der Kommandant musste über Funk zum Rückzug blasen lassen. Der Angriff kostete 150 Tote und 800 Verwundete. 90 Soldaten wurden vermisst, sie waren entweder gefangen genommen worden oder übergelaufen. Dem Chef des Festungslazaretts, Oberstabsarzt Grauwin, wurde zum ersten Mal klar, dass er nur 42 Pritschen für Schwerverwundete zur Verfügung hatte. Noch wurden die Schwerverwundeten und sogar die Toten nach Hanoi ausgeflogen. Aber Grauwin fragte sich bereits, wie lange noch? Am Abend gab es noch einen Vorgeschmack auf den Ausgang der kommenden Kämpfe. Am Berghang blitzte das Mündungsfeuer einer 7,5er Kanone auf. Ihr Ziel war eine C-119 aus US-Beständen, die auf der großen Landebahn stand. Nach einem Dutzend Einschlägen stand sie in Flammen.


Eine kampferprobte Volksarmee

Der erste Angriff verdeutlichte, dass den Kolonialtruppen eine kampferprobte Armee gegenüberstand. Im November 1953 hatte die DRV die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Die Volksarmee zählt 350.000 Mann, gegliedert in sechs Infanteriedivisionen, eine sogenannte schwere Division sowie mehrere selbständige Regimenter, darunter Pioniere, Artillerie und Flak. An Waffen und Feuerkraft verfügte ein Bataillon der VVA über 500 Karabiner, 200 Maschinenpistolen, 20 MGs, acht Granatwerfer, drei rückstoßfreie Geschütze, drei Panzerbüchsen und war damit verglichen mit einem französischen Bataillon vollwertig ausgerüstet. Die VVA unterhielt Nachrichtenverbindungen über Funk und Kabel. Sie verfügte über die Erfahrungen von sieben Kriegsjahren und ein entsprechend geschultes Offizierskorps. Ihre Führung und ihre Stäbe waren in der Lage, die Operationen verschiedener Verbände zu planen und zu leiten und an mehreren Frontabschnitten gleichzeitig zu handeln. Was ihr fehlte, waren Luft- und Seestreitkräfte. Zunehmend entwickelte sie eine wirksame Flugzeugabwehr, musste jedoch oft noch unter Bedingungen der Luftherrschaft des Gegners kämpfen.


Die Schlacht um Hoa Binh

Die Wende in den Kämpfen mit der Kolonialmacht war bereits in der vom November 1951 bis Januar 1952 dauernden Schlacht um die nur zirka 60 km westlich von Hanoi liegende Stadt Hoa Binh, die sich mit der umliegenden Bergregion in den Händen der Volksarmee befand, eingeleitet worden. Um einen vernichtenden Schlag gegen die Viet Minh zu führen, eroberten starke Verbände der Kolonialtruppen Mitte November 1951 die Stadt. Die VVA zog sich fast kampflos in die Berge um Hoa Binh zurück, wo General Giap in kurzer Zeit drei Divisionen konzentrierte, welche Hoa Binh einkesselten und die Franzosen von ihren Nachschublinien abschnitten. In zahlreichen Gefechten wurde der Gegner vom Dezember 1951 bis Februar 1952 in der umgebenden Provinz geschlagen und eine Verstärkung der Einheiten in Hoa Binh verhindert. Nachdem das Kolonialkommando großsprecherisch verkündete hatte, "Hoa Binh wird gehalten, koste es, was es wolle", musste Mitte Februar der Rückzug angetreten werden. Unter großen Verlusten erreichten die Franzosen die Verteidigungslinie westlich von Hanoi.

Die Provinz befand sich wieder fest in der Hand der Viet Minh, die auch die strategische Straße Nr. 6 nach der Garnison Lai Chau und weiter nach Nordlaos unterbrochen hatte, was für die Schlacht um Dien Bien Phu von Bedeutung werden sollte. Überhaupt hätte die Niederlage bei Hoa Binh für die zwei Jahre später einsetzende Schlacht um die Dschungelfestung grundsätzliche Lehren vermitteln müssen, was aber im Stab des Expeditionskorps niemandem in den Sinn kam. Im Gegenteil herrschte im Kommando der Kolonialarmee gegenüber der Volksarmee eine dünkelhafte grenzenlose Überheblichkeit vor, in der diese und ihr talentierter Feldherr Vo Nguyen Giap völlig unterschätzt wurde. Von ihm könne man, so Navarre einmal geringschätzig, nicht mehr als die Führungsqualitäten eines französischen Sergeant-Majors erwarten. [1]


Foto: gemeinfrei via wikimedia commons

Vo Nguyen Giap (links) und Ho Chi Minh in Saigon - Aufnahme von 1945
Foto: gemeinfrei via wikimedia commons


Gegenspieler Vo Nguyen Giap

Dieser Giap war ein Militär des Volkes, der sich seinem Gegenüber nicht nur auf militärischem Gebiet haushoch überlegen erwies, sondern auch im Allgemeinwissen, obwohl er weder Universitäten noch Militärakademien absolviert hatte, wenn man davon absieht, dass er das Baccalauréat in Philosophie und den Jura-Referendar der Hanoier Universität besaß. 1929 gehörte er zu den Kommunisten, mit denen Ho Chi Minh am 3. Februar 1930 die KP Vietnams gründete. Schon als Schüler organisierte er Solidaritätsaktionen für die nach dem fehlgeschlagenen Aufstand von Yen Bai [2] verfolgten Nationalisten, wurde verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Kampfgefährten berichteten, dass er sich schon während seiner kurzen Zeit als Lehrer leidenschaftlich mit den Schlachten Napoleons befasste, die des chinesisch-japanischen Krieges verfolgte, das Werk des deutschen Militärs Carl von Clausewitz "Vom Kriege" studierte und Lawrence [3] las. Während der Schlacht um Dien Bien Phu wurde sichtbar, dass er sich auch mit dem Ersten Weltkrieg und besonders mit dem Stellungskrieg bei Verdun beschäftigt hatte.


Abbildung: Jan Schreiber [Public domain]

Originalausgabe des Buches "Vom Kriege" aus dem Jahr 1832
Abbildung: Jan Schreiber [Public domain]


Siegespfeiler Bodenreform

Im Dezember 1953 beschloss die Nationalversammlung der DRV das Dekret über eine Bodenreform. Das Land der französischen Kolonialisten und derjenigen vietnamesischen Großgrundbesitzer, die sich als Feinde der DRV erwiesen hatten, wurde entschädigungslos enteignet und an fünf Millionen arme Bauern verteilt. Großgrundbesitzer, die sich im Befreiungskampf auf die Seite der Volksmacht gestellt oder sich auch nur loyal verhalten hatten, wurden für Grund und Boden, Vieh und Technik entschädigt und durften ihr übriges Eigentum behalten. Die Bodenreform, mit der eine entscheidende Aufgabe der nationaldemokratischen Revolution durchgeführt und die feudalen Zustände beseitigt wurden, festigte die Volksmacht nicht nur politisch und ökonomisch entscheidend, sondern auch militärisch. Sie stellte das Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern, welche die Mehrheit der Kämpfer der VVA stellten, auf eine feste Grundlage. Die Soldaten der Marionettenarmee erhielten Bodenanteile zugesichert, wenn sie deren Reihen verließen. Nicht zuletzt davon ausgehend ist die vietnamesische Agrarreform gelegentlich mit der Sklavenbefreiung durch Abraham Lincoln als einer wesentlichen Voraussetzung für den Sieg der bürgerlichen Revolution im amerikanischen Bürgerkrieg gegen die Südstaaten verglichen worden.


Foto: gemeinfrei via wikimedia commons

Vo Nguyen Giap (links) mit Vietminh-Kämpfern, hier in einer Aufnahme von 1944
Foto: gemeinfrei via wikimedia commons

Vor Dien Bien Phu hatte Giap zwei Infanteriedivisionen, zwei Regimenter, zwei Abteilungen 10,5 Zentimeter Haubitzen und zwei weitere Abteilungen 7,5 Zentimeter Kanonen, dazu ein Flak- und ein Pionierregiment, insgesamt zirka 35.000 Mann zusammengezogen. Die Vietnamesen transportieren die schweren Geschütze - jedes wog über zwei Tonnen, in Einzelteile zerlegt -, was man im französischen Stab für unmöglich gehalten hatte, ohne Zugmittel, wo möglich, dienten ihnen lediglich auf den Gipfeln installierte Winden als mechanische Hilfsmittel, über die zerklüfteten Berge und brachten sie dort gegenüber der Festung in Höhlen in Stellung. Aus diesen Kasematten wurden die Geschütze zum Schuss herausgerollt und sofort wieder zurückgezogen. Besonders die rückstoßfreien Geschütze, die China aus in Korea erbeuteten amerikanischen Beständen geliefert hatte, eigneten sich dazu hervorragend. Mit ihrem geringen Gewicht waren sie einfach zu handhaben und der Stellungswechsel war in Sekunden möglich. In der Endphase der Schlacht konnte die eingeschlossene Festung von Hanoi aus nicht einmal mehr minimal mit Nachschub versorgt werden. Die vietnamesische Flak schoß die meisten Transportmaschinen ab. Und das, obwohl viele der eingesetzten US-amerikanischen B-26 von Air-Force-Piloten mit Koreaerfahrung geflogen wurden.

Den ersten Schlag führt Giap gegen Lai Chau, wo Einheiten der 316. Division die von zwei Bataillonen verteidigte Garnison angriffen und in nur zwei Tagen eroberten. Zum ersten Mal setzte die Volksarmee hier ihre schwere Artillerie ein und schoß den Stützpunkt sturmreif. Mit dem Fall von Lai Chau wurde das Zusammenwirken mit den laotischen Patrioten wieder hergestellt. Zeitgleich bedrohten Truppen der Pathet Lao (Freies Laos) zusammen mit vietnamesischen Einheiten in Nordlaos die Königsresidenz Luang Prabang, griffen in Zentrallaos an und besetzten dort die strategisch wichtige Stadt Thakhek am Mekong. In koordinierten Operationen eroberten laotische und vietnamesische Truppen ferner in Südlaos und Südvietnam beträchtliche Gebiete, darunter um die Stadt Attopeu.

Von strategischer Bedeutung war der weitere Vorstoß von Thakhek aus nach Süden zur alten Kolonialstraße Nr. 9, die über die Berge und den Ai Lao-Paß in einer Länge von über 300 km nach Osten bis an die vietnamesische Küste bei Quang Tri führte. Jahre später, während der berühmten Tet-Offensive 1968, und 1971 in der Schlacht um den US-Stützpunkt Khe Sanh, wird die Straße erneut strategische Bedeutung erhalten und zu einem Meilenstein der Amerikaner auf dem Weg in ihre Niederlage 1975 werden.


Foto: gemeinfrei via wikimedia commons

Saigon während der Tet-Offensive 1968
Foto: gemeinfrei via wikimedia commons

Entscheidend war weiter, dass jetzt im Norden Indochinas aus Provinzen Nordvietnams und Nordlaos' ein geschlossenes befreites Gebiet bestand. Um eine Ausbreitung dieser Region nach Süden zu verhindern und die Operation Dien Bien Phu nach Westen abzusichern, war Navarre gezwungen, Truppen aus dem Delta des Roten Flusses zur Verstärkung der Garnison von Luang Prabang zu entsenden, die ihm schon bald in der Festungsschlacht fehlten. Die Volksarmee nahm im Zusammenwirken mit den Truppen der Pathet Lao nunmehr faktisch in weiten Gebieten Vietnams und Laos' das Heft des Handelns in die Hand. De Castries Festung war ohne eine Landverbindung zu anderen Truppen, lag isoliert in der Talmulde und schon bald unter schwerem Artilleriefeuer der Volksarmee.

Nach der Niederlage De Castries vor Fort "Beatrice" setzte Giap zwei Tage später zum Gegenschlag an und griff als erstes "Beatrice" an. Nach schwerer Artillerievorbereitung - die Geschütze der Volksarmee verschossen über 9.000 Granaten - wurde der Stützpunkt innerhalb nur eines Tages und einer Nacht gestürmt. Dabei wurde die hier liegende Landepiste erobert. Viele französische Soldaten bekamen eine Ahnung davon, dass sie in einer tödlichen Falle saßen.

In Paris hatte Verteidigungsminister Jean Pleven seinem Generalstabschef eingeschärft, den Amerikanern reinen Wein einzuschenken, um eine "entscheidende Aufstockung" ihrer Hilfe auszuhandeln. Die USA mischten sich bereits ab 1950 verstärkt in Indochina und besonders in Vietnam ein. Nach der Niederlage Tschiang Kai-Scheks in China wurde Südostasien eine "lebenswichtige Sphäre" im Kampf gegen den Sozialismus in Asien, wie es später in den "Pentagon-Papieren" hieß. [4] Indochina wurde darin zum "Schlüsselgebiet" erklärt. In dieser Zeit wurde die "Dominotheorie" geboren, nach welcher der "Fall Indochinas" den "Verlust" weiterer Länder Südostasiens und des Pazifiks ("Dominosteine") nach sich ziehen würde. Der US-Imperialismus, der sein Ziel, die Erringung der Weltherrschaft, nie aufgegeben hatte, strebte als erstes in Asien die Vorherrschaft im Südosten des Kontinents an, was das Zurückdrängen Frankreichs einschloss. Frankreich war zwar nicht bereit, seine Herrschaft über Indochina mit den USA zu teilen, argumentierte aber im Interesse immer dringender erforderlich werdender Hilfe aus Washington, sein Krieg sei "integriert in den kalten Krieg".


USA seit 1950 beteiligt

Am 2. Februar 1950 nahmen die USA zur Marionettenregierung unter Bao Dai diplomatische Beziehungen auf. Am 16. Februar ersuchte Frankreich die USA mit der Begründung, die Lasten des Krieges nicht mehr allein tragen zu können, um langfristige militärische und wirtschaftliche Hilfe. Die Zustimmung erfolgte zunächst mit dem demonstrativen Besuch eines Flugzeugträgers und zweier Kreuzer im Hafen von Saigon. Es folgte die Ausarbeitung eines Hilfsprogramms, für das bis Juni 1951 als erste Finanzspritze 23,5 Millionen $ bewilligt wurden. Die französischen Streitkräfte in Indochina erhielten ab August 1950 neuere Kampftechnik, vor allem Flugzeuge, aus den USA. In Saigon wurde eine "Militärische Unterstützungs- und Beratergruppe der USA" (MAAG) mit zunächst 70 Mann stationiert.

Das reiche nicht mehr aus, betonte Pleven. Ély müsse den Amerikanern klar machen, dass "wir Dien Bien Phu und ganz Indochina verlieren, wenn die Amerikaner nicht eingreifen". Es gehe nicht mehr nur um Munition und Flugzeuge. Man brauche Truppentransporter mit Infanterie, Artillerie, Fallschirmtruppen, B-29-Bomber. Pleven schloss eine Atombombe auf Ho Chi Minhs rückwärtige Gebiete ein.


Napalm auf die Belagerer

Um Aufsehen zu vermeiden, war Ély mit einer Linienmaschine geflogen. Als er mit einer "Constellation" in Washington eintrifft, empfängt ihn auf dem Flugplatz der Chef der Vereinigten Stabschefs, Admiral Radford. Ély weiß, dass ihn ein kompetenter Gesprächspartner erwartet. Der ranghohe Militär hat die 7. US-Flotte kommandiert, war engster Vertrauter McArthurs, des Oberbefehlshabers in Südkorea und US-Präsident Dwight D. Eisenhowers Berater in Asienfragen. Im Pentagon gehörte er zu den Hardlinern. Nach dem Eingreifen der Chinesen in Korea hatte er über der Mandschurei ein paar Atombomben abwerfen wollen. Eisenhower, selbst Militär, hatte ein derartiges Risiko, das Moskau hätte auf den Plan rufen können, nicht eingehen wollen. Auch jetzt befürchteten Regierungskreise, so Radford, "eine massive Aufstockung" der amerikanischen Hilfe in Indochina könnte dort, ähnlich wie vorher in Korea, zum Eingreifen der Chinesen führen.


Die Operation "Geier"

Die Amerikaner waren aber nicht untätig geblieben. Noch vor Élys Eintreffen hatten C-119 begonnen, Napalm auf die Belagerer von Dien Bien Phu abzuwerfen. Jede Maschine transportierte etwa sechs Tonnen. Es waren Restbestände aus dem Korea-Krieg, die jetzt verbraucht wurden und sie kosteten die Franzosen natürlich gute Dollars. Der Gastgeber äußerte schließlich, dass er dafür wäre, den "großen Knüppel" anzuwenden, worunter die Atombombe zu verstehen war. Unter der Codebezeichnung "Volture" liefen dazu auch bereits Planungen für eine Operation "Geier". Um sie zu beginnen, müsse die französische Regierung ein "offizielles Ersuchen" stellen. Zum Schluss der langen Unterredung teilte Radford seinem Gesprächspartner mit, dass ihn am nächsten Tag der Präsident empfängt.

Vor dem Gespräch mit Ély ruft Eisenhower Radford mit den drei Stabschefs zu sich. Der Generalstabschef der Landstreitkräfte, General Matthew Ridgway, spricht sich gegen ein stärkeres Engagement in Vietnam aus. Er war nach McArthur der letzte Oberkommandierende in Korea und meinte darauf anspielend, ein massiver Einsatz der US-Air Force und der Marine würde "keine entscheidende Wende mehr bringen". Dazu wäre ein massiver Einsatz von Infanterie nötig, für den "gegenwärtig alle Voraussetzungen" fehlten. Operation "Volture" wird nicht erörtert. Eisenhower ist zufrieden, dass sein ohnehin fest stehender Entschluss Zustimmung findet. Die Franzosen sollen sich in Indochina ruhig verschleißen. Vietnam würde dann zu einer leichten Beute der USA werden.

Eisenhower hütet sich, gegenüber Ély auch nur andeutungsweise anklingen zu lassen, dass die Franzosen sich mit ihrer Niederlage abfinden müssen. Das soll Foster Dulles (der Außenminister) ihnen beibringen. Er sichert zu, den Einsatz von B-26 mit US-Piloten über Dien Bien Phu zu verstärken, ebenso die Hilfslieferungen an Waffen und Nachschub zu erhöhen und zwar "bis zu der von unseren französischen Verbündeten gewünschten Grenze". Es könnte nicht schaden, wenn die Air Force-Piloten noch einige Erfahrungen sammelten, bevor dieser französische Krieg zu Ende geht, soll Eisenhower intern geäußert haben.

Zurück in Paris wurde Ély mit der Realität konfrontiert. Zwei weitere Stützpunkte waren gefallen. In den folgenden Tagen fielen weiter die Festungsanlagen von "Gabrielle" und "Anne Marie", es folgen "Huguette" mit dem Flugplatz sowie "Dominique" und "Eliane". Der Abwurf von Lastenfallschirmen klappte immer seltener, denn die Viet Minh-Flak beherrschte inzwischen den ganzen Talkessel. Giap stand nur noch 1.500 Meter vor den zentralen Befestigungen. Schneller als in Washington erwartet übermittelte Paris Eisenhower die Bitte, unverzüglich die Operation "Geier" auszulösen. Die Amerikaner mussten nun Farbe bekennen und schoben dazu als Sündenbock Churchill vor. Außenminister Dulles teilte dem französischen Botschafter in Washington, Henri Bonnet, mit, dass für einen Atombombeneinsatz laut Vereinbarungen mit Großbritannien dessen Zustimmung erforderlich sei. Churchill aber lehne ab.

Der tiefere Hintergrund war, dass Washington das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes nicht eingehen wollte. Als ihre eigene militärische Situation später Ende der 60er Jahre in Vietnam immer auswegsloser wurde, erwog das Pentagon durchaus, kleine Atomwaffen gegen Nordvietnam und auch gegen die FNL in Südvietnam einzusetzen. Lediglich die Gegenschlagkapazitäten der UdSSR sorgten dafür, dass das unterblieb.


Erbitterte Kämpfe um jeden Bunker

In Dien Bien Phu näherte sich das letzte blutige Kapitel des französischen Kolonialkriegs in Indochina seinem Ende. Schilderungen über die Kesselschlacht haben hin und wieder den Eindruck erweckt, die Festung sei Giap nach Monate langer Belagerung wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen, es habe keiner großen Anstrengungen bedurft, sie schließlich einzunehmen. Das entspricht mitnichten der Realität. Vor den Befestigungsanlagen hatten die Angreifer drei bis fünf km Gelände zu überwinden. Giap wandte nun klassische Methoden genau des Stellungskrieges an, die aus dem Ersten Weltkrieg in Frankreich bekannt waren, von denen man nie gedacht hatte, die Vietnamesen würden sie überhaupt kennen, geschweige denn nun beherrschen. In Laufgräben arbeiteten sie sich Meter um Meter an die Stützpunkte heran. Dabei lagen sie unter dem Feuer der Artillerie und der Infanteriewaffen des Gegners. Sie standen den Franzosen dann so dicht gegenüber, dass Scharfschützen beider Seiten bereit lagen und oft zum Schuss kamen.


Foto: PIX [Public domain]

Französische Fremdenlegionäre auf Patrouille zwischen Haiphong und Hanoi, 1954
Foto: PIX [Public domain]

Über Megaphone forderte die Viet Minh die Kolonialsoldaten, unter ihnen viele Fremdenlegionäre algerischer und marokkanischer Herkunft, zur Kapitulation auf. Obwohl Gefangenen der Status der Genfer Konvention nicht zustand, da Frankreich die Viet Minh nicht als kriegführende Seite anerkannt hatte, wurde in den Aufrufen allen Angehörigen der Kolonialarmee zugesichert, dass sie als Gefangene gemäß der Konvention behandelt und nach der Aufnahme von Verhandlungen und der Vereinbarung eines Waffenstillstands in ihre Heimat entlassen werden. Doch nur 140 Kolonialsoldaten folgten während der Kämpfe bis Ende April den Aufrufen. Die französische Gräuelpropaganda, die Viet Minh mache keine Gefangenen, trug Früchte. Die meisten Kolonialsoldaten setzten sich verbissen zur Wehr. Bei der Eroberung der einzelnen Stellungen kam es zu erbitterten, auch für die Volksarmee verlustreichen Nahkämpfen. Einzelne strategisch beherrschende Abschnitte wechselten mehrfach den Besitz. Innerhalb der Stützpunkte "Dominique" und "Eliane" fanden tagelange Kämpfe um die einzelnen Bunker und Gebäude statt. Die Volksarmee sammelte hier Erfahrungen, die den Befreiungskämpfern 14 Jahre später während der Tetoffensive bei den Straßenkämpfen in Hue und in weiteren Schlachten zu Gute kamen.


Die humane Haltung der Volksarmee

Dabei zeugte von der humanen Haltung der Volksarmee, dass Giap den Chef des Sanitätswesens, Prof. Ton That Tung, persönlich anwies, alle Vorkehrungen zu treffen, um die hohe Zahl der zu erwartenden verwundeten und kranken Franzosen in Gefangenschaft sofort zu behandeln. Über die in den eroberten Stützpunkten und Stellungen vorgefundenen toten Franzosen wurden Listen angefertigt: Name, Nationalität, Heimatanschrift, Dienstnummer auf den Blechmarken und der Ort, an dem sie begraben wurden. Auch diese Order erging von Giap persönlich. In ihr hieß es, es seien Menschen, die zu Hause Familien haben, Eltern, Frauen, Kinder, die ein Recht darauf hätten, später zu erfahren, wo ihr Söhne, ihre Männer, ihre Väter gestorben sind. Welche Menschlichkeit bewiesen die vietnamesischen Freiheitskämpfer den Soldaten der Kolonialisten, die ihr Volk unterjocht, blutig unterdrückt und grausam misshandelt hatten.

Seit Anfang April konnten keine Transportflugzeuge mehr in Dien Bien Phu landen. Viele der mit Nachschubcontainern anfliegenden Maschinen, meist amerikanische B 26, wurden abgeschossen oder zum Abdrehen gezwungen. Insgesamt zerstörte die vietnamesische Flak in der Luft oder Artillerie auf den Pisten 62 Flugzeuge völlig und beschädigen 167. Zwischen den noch existierenden Stützpunkten bestanden keine zusammenhängenden Frontlinien mehr. Zum Kommandobunker de Castries trieben Pioniere der Volksarmee hangaufwärts unterirdische Gräben vor. Die im Frühjahr in tropischer Schwüle nieder gehenden starken Regenfälle füllten die Gräben mit stinkendem Wasser. Die vietnamesischen Soldaten, in ihrer Mehrheit Bauern und gewohnt im Reisfeld zu waten, kamen damit zurecht, für die Franzosen machte es die Situation noch unerträglicher. In der Festung fehlte es an allem: die Artilleriegranaten gingen zur Neige, die verbliebenen Panzer waren ohne Treibstoff, die Verpflegung wurde knapp, es fehlten Verbandsmaterial, Morphium, Antibiotika. Oberstabsarzt Grauwin ließ stündlich die Reihen der am Boden liegenden Schwerverwundeten nach Verstorbenen absuchen. Sein viel zu geringes Sanitätspersonal hatte der Kommandant durch die Prostituierten des Feldbordells verstärken lassen. Mit Lastfallschirmen abgeworfene Nachschubcontainer fielen meist in die Hände der Volksarmee. Dabei hatte Navarre seinem Festungskommandanten versprochen, täglich 150 Tonnen Nachschub einzufliegen oder per Fallschirm zu landen. Von den rund 10.000 Soldaten, welche die Besatzung noch zählte, waren nur noch knapp die Hälfte kampffähig, die anderen verwundet. Gerüchte sollten die Besatzung zum Ausharren anspornen. Von Laos aus rücke ein starkes Truppenkontingent an, um die Viet Minh in die Flucht zu schlagen. Andere Parolen sprachen vom Eingreifen der Amerikaner oder gar vom Einsatz von Atombomben.


Graphik: Nasiruddin [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Graphische Darstellung der Kräfteverhältnisse zwischen den Viet Minh und den französischen/pro-französischen Truppen
Graphik: Nasiruddin [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]


Beförderung vor der Kapitulation

Auch das ist gern mit Stalingrad verglichen worden, wo Generaloberst Paulus vor der Kapitulation zum Generalfeldmarschall befördert wurde. Sicher auch hier nochmals ein hinkender Vergleich. Doch in Paris verfiel man, um den Mythos von der heldenhaft kämpfenden Besatzung in Dien Bien Phu hochzuhalten, auch auf die Idee, Oberst de Castries zum Brigadegeneral zu befördern. Während der Kommandant am 15. April seine Ernennung per Funkspruch erhielt, wurden er und seine Besatzung in einem Tagesbefehl an die gesamte französische Armee als "leuchtende Beispiele" der Verteidigung der "Ehre Frankreichs" genannt. Mit einem Fallschirm wurden über dem Gefechtsstand die neuen Schulterstücke abgeworfen, aber auch dieser "Nachschub" fiel in die Hände der Vietnamesen. Bei der Beförderungsfeier wollte unter den Offizieren keine Stimmung aufkommen, was nicht nur daran lag, dass kein Cognac mehr vorhanden war.

Am 1. Mai nahm die VVA die letzten beiden Stützpunkte "Claudin" und "Junon" ein. Das weit südlich liegende Außenfort "Isabelle" war völlig isoliert worden und verhielt sich ruhig. Das französische Kommando in Hanoi regte nun einen Ausbruchsversuch an. Doch de Castries und sein Stab wussten, dass das ein selbstmörderisches Unterfangen wäre. Der Belagerungsring, den die Volksarmee inzwischen um den Rest der Festung gezogen hatte, war nicht zu durchbrechen. Der Oberkommandierende Navarre hatte den Kommandanten wissen lassen: "Ein französischer Offizier ergibt sich diesen Kerlen nicht, er hört schlimmsten Falls auf zu kämpfen." Danach verfährt de Castries nun. Am 6. Mai befiehlt er, alle der Geheimhaltung unterliegenden Dokumente zu verbrennen. Sein Stabschef lässt im Lazarett ein bettlakengroßes weißes Tuch anfertigen. Am 7. Mai übermittelt er an die noch über Funk zu erreichenden Einheiten, die Waffen unbrauchbar zu machen und bei weiteren Angriffen keinen Widerstand mehr zu leisten. Das Wort Kapitulation fällt nicht, aber alle verstehen, was gemeint ist. Über den letzten Stellungen und vielen Erdlöchern im Zentrum erscheinen weiße Fähnchen. Am Nachmittag geht auf Widerstandsnester, aus denen noch geschossen wird, eine letzte Salve der vietnamesischen Artillerie nieder. Dann stürmen die Soldaten, ohne noch auf Widerstand zu stoßen, zum Bunker de Castries vor, auf dem bereits das große schneeweiße Bettlaken liegt. Der General hat sich, bevor er sich ergibt, gewaschen, rasiert und eine neue Uniform angelegt. Ein vietnamesischer Zugführer nimmt ihn mit seinen Offizieren gefangen. Auf dem Bunker wird die rote Fahne mit dem Gelben Stern aufgezogen.


Foto: Vietnam People's Army, First publish in 1954. [Public domain]

Nach dem Sieg weht die vietnamesische Fahne über dem französischen Befehlsbunker
Foto: Vietnam People's Army, First publish in 1954. [Public domain]

Inzwischen hat sich bereits ein Offizier des Sanitätswesens der Volksarmee im Auftrag von Prof. Tung in das französische Lazarett begeben, wo sich Oberstabsarzt Grauwin und sein Personal bereits zum Marsch in die Gefangenschaft vorbereiten. Er beauftragt ihn, seine Arbeit fortzusetzen und ordnet an, ihm, der über keinerlei Verbandszeug und Medikamente mehr verfügt, alles Erforderliche zu Verfügung zu stellen. In der Nacht scheitert ein Ausbruchsversuch der Besatzung des letzten südlichen Stützpunktes "Isabelle", die danach widerstandslos in Gefangenschaft geht.


Valmy in Vietnam

Nach 55 Tagen war die Schlacht um Dien Bien Phu zu Ende. Die Niederlage läutete das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Vietnam und in ganz Indochina ein. Auf französischer Seite kostete sie noch einmal etwa 2.200 Tote, auf vietnamesischer Seite rund 8.000. Insgesamt fielen während des Kolonialkrieges schätzungsweise 92.000 französische Soldaten. Zusammen mit Verwundeten und Gefangenen waren es, die Verluste der Marionettenarmee mitgerechnet, 466.172 Mann. Auf vietnamesischer Seite kamen über 800.000 Menschen um, ein großer Teil Zivilisten, die Vergeltungsaktionen und Bombardements zum Opfer fielen. [5]

Nach den Ursachen des Sieges befragt, erklärte Giap gegenüber Le Monde: "Rufen Sie sich die Französische Revolution in das Gedächtnis zurück, erinnern Sie sich an Valmy und die schlecht bewaffneten Soldaten gegenüber der preußischen Berufsarmee. Trotzdem siegten Ihre Soldaten. Um uns zu verstehen, denken Sie an diese historischen Stunden Ihres Volkes. Suchen Sie die Realität. Ein Volk, das für seine Unabhängigkeit kämpft, vollbringt legendäre Heldentaten."


Abbildung: Horace Vernet [Public domain]

Die Schlacht von Valmy während der Französischen Revolution - Gemälde von Horace Vernet aus dem Jahr 1826
Abbildung: Horace Vernet [Public domain]


Fußnoten:

[1] H. Thürk: Dien Bien Phu. Die Schlacht, die einen Kolonialkrieg beendete. Berlin/DDR, 1988, S. 92.

[2] Aufstand der bürgerlichen Nationalistischen Partei Vietnams im Norden, der blutig niedergeschlagen wurde. Siehe Buch des Autors: Die nationale Befreiungsrevolution Vietnams. Pahl Rugenstein, Bonn 2007, S. 77 f.

[3] Thomas Edward Lawrence (1888-1935), britischer Offizier, Archäologe, Schriftsteller und Geheimdienstagent. Als Teilnehmer und Organisator an dem während des Ersten Weltkrieges von Großbritannien ausgelösten Aufstand arabischer Stämme gegen das Osmanische Reich Lawrence von Arabien genannt.

[4] Neil Sheehan (Hg.): Die Pentagon-Papiere. Die geheime Geschichte des Vietnamkieges. München/Zürich, 1971.

[5] Renate Wünsche, Diethelm Weidemann: Vietnam, Laos, Kambodscha, Berlin/DDR, 1977, S. 90.


Quellen: Vo Nguyen Giap: Dien Bien Phu, Hanoi 1962, Harry Thürk: Dien Bien Phu. Die Schlacht, die einen Kolonialkrieg beendete. Berlin/DDR 1988.

Gerhard Feldbauer schrieb zu Vietnam mehrere Bücher, zuletzt 2013 Vietnamkrieg, PapyRossa Köln, 2. Auflage 2019.

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2019

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