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MEMORIAL/232: "Historischer Kompromiss" zwischen Kommunisten und Christdemokraten im Italien der 70er Jahre (Gerhard Feldbauer)


War die Niederlage unausweichlich?

Die Regierungszusammenarbeit der Kommunisten mit den Christdemokraten im Italien der 70er Jahre
Chancen des Gelingens und Ursachen des Scheiterns

von Gerhard Feldbauer, 12. Juli 2021


Vor 45 Jahren erreichte die Italienische Kommunistische Partei (IKP) bei den Parlamentswahlen am 20./21. Juni 1976 33,8 Prozent und belegte hinter der führenden großbürgerlichen Democrazia Cristiana (DC), die auf 38,7 Prozent kam, den zweiten Platz. Um der wachsenden faschistischen Gefahr Einhalt zu gebieten, bot IKP-Generalsekretär Enrico Berlinguer danach dem Vorsitzenden der DC, Aldo Moro, eine Regierungszusammenarbeit an. Sie erhielt die Bezeichnung Compromesso storico (Historischer Kompromiss).

Bis heute ist das Bündnis der Kommunisten mit der großbürgerlichen DC als Regierungszusammenarbeit umstritten. War es berechtigt, angesichts der realen Gefahr, dass ein faschistischer Putsch ein entsprechendes Regime wie 1967 in Griechenland an die Macht bringen konnte, ein Regierungsbündnis zu bilden? Welche Chancen des Gelingens gab es? Wo liegen die Ursachen des Scheiterns? Dazu sollen in diesem Beitrag einige wesentliche Gesichtspunkte herausgearbeitet werden.

Auch wenn die Kräfte- und Bündniskonstellationen unter deutschen Verhältnissen heute nicht zu vergleichen sind, bieten sich von der politischen Konsequenz des Herangehens und der Vertretung des Fortschritts im Interesse des Volkes Lehren aus der Entwicklung in Italien an. Das ist der Anlass, sich dem Thema, wenn auch mit etwas Verspätung, zuzuwenden.


Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Enrico Berlinguer, Generalsekretär der Italienischen Kommunistischen Partei (Aufnahme von 1970)
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Faschistische Putschversuche mit NATO-Beistand

Dem Vorschlag Berlinguers waren mehrere faschistische Putschversuche vorausgegangen. Bereits nach der Bildung der Mitte-Links-Regierung 1963 unter Moro, die die 1947 mit den Kommunisten aus der Regierung vertriebenen Sozialisten wieder aufnahm, hatten diese Kräfte einen Umsturz geplant. Die Leitung sollte der Chef des Militär-Geheimdienstes SIFAR, General Giovanni De Lorenzo, übernehmen, der dazu das Kommando über das Carabinieri-Korps übernahm, mit dem er den Putsch auslösen wollte. Das Unternehmen scheiterte an der Wachsamkeit antifaschistischer Kräfte, die Moro stützten.

Im Dezember 1970 hatte der Vorsitzende der MSI-Partei [1], Valerio Borghese, wegen 800fachen Mordes an Partisanen als Kriegsverbrecher verurteilt, aber schon nach kurzer Zeit begnadigt, unter dem Code "Tora Tora" einen Militärputsch zur Errichtung eines faschistischen Regimes auslösen wollen. In den Umsturz waren etwa 400 hohe Militärs, darunter zahlreiche Generale und Truppenkommandeure, eingeweiht. [2] Die Chefs von drei Panzerdivisionen hatten zugesagt, Borghese zu unterstützen. Der Generalstab des Heeres erteilte den Befehlshabern der Militärbezirke vor dem geplanten Unternehmen Order, ihre Truppen für evtl. Operationen bereitzuhalten. Aus den NATO-Stäben erhielt Borghese Rückendeckung durch den Oberbefehlshaber der Seestreitkräfte Südeuropa, Admiral Birindelli. "Angesichts der Schwäche der italienischen Demokratie und der geringen politischen Stabilität in diesem Land" war der stellvertretende Generalsekretär der NATO Joerg Kastl aus der Bundesrepublik dafür, dass "die Kräfte der NATO auf dem italienischen Territorium durch zusätzliche Einheiten verstärkt werden sollten". Er empfahl, eine Eingreifdivision nach Italien zu verlegen. [3]


Eine "chilenische Lösung" für Italien

Auftrieb erhielten die italienischen Faschisten, als General Pinochet in Chile im September 1973 in einem blutigen Putsch die Regierung des Sozialisten Salvador Allende stürzte. Danach versuchte das MSI bereits im Dezember 1973 und dann nochmals im Frühjahr 1974 einen neuen faschistischen Umsturz. Beide Operationen erhielten als Decknamen das NATO-Symbol der "Windrose". Es gelang antifaschistischen und demokratischen Kräften wiederum, die Pläne zu enthüllen, bevor sie in Gang gesetzt werden konnten. Wenigstens 15 Generäle und Dutzende weitere hohe Offiziere befanden sich auch diesmal unter den Putschisten.

Bis Ende 1974 ergingen gegen 90 Rädelsführer Haftbefehle, gegen mehrere hundert wurde ermittelt. Auf sicher gestellten Mordlisten standen 1.617 Namen, darunter Enrico Berlinguer und Luigi Longo (IKP), Sandro Pertini, Präsident der Abgeordnetenkammer, und Francesco De Martini (ISP), die Künstler und Schriftsteller Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini. Im Falle des bei einem derartigen Blutbad zu erwartenden Widerstands der Arbeiter sollten Armee und Polizei gegen die "rote Gefahr" vorgehen. Am 31. Oktober 1974 wurde der Chef des Geheimdienstes SID, Vitorio Miceli, verhaftet und, wie der Paese Sera am 1. November 1974 berichtete, beschuldigt, "zusammen mit anderen Personen eine Geheimorganisation von Militär und Zivilpersonen mit dem Ziel gegründet zu haben, einen bewaffneten Staatsstreich auszulösen", um "die Beseitigung der gegenwärtigen Staatsordnung und der Regierung Italiens unter Verwendung eines Teils der Streitkräfte" herbeizuführen. Einer Forderung von US-Außenminister Henry Kissinger folgend wurde Miceli aus der Untersuchungshaft entlassen, obwohl es, wie die Neue Zürcher Zeitung am 2. Mai 1975 schrieb, dem "prominenten General" nicht gelungen war, "die Anschuldigungen Punkt für Punkt zu widerlegen".

Welcher Geist das Bild der Offiziere, die die Faschisten unterstützten, prägte, soll ein Blick auf den langjährigen Befehlshaber der NATO-Seestreitkräfte Europa Süd, Admiral Birindelli, zeigen. Der frühere Offizier des "Duce" bekannte sich zu seiner Vergangenheit und erklärte: "Ich glaube an die faschistischen Ideale. Ich bekenne mich dazu und ich bereue nichts." Er verherrlichte die Militärjunta in Griechenland und begrüßte den Sturz Allendes in Chile. Wenn er als neuer "Duce" an die Macht komme, werde er diese "mit großer Härte" [4] gebrauchen. Birindelli und Miceli waren keine Einzelfälle. Die Untersuchung in Sachen "Windrose" offenbarte, dass die Armee und ihr Geheimdienst regelrecht faschistisch unterwandert waren. Die Ergebnisse der Ermittlungen zogen jedoch keine Konsequenzen nach sich.

Das zeigte auch der MSI-Parteitag im Januar 1977 in Rom, auf dem sich Giorgio Almirante in wüsten antikommunistischen Ausfällen erging und den DC-Vorsitzenden Moro einen Filokommunisten nannte, der das Land den Roten ausliefere. Als er Pinochet zu feiern begann, brachen die 1.200 Teilnehmer in frenetischen Beifall aus, sprangen von den Plätzen, rissen den rechten Arm zum Führergruß empor, schrien das "Eja, eja alala", mit dem Mussolini sich einst begrüßen ließ, und skandierten "Pinochet, Pinochet". Es dauerte Minuten, bis die tobende Menge einhielt und Almirante, immer wieder von tosendem Beifall unterbrochen, weiter sprach und eine "chilenische Lösung" für Italien forderte und zum Studium der Erfahrungen Pinochets aufrief. [5] Juristische Reaktionen auf diese verfassungswidrigen Vorgänge gab es nicht.


Foto: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile, CC BY-SA 3.0 CL [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/cl/deed.en], via Wikimedia Commons

Der (1973 gestürzte) chilenische Präsident Salvador Allende
Foto: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile, CC BY-SA 3.0 CL [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/cl/deed.en], via Wikimedia Commons

Den Sturz Allendes, dem die chilenischen Christdemokraten, wo sie ihn nicht unterstützten, stillschweigend zugesehen hatten, nahm Berlinguer zum Anlass, Moro ein Bündnis auf Regierungsebene zur Abwehr eines faschistischen Putsches wie in Chile vorzuschlagen. Eine "demokratische Erneuerung" könne sich nur vollziehen, wenn sich Regierung und Parlament auf eine breite Mehrheit stützten, die stark genug sei, das Land vor einem reaktionären Abenteuer wie in Chile zu schützen. [6] Den Vorschlag unterbreitete Berlinguer, um den Symbolcharakter hervorzuheben, offiziell in Salerno, wo Togliatti 1944 die "Wende von Salerno" [7] eingeleitet hatte.


IKP in einer starken Position

Für die Verhandlungen befand sich die IKP in einer starken Position. Als zweitstärkste Fraktion belegte sie in der Abgeordnetenkammer 227 Sitze und stellte den Präsidenten, im Senat den Stellvertreter. Sieben Kommunisten leiteten Parlamentsausschüsse. In den Regionen beteiligte sich die Partei an fast der Hälfte der Regierungen. Die Vertretung der IKP und der ISP auf der Ebene von den Gemeinden bis zu den Landesparlamenten entsprach 52,8 Prozent der Wähler.

Moro ging auf Berlinguers Vorschlag ein, und zur Jahreswende 1978 wurde ein entsprechendes Abkommen geschlossen. Zunächst unterstützte die IKP eine Regierung aus der DC, Liberalen, Republikanern, Sozialisten und Sozialdemokraten im Parlament. Ihr direkter Eintritt in die Regierung war für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen. Sie hatte aber in der Koalition bereits in allen Fragen ein Mitspracherecht.

Zur Abwehr der faschistischen Gefahr in eine bürgerliche Regierung einzutreten, entsprach der politischen Situation. Da Berlinguer auf den Druck der Rechten, unter dem Moro in der DC stand, Rücksicht nahm, kam es zu keinen konkreten Vereinbarungen, wie der faschistischen Gefahr Einhalt geboten werden sollte. Es hätte beispielsweise darum gehen müssen, das in der Verfassung festgeschriebene Verbot der Wiedergründung der Mussolini-Partei in Gestalt des MSI durchzusetzen, den Staatsapparat, besonders Armee und Geheimdienste, von faschistischen Elementen zu säubern, ein Verbot der offen betriebenen faschistischen Propaganda, darunter Aufrufe zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung, wie sie das MSI unter der Losung einer "chilenischen Lösung" für Italien betrieb, zu erlassen. Nichts davon geschah jedoch.


Der Einfluss der sozialdemokratischen Strömung

In der IKP stand Berlinguer seinerseits unter dem Druck einer sozialdemokratischen Strömung, die sich seit Ende der 60er Jahre in der Partei herausgebildet hatte. Durch den Wahlerfolg erhielt diese Auftrieb und gewann bestimmenden Einfluss auf die Gestaltung des Historischen Kompromisses. Sie beherrschte vor allem den mächtigen parlamentarischen Apparat, der wiederum eng mit der Parteiführung verknüpft war. Ihre politisch-ideologische Grundlage bildete der sogenannte Eurokommunismus. Diese als revisionistisch eingeschätzte Strömung entstand seit Anfang der siebziger Jahre in einigen KPs der westlichen Länder (vor allem Italiens, Spaniens, Frankreichs, der Linkspartei Kommunisten Schwedens). Während Spaniens PCE unter dem späteren Sozialdemokraten Santiago Carrillo kaum über Deklarationen hinauskam und der PCF unter Georges Marchais zunehmend wieder auf Distanz ging, wurde die IKP unter Berlinguer zu ihrem Protagonisten.


Verbale Bekundungen

Die in Italien vereinbarten Reformen-Vorhaben sahen eine Förderung der Privatindustrie bzw. Reprivatisierungen, die Behebung des Nord-Südgefälles durch die Belebung der Landwirtschaft und Investitionen im Süden sowie die Steigerung der Produktivität vor. Das Steuersystem sollte reformiert werden. Es wurde die Schaffung neuer Arbeitsplätze vor allem für Jugendliche versprochen, was der Förderung des sozialen Konsums dienen sollte. In den meisten Fragen handelte es sich um verbale Bekundungen, die erst durch die Regierung bzw. das Parlament hätten beschlossen und verwirklicht werden müssen, wozu es, da die Rechten in der DC mit Premier Giulio Andreotti an der Spitze das Regierungsabkommen zum Scheitern brachten, nie kam. Wesentliche Interessen der Arbeiter wurden nicht berücksichtigt. Es gab keine Garantie für die bereits zu dieser Zeit den Angriffen des Industriellenverbandes Confindustria ausgesetzte Scala mobile. [8]

Ebenso spielte die Mitbestimmung der Gewerkschaften in den Betrieben, vor allem in den staatlichen Unternehmen, generell keine Rolle. Es fehlten Verbesserungen auf sozialen Gebieten, besonders im Gesundheitswesen und in der Bildung. Die IKP stellte keine Forderungen, die Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen zu verbessern, sondern fand sich im Gegenteil bereit, rigide Sparmaßnahmen der Regierung mitzutragen und mäßigend auf den Widerstand der Gewerkschaften dagegen einzuwirken. Davon zeugte im Februar 1978 der Kongress der drei Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIl in Rom. Mit der Erklärung, es sei "eine selbstmörderische Politik (...), den Betrieben überflüssige Arbeitskräfte aufzuzwingen", da die italienische Wirtschaft dadurch "allmählich in die Knie" gehe, wandte sich der CGIL-Vorsitzende Lama von der IKP faktisch gegen die Cassa Integrazione. [9] Außerdem bekundeten die Gewerkschaften ihre Bereitschaft, im Ausgleich für die vorgesehenen Reformen den Kündigungsschutz zu lockern.


Spielregeln der bürgerlichen Demokratie anerkannt

Die IKP proklamierte auf der Grundlage der Anerkennung der "Spielregeln der bürgerlichen Demokratie" und ihrer Integration in deren Parteiensystem einen eigenen "Weg zum Sozialismus", übernahm das bürgerliche Staatsmodell, für das sie lediglich eine "demokratische Transformation" forderte, und erkannte die kapitalistische Marktwirtschaft an. [10] Berlinguer erklärte, nicht nur die Bündnisverpflichtungen Italiens zu respektieren, sondern bekundete obendrein, die NATO eigne sich unter bestimmten Voraussetzungen als "Schutzschild" eines italienischen Weges zum Sozialismus. [11] Intern versuchte die IKP mit der Argumentation, damit sollten die Amerikaner beruhigt werden, diese Aussagen abzuschwächen, was jedoch an deren schwerwiegendem Gewicht nichts änderte. Ähnlich wurde bei der Zustimmung zu dem DC-Rechten und ausgesprochenem Mann der Amerikaner, Giulio Andreotti, Ministerpräsident der Regierung mit der IKP, argumentiert. [12]


IKP gespalten

Die IKP war sowohl in der Führung als auch an der Basis in ihrer Haltung zur Regierungszusammenarbeit mit der DC gespalten. Bereits Mitte der 60er Jahre hatte es in und außerhalb der Partei Widerstand gegen die reformistischen Tendenzen gegeben. Im November 1969 schloss das ZK der IKP die unter dem Namen "Manifesto" entstandene innerparteiliche Opposition aus. Insgesamt wurden etwa 10.000 Mitglieder ausgeschlossen oder verließen die Partei, unter ihnen die legendären Linken Luigi Pintor und Rossana Rossanda, die anschließend die Zeitung "Manifesto" gründeten.

Dass die Partei sich vom linksextremen Terror von Gruppen wie den Brigate Rosse distanzierte, war verständlich. Nicht aber, dass linksradikale Organisationen wie die Lotta Continua (Ständiger Kampf), die den sogenannten bewaffneten Kampf führten, mit faschistischen Terroristen auf eine Stufe gestellt wurden. Die Manipulierung des Linksextremismus wurde von der IKP nicht erkannt bzw. nicht publik gemacht. Nachdem radikale Linke den CGIL-Vorsitzenden Luciano Lama (IKP) im März 1977 auf einer Gewerkschaftskundgebung auspfiffen und es zwischen diesen und den IKP- und Gewerkschaftsmitgliedern zu einer Schlägerei kam, gebrauchte Lama ihnen gegenüber den Begriff des "neuen Faschismus".

Während die "Manifesto"-Gruppe den Compromesso storico ablehnte und die Partei verließ, lehnten andere die Zugeständnisse der IKP an die "Austeritätspolitik" der Regierung ab. [13] Das brachte Luigi Longo [14] auf der ZK-Tagung im Oktober 1976 zum Ausdruck, als er kritisierte, dass die Entscheidungen "von oben" getroffen werden. Man verliere "den Kontakt mit der Basis", die "Partei wird geschwächt". Es werde gefragt, ob die von den Arbeitern verlangten Opfer tatsächlich zu den erwarteten Reformen führten oder nur zur Stärkung des Monopolkapitalismus und seiner Diener, den Christdemokraten.

Im Februar/März 1977 kam es in Norditalien, besonders im roten Bologna, zu anhaltenden Protesten der Studenten gegen den reformistischen Kurs. [15] Auf dem Mitte März tagenden Zentralkomitee, an dem der erkrankte Berlinguer nicht teilnahm, wurden "ernste Zweifel" geäußert, dass der Historische Kompromiss eine Alternative darstelle. Er wurde als Klassenzusammenarbeit mit der DC charakterisiert. Die Partei verteidige den "bestehenden politischen Rahmen", es bestehe die Gefahr "einer historischen Niederlage", eines "gesellschaftlichen Umschwungs nach rechts", hieß es. Politbüromitglied Gian Carlo Pajetta sprach "von Gefahren und Schwierigkeiten", die Regierung Andreotti sei "unangemessen für die Bedürfnisse des Landes". Er forderte, die Arbeiterbewegung "in eine bewusste und einheitliche Schlacht" zu führen, "eine Wende sei nur möglich, wenn für den politischen Fortschritt Massenkämpfe geführt würden". Giorgio Napolitano, führender Exponent der sozialdemokratischen Strömung, ignorierte in seinem Schlusswort die Kritik und verlangte, so schnell wie möglich das System der Stimmenthaltung im Parlament aufzugeben und die Zusammenarbeit mit der DC zu vertiefen, auch wenn das noch nicht zum direkten Eintritt in die Regierung führe. [16]


Lehren der Klassiker missachtet

Zum Widerstand der IKP-Basis ist ein Wort zur Abspaltung der "Manifesto"-Gruppe angebracht. Wie bereits bei der Abspaltung des PSIUP von der ISP [17] stellte sich hier - auch unter dem Gesichtspunkt der Folgen, die sie beförderte - die Frage, ob die Trennung nicht voreilig vollzogen wurde. Während Opponenten um Luigi Longo auf die Einheit der Partei setzten, steuerte "Manifesto" auf einen Bruch zu. Die Ausschlüsse erfolgten auf Betreiben der Revisionisten, die damit die innerparteiliche, gegen sie gerichtete Opposition schwächten und ihr damit ein Übergewicht bei der Gestaltung des Historischen Kompromisses verschafften. Die Opponenten um Longo wurden im Stich gelassen und damit die Chancen der Zurückdrängung der Revisionisten verspielt oder zumindest vermindert.

Dabei sollte auch in Betracht gezogen werden, dass sich "Manifesto" mit der Namensgebung auf das Kommunistische Manifest von Marx und Engels berief, während gleichzeitig grundlegende Erfahrungen von ihnen missachtet wurden. Sie stellten sich u. a. in einer durchaus ähnlichen Situation, nämlich nach der Gründung der einheitlichen Sozialistischen Arbeiterpartei 1875 in Gotha, deren Programm nicht frei von opportunistischen Auswüchsen war, nicht die Aufgabe, eine neue, von revisionistischen Einflüssen freie revolutionäre Arbeiterpartei zu schaffen. Sie betonten die Bedeutung der erreichten Einheit und kämpften darum, "die richtige politische Linie in der deutschen sozialdemokratischen Partei" durchzusetzen. Es gelang in dieser Periode, die Opportunisten zurückzudrängen und zu erreichen, dass das praktische Auftreten der Partei durch revolutionäre Aktionen bestimmt wurde. Sie kämpfte erfolgreich gegen das Sozialistengesetz und fand den richtigen Weg zu den Massen. [18]


Foto - Halbporträt: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Aldo Moro (Aufnahme von 1978)
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons


Zum Scheitern gebracht

Moros zweite Öffnung nach links stieß in den USA auf erbitterten Widerstand. Führende US-Politiker, der Geheimdienst CIA und die NATO inszenierten mit der italienischen Reaktion, eingeschlossen die Faschisten, gegen Moro ein Mordkomplott, dem dieser nach seiner Entführung am 18. März 1978 55 Tage später, am 9. Mai, zum Opfer fiel. An seiner Inszenierung und Ausführung wirkten Politiker wie US-Außenminister Kissinger, der italienische Ministerpräsident Andreotti, die CIA und die NATO-Geheimtruppe Gladio mit italienischen Geheimdienst- und Armee-Kreisen in Komplizenschaft mit den Faschisten des Landes mit. Als Werkzeug ließen sich die von Polizei- und Geheimdienst-Agenten unterwanderten und entsprechend manipulierten linksextremen BR missbrauchen.

Andreotti lehnte die von den Entführern geforderte Verhandlungen - die bis dahin immer geführt wurden, was auch danach wieder gängige Praxis war [19] - ab und lieferte seinen Parteivorsitzenden dem sicheren Tod aus. Um in der Regierungsmehrheit verbleiben zu können, schloss sich die IKP dieser Linie zunächst an und überließ ihren Bündnispartner seinem Schicksal. Mit ihren Stimmen verabschiedete das Parlament fünf Tage nach dem Anschlag die Legge Reale (Notstandsgesetze), die weit über die erforderlichen Befugnisse hinausgingen. Sie erlaubten Polizeiverhöre ohne Anwalt, längere Festnahmezeiten ohne Haftprüfungstermine, Telefonüberwachung ohne richterliche Verfügung. Sie erweiterten und verschärften die umstrittenen Repressivmaßnahmen, die Innenminister Francesco Cossiga seit seinem Amtsantritt 1976 bereits erlassen hatte: Einführung des Paragraphen über "terroristische Vereinigungen" in das Strafrecht, Hochsicherheitstrakte nach dem Vorbild von Stammheim und Anhebung der Höchstdauer der Untersuchungshaft. Generell schränkten die Notstandsgesetze und -verordnungen die Bürgerrechte ein und übertrugen den bewaffneten Organen und der Justiz weitreichende Vollmachten, die unterschiedslos auch gegen oppositionelle Kräfte angewendet werden konnten, was auch in bedenklicher Weise erfolgte.


Ergebnis: Wende nach rechts

Im Januar 1979 verließ die IKP die rechte Regierungskoalition. Der Historische Kompromiss war, wie Berlinguer auf dem Parteitag im März 1979 eingestand, gescheitert. [20] Es gab keinerlei soziale oder ökonomische Reformen. Statt einer Zurückdrängung der faschistischen und rechten Gefahr kam es zu einer Verschiebung der Regierungsachse nach rechts, erhielten in der DC rechte und mit den Faschisten paktierende Kräfte den bestimmenden Einfluss auf die Politik. Die politische Bedeutung der IKP ging spürbar zurück. In den folgenden Jahren verlor sie etwa ein Drittel ihrer 2,2 Millionen Mitglieder. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 1979 war ihre Stimmenzahl zum ersten Mal seit Kriegsende rückläufig. Sie verlor gegenüber 1976 mit einem Schlag fast vier Prozent ihrer Wähler, bis 1987 rund acht. Das war auch ein Ergebnis der antikommunistischen Hetze, in der die Partei als Urheberin des Terrors der BR diffamiert wurde.

Es folgte eine Welle der Repression. Sie richtete sich mit aller Wucht vor allem gegen linke und als linksradikal apostrophierte Intellektuelle. Der angesehene Professor Antonio Negri wurde angeklagt, Chef der RB zu sein und die Entführung Moros organisiert zu haben. Tausende Linksradikale, viele von ihnen, ohne sich eines Vergehens strafbar gemacht zu haben, wurden in die Gefängnisse geworfen, zirka 100.000 Personen von den polizeilichen Ermittlungen erfasst, rund 40.000 angeklagt, etwa 15.000 verurteilt.

Dieser Enthauptungsschlag führte zur heutigen tiefen Krise der Linken, zur Liquidierung der IKP, ihrer kaum vorstellbaren Zersplitterung. Das ist, um zur Einleitung zurückzukommen, eine entscheidende Lehre, die der Compromesso storico für eine linke Beteiligung an bürgerlichen Regierungen bis heute vermittelt.


Anmerkungen:

[1] Movimento Sociale Italiano, im Dezember 1946 mit Billigung der USA als Nachfolger der Mussolinipartei gegründet.

[2] Harald Irnberger: Die Terrormultis, Wien 1976, S. 197 ff.

[3] "Süddeutsche Zeitung", 22. Juni 1970.

[4] Irnberger, S. 208 ff.

[5] Der Autor war auf dem Parteitag anwesend. Siehe "Umbruchsjahre in Italien. Als Auslandskorrespondent in Rom 1973 bis 1979", Köln 2019, S. 68 ff.

[6] "Rinascita" (theoretische Zeitschrift der IKP), 28. Sept., 5. u. 12. Okt. 1973.

[7] Eintritt der IKP mit den Sozialisten und den bürgerlichen Oppositionsparteien in die nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 unter Marschall Pietro Badoglio gebildete Regierung, die damit eine antifaschistische Ausrichtung im Kampf gegen das Besatzungsregime Hitlerdeutschlands erhielt.

[8] Gleitende Lohnskala, mit der die Löhne vierteljährlich automatisch an die Inflationsrate angepasst wurden.

[9] Da es in Italien kein Arbeitslosengeld gibt, setzten die Gewerkschaften 1968 die Einrichtung der Cassa integrazione guadagni durch. Sie gewährte Lohnausgleichszahlungen an die Beschäftigten (Arbeitslose und Kurzarbeiter) in Höhe von 80 Prozent des Nettolohnes.

[10] Giuseppe Chiarante: Da Togliatti a D'Alema, Rom 1997, S. 121 ff.; Wolfgang Leonhard: Eurokommunismus, Herausforderung für Ost und West, Gütersloh 1978, S. 205 ff.

[11] "Corriere della Séra", 15. Juni 1976; Giorgio Galli, Storia del PCI, Mailand 1993, S. 266 f.

[12] Siehe "Umbruchsjahre", a. a. O., S. 86 f.

[13] Edoardo Novelli: C'era una volta il PCI, Rom 200, S. 162 ff.

[14] Auf dem 13. Parteitag der IKP im März 1972 hatte Berlinguer Longo als Generalsekretär abgelöst. Für den schwerkranken Longo, der einen Schlaganfall erlitten hatte, wurde die Funktion des Parteivorsitzenden neu eingerichtet.

[15] "Unita", 21. Okt. 1976; 14. März 1977.

[16] "Unita", 16./17. März 1977.

[17] Als Reaktion auf den Eintritt der ISP 1963 in die Regierung von Moro, den sie ablehnten, verließ eine Gruppe mit Lelio Basso und Emilio Lusso an der Spitze die Partei und gründete im Januar 1964 die Italienische Sozialistische Partei der proletarischen Einheit (PSIUP). Auf ihrem 1. Kongress im Dezember 1964 zählte sie mehr als 150.000 Mitglieder.

[18] Marx's Kritik am Gothaer Programm, MEW, Bd. 19, Berlin/DDR 1962, S. 15-32, Vorwort der Herausgeber, S. XI bis XIII.

[19] So verhandelten 1981 nach der Entführung des stellvertretenden Oberbefehlshabers der NATO-Landstreitkräfte Südeuropa, General James Lee Dozier, durch die BR die Geheimdienste mit den Entführern und bereiteten gleichzeitig zur Befreiung eine Militäraktion vor, an der die Mafia mitwirkte. Sergio Flamigni: La Tela del Ragno. Delitto Moro Mailand 1993, S. 313.

[20] Unita, 31. März bis 3. April 1979.

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Quelle:
© 2021 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 24. August 2021

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