Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

NEUZEIT/173: Novemberrevolution 1918 - Der zweite Tag (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 6. November 2008

Der zweite Tag

November 1918 in Deutschland: »Die größte aller Revolutionen« -
die heute fast vergessen ist und mit der größten Niederlage endete

Von Klaus Gietinger


»Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest gebaute, mit soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen wurde.« Mit diesen Worten feierte Theodor Wolff, Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts, am 10.11.1918 die Revolution, die einen Tag zuvor stattgefunden hatte: Sie ist als Novemberrevolution in die Geschichte eingegangen. In der heutigen Öffentlichkeit spielt sie so gut wie keine Rolle, und auch in historischen Büchern führt sie ein Mauerblümchendasein. Dabei beziehen sich mindestens zwei geschichtliche Ereignisse in Deutschland direkt auf sie: Hitlers und Ludendorffs Versuch, am 9.11.1923 das Ganze wieder umzukehren, und, als dies 1933 gelungen war, am 9.11.1938 den Juden jegliche Schuld in die Schuhe zu schieben und sie dafür - einstweilig - mit einem großen Pogrom büßen zu lassen.


Gegen den Krieg

Der 9.11.1918 war fast unblutig verlaufen. Doch Wolffs Namensvetter, der Dramatiker Friedrich Wolf, machte später in seinem Stück »Die Matrosen von Catarro« klar, welcher Tag einer Revolution wichtig ist: der zweite, und der fiel, wie zu zeigen sein wird, nicht nur mit dem Datum 10.11. zusammen.

Die Novemberrevolution war eine direkte Reaktion der Unterschichten auf den im wesentlichen vom deutschen Imperialismus verschuldeten Ersten Weltkrieg. Die unrühmlichste Rolle hatte dabei die Führung der SPD gespielt. Denn spätestens seit dem Tod des Parteivorsitzenden August Bebel 1912 steuerten die oligarchischen Leitungen der SPD und der Gewerkschaften unter Gustav Bauer und Carl Legien auf die Akzeptanz des Krieges und des imperialistischen Kriegskurses der herrschenden Schichten und der Militärkaste zu.

In einer von der SPD-Geschichtsschreibung heute noch unterschlagenen Rede gab Gustav Bauer am 29.11.1913 die Marschrichtung vor: »Die Kriegsfrage ist kein prinzipielles, sondern ein taktisches Problem. Es gilt für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könnte oder nicht, und danach ist ihr Verhalten einzurichten.«(1) Krieg müsse man also akzeptieren, wenn er für die Arbeiter was bringe, und da man nicht sagen könne, ob es ein Angriffkrieg sei oder nicht und müsse man immer mitmachen. Diese Erkenntnis setzte der Vorstand unter Friedrich Ebert im August 1914 konsequent in die Tat um. Er stützte ohne Wenn und Aber den Kriegskurs des halbabsolutistischen deutschen Imperialismus und zog mit der Parole vom »Verteidigungskrieg gegen den russischen Bären«, die - wie wiederum neuere Untersuchungen beweisen - gar nicht kriegsbegeisterten, sondern eher ratlosen und resignierten Arbeitermassen auf seine Seite. Kritiker dieses Kurses wurden mit rassistischen Beleidigungen belegt und schließlich, allen voran Karl Liebknecht, aus Fraktion und Partei geworfen. Es entstanden zwei Parteien: die Ebertianer, genannt Mehrheitssozialdemokraten (MSPD), und die Kriegsgegner, genannt die Unabhängige Sozialdemokratie (USPD). MSPD-Kader und rechte Gewerkschafter überboten sich dabei in chauvinistischen und annexionistischen Sprüchen, reisten im Kriegsgebiet umher, lobten die Greueltaten der deutschen Armee in Belgien oder setzten sich für die dauerhafte Besetzung Polens ein, weil die Juden dort unter deutschem Protektorat besser geschützt seien. Daher schien ihnen jeder Massenstreik gegen den Krieg ein absolutes Übel.

Dem entgegen stand seit 1916 die USPD mit einem rechten Flügel, dem der Massenstreik ebenfalls suspekt war, der aber unbedingt Frieden wollte. Dann ein radikaler, sehr lautstarker linker Flügel, die Spartakusgruppe mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie Wilhelm Pieck. Und schließlich gab es noch eine Gruppe, die in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar war, die aber über ein hervorragendes Netzwerk in den Betrieben verfügte: die Revolutionären Obleute unter der Führung des Metallarbeiters Richard Müller und zeitweise des Klempners Emil Barth.

Neuere Untersuchungen zur Rolle dieser Bewegung innerhalb der Betriebe belegen, daß sie bei den Massenstreiks wie beim Ausbruch der Revolution eine wesentlich wichtigere Rolle gespielt haben, als ihnen bislang zugestanden worden ist.(2) Während die BRD-Geschichtsschreibung die Rolle der USPD, der Obleute und die von Spartakus fälschlicherweise marginalisierte, überschätzte die DDR-Geschichtsschreibung die Rolle der Gruppe um Luxemburg und Liebknecht.


Unterschiedliche Taktiken

Beide radikale Gruppen, Obleute wie Spartakus, arbeiteten zeitweise zusammen, hatten aber unterschiedliche Taktiken, was immer wieder zu Konflikten führte. Die Obleute waren Praktiker, Netzwerker, die innerbetrieblich agierten und die Öffentlichkeit scheuten, vorsichtig auf die Stimmungen innerhalb der Arbeiterklasse horchten, deswegen aber keineswegs gewaltlos vorgehen wollten. Sie machten im Laufe des Krieges eine deutliche Radikalisierung durch.

Liebknecht und Luxemburg wiederum waren (auch aus dem Gefängnis heraus) Öffentlichkeit suchende, auf der Klaviatur der politischen Bühne spielende Menschen, die, stark theoretisch geformt, auf sich steigernde Massenaktionen qua Streik hofften.

Liebknechts heroische Tat vom 1. Mai 1916 - er ließ sich auf dem Potsdamer Platz bei einer illegalen Massenaktion gegen den Krieg verhaften - entbehrte nicht einer gewissen Eitelkeit, war aber gleichwohl ein Fanal gegen Krieg und Imperialismus. Diese Aktion machte ihn einerseits unglaublich populär (ähnlich wie Luxemburgs Zuspruch bei den Massen nach ihrer Verurteilung wegen ihrer Antikriegsrede in Frankfurt 1914 gewachsen war), hatte aber andererseits durchaus Einfluß auf die folgenden Massenaktionen. In mehreren großen Streiks seit 1916 erschütterte die von Richard Müller und den Revolutionären Obleuten praktisch geleitete, von Luxemburg und Liebknecht theoretisch und mythisch angefeuerte Arbeiterklasse den »Kriegssozialismus« der deutschen Militär- und Rüstungsmaschinerie.

Als im Januar 1918 schließlich bei einem Streik, angeleitet von den Obleuten und bestärkt von Spartakus und den Linken in der USPD, 400000 Werktätige die Arbeit niederlegten, wußte die MSPD-Oligarchie, daß nun ihre Stunde gekommen war. Sie mußte sich an die Spitze der Bewegung stellen, um diese zu brechen. Ebert und Philipp Scheidemann schlossen sich dem Streik an. Um den Kontakt zu den Massen nicht zu verlieren, riefen sie aber just während dieses Streiks dazu auf, weiter Waffen zu produzieren, um ihre Brüder draußen nicht wehrlos zu lassen. Sie wollten nicht den Krieg, sondern den Streik liquidieren (siehe jW v. 26.1.2008).

Der Streik scheiterte, zeigte den Obleuten und Spartakus aber, welche Massen zu bewegen sie in der Lage waren, den MSPD-Führern jedoch, daß sie ihre Basisarbeit verstärken mußten. Konsequent wurde daher der Kontakt zu den Betriebsgruppen wiederhergestellt, um mit dem Netzwerk der Obleute gleichziehen zu können. Konsequent wurde auch auf eine Beruhigung der Arbeiter hingearbeitet, antirevolutionäre Politik gemacht, mit dem Hinweis, daß man die Herrschenden zu immer mehr Zugeständnissen und die SPD zu immer mehr Machtbeteiligung bringen werde.

Je mehr sich Ende Oktober die Lage zuspitzte und die Arbeiter immer kriegsmüder wurden, umso unermüdlicher erklärten die MSPD-Funktionäre in den Betrieben, daß durch ihren Eintritt in die Regierung im Oktober 1918 das Reich demokratisch geworden und der Frieden in greifbare Nähe gerückt sei.

Tatsächlich gelang es ihnen lange Zeit, beruhigend zu wirken, so daß der russische Botschafter Adolf A. Joffe nach Moskau berichtete, daß mit einer Revolution in Deutschland nicht zu rechnen sei, da die Arbeiterklasse noch stark »scheidemännisch« und Spartakus einflußlos sei.


Wann losschlagen?

Gleichwohl arbeiteten die Obleute weiter daran, die Revolution vorzubereiten, welche sie nicht wie Spartakus in sich steigernden Wellen, sondern in einer einzigen gut vorbereiteten Aktion aus einer bewaffneten Friedensdemonstration heraus verwirklichen wollten.

Nach dem abgebrochenen Januarstreik konnte das Militär zuschlagen und durch Masseneinberufungen und Verhaftungen der Bewegung einen schweren Schlag versetzen. Sowohl die Ob- als auch die Spartakusleute waren ihrer Führung beraubt. Richard Müller wurde einberufen, wichtige »Spartakisten« überwacht, so daß die Kontakte beider Radikalbewegungen abbrachen.

Als Liebknecht dann im Oktober 1918 - ein Beruhigungszugeständnis der bröckelnden Militärdiktatur - entlassen wurde (Luxemburg war bis zum 9.11. in Breslau gefangen), intensivierte sich der Kontakt von Obleuten und Spartakus wieder, und es kam auch sofort zu erneuten Reibereien. Liebknecht wollte losschlagen, Barth, der Müller vertrat, aber erst das Signal geben, wenn er sich sicher war, daß die Arbeiterklasse in ihrer Mehrheit mitmachen würde. Beide Argumentationsstränge waren fundiert. Mißlang die Aktion, insbesondere das Heimatheer (also die in den Kasernen in und um Berlin - denn in Berlin würde die Sache entschieden - stationierten Einheiten) auf die Seite der Revolutionäre zu ziehen, war alles extrem gefährdet. An einen offenen Straßenkampf war bei der unzureichenden Bewaffnung der Revolutionäre nicht zu denken. Verschlief man aber den entscheidenden Tag, konnten sich die Herrschenden formieren und zurückschlagen. Womit Liebknecht wiederum Recht hatte. Doch die Obleute (die allein stimmberechtigt waren) entschieden am 2. November, die Revolution vom 4.11. auf den 11.11. zu vertagen. Liebknecht geriet in Rage, war aber machtlos.

Der Aufstand der Matrosen, der just am 2.11. in Kiel seinen ersten Höhepunkt erreicht hatte und der die Seekriegsleitung daran hinderte, in einer Selbstmordaktion die deutsche gegen die überlegene britische Flotte auslaufen zu lassen, brachte einen neuen Impuls. Rasch hatten die Matrosen die verblüfften Offiziere überwältigt, sich mit den streikenden Werftarbeitern verbündet und ihre verhafteten Kameraden befreit sowie ankommende Truppen zum Überlaufen bewegt. In Windesweile verbreitete sich qua Eisenbahn - so wie es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest prophezeit hatten - die Revolution über das ganze Reich.


SPD-Oligarchie wiegelt ab

Doch die Revolution hatte nicht nur, wie Rosa Luxemburg hoffte, an die Kasernentore gepocht, sondern sie war von Teilen der bewaffneten Macht selbst losgetreten worden. Die Matrosen schwärmten aus, trugen die revolutionäre Welle ins ganze Land. Nur in Berlin stießen sie auf entschiedenen Widerstand. Das Oberkommando in den Marken und der Kriegsminister hatten die Eisenbahnverbindungen blockieren lassen, den Telegrafen- und Kommunikationsverkehr gekappt und ankommende Matrosen durch Greiftrupps verhaften lassen. Gleichwohl genügte dies nicht mehr. Der Geist der Revolution schwebte auch über der Hauptstadt, trieb die Arbeiter zu neuer Unruhe und Handlungsbereitschaft. Wieder und bis zuletzt versuchten die SPD-Oligarchen, die Massen zu beruhigen, es bloß nicht zur Revolution kommen zu lassen. Man log, verkündete am 4.11. im Vorwärts, das preußische Dreiklassenwahlrecht sei abgeschafft, die Herrschaft des Kaisers beseitigt (während dieser daran dachte, mit seinem Frontheer gegen die Revolution zu marschieren), der Krieg jeden Moment beendet, aber man solle Ruhe bewahren und nicht auf die Straße gehen.

Ebert, der in Tränen ausgebrochen war, als ihm die Oberste Heeresleitung (OHL) verkündet hatte, daß der Krieg verloren sei, machte sich nun große Sorgen, daß die Basis »die Durchführung unseres Parteiprogramms von uns verlangt«. Deutschland sei »nicht reif für die Republik«. Und um die »Monarchie zu retten«, müsse der Kaiser abdanken, der jetzige Kanzler Max von Baden »unter der Regentschaft der Kronprinzessin« weiter machen: »Die Firma aber kann und muß erhalten bleiben«. Als sich aber die noch Mächtigen in der »Firma«, also Militär und Kaiser, störrisch zeigten und die Massen trotz Beschwichtigung auf die Straßen gingen, blieb Ebert und Scheidemann nichts anderes übrig, als selbst die Macht an sich zu reißen, um die soziale Revolution in letzter Minute köpfen zu können. Ebert versicherte dem Noch-Kanzler Max von Baden: Er hasse die soziale Revolution »wie die Sünde«. Ein Republikgegner, ein Monarchist, ein Hasser der Revolution: Das war übriggeblieben von der einst revolutionären Partei. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Parallel zu dieser ungemein geschickten Aktion der MSPD-Kader liefen die Massenaktionen der Arbeiter ab, die, das ist eine weitere wichtige Erkenntnis der jüngsten Forschung, weder weitgehend MSPD-gesteuert noch total spontan erfolgten. Im Zuge der sich ausbreitenden Matrosenrevolte und der Zunahme der revolutionären Stimmung innerhalb der Betriebe, gaben die Revolutionären Obleute schließlich am 8. November dem Druck Liebknechts, Piecks und der linken USPD unter Georg Ledebour nach, vereinbarten für den nächsten Tag, die Revolution auszulösen und die Demonstrationszüge zu bewaffnen. Dies war, wie Ottokar Luban und Ralf Hoffroge belegen, ein wichtiges psychologisches Moment, um nicht völlig wehrlos gegen vielleicht schießendes Militär bzw. schießende Polizei zu sein, der man das eher zutraute. Gleichwohl verhielt sich letztere human, was ihr später von der Gegenrevolution, so Hauptmann Pabst, vorgeworfen wurde und zur Schaffung einer schießwütigen rechtsputschistischen Truppe, der Sicherheitspolizei (Sipo), führte, wofür im Sommer 1919 Wolfgang Heine (MSPD) und Pabst blendend zusammenarbeiteten.

Doch zurück zum 9.11. Fast unblutig wurden die Kasernen erobert, gelangte die Stadt in mehreren Revolutionszügen, angeleitet von Liebknecht, Müller und dem späteren Chef der Volksmarinedivision, Leutnant Heinrich Dorrenbach, in die Hände der Revolutionäre. Doch wieder war die MSPD-Führung schneller. Scheidemann rief vom Reichstag aus - gegen entschiedenen Widerstand des Monarchisten und Antirepublikaners Ebert - die Republik aus, noch bevor Liebknecht zwei Stunden später vom Schloß aus die Sozialistische Republik proklamieren konnte. Während die Sozialisten die Massen und die Straße in der Hand hatten, hatten sich die Führer der SPD der Regierung bemächtigt, geschickt die Bewegung auf der Straße - zum Großteil auch ihre Anhänger -, ausnutzend, den Machtapparat an sich gerissen.

Auch in den Betrieben, bei den Arbeitern und, dies war entscheidend, bei den Soldaten des Heimatheeres - das Frontheer stand ja hauptsächlich noch in Frankreich - konnten sie ihren traditionell maßgeblichen Einfluß geschickt geltend machen (die USPD als Partei tat da gar nichts) und so den zweiten Tag der Revolution vorbereiten. Den Thermidor. Dies war die Taktik.

Eine übereilt und von Richard Müller und den Obleuten schlecht vorbereitete Sitzung der Arbeiter- und Soldatenräte am 10.11. im Zirkus Busch brachte die erste für die Revolution wegweisende Entscheidung. Der Versammlungsleitung durch die Revolutionären Obleute gelang es nicht, einen über der Regierung stehenden Aktionsausschuß, getragen von einer revolutionären Arbeiter- und Rätemacht, zu installieren, weil die SPD-Kader mit der alles niederwalzenden Parole von der Einheit der Arbeiterklasse - die sie im Krieg zerstört hatten - mächtig punkteten. Zwar konnte die MSPD-Führung ein oberstes Organ, den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte, nicht verhindern. Doch mit ihrer Einheitsparole und der qua Tumult und ungeprüften Mandatsträgern durchgesetzten »Drittelparität« - sieben SPD-, sieben USPD- und 14 Soldatenräte, die fast immer für die MSPD stimmten - hatten sie praktisch eine Übermacht von zwei Dritteln in diesem Gremium, das zudem im Laufe der Revolution immer mehr an die Seite gedrängt wurde. Gleichzeitig gelang es ihnen, in der Regierung, die mit drei USPDlern und drei MSPDlern besetzt war, durch geschicktes Agieren vor allem Eberts, die oft schwachen und gerne zu faulen Kompromissen bereiten USPD-Männer Hugo Haase, Wilhelm Dittmann und häufig auch Emil Barth zu übertölpeln. Letzterer wurde dann schließlich von den Revolutionären Obleuten wegen dieser unglücklichen Rolle ausgeschlossen. Liebknecht und Richard Müller hatten eine Regierungsbeteiligung grundsätzlich abgelehnt.


Weitere Rückschläge

Dieser zweite Tag der Revolution fand die Fortsetzung in vielen weiteren »zweiten Tagen«:

10.11. - Ebert gelang durch telefonischen Kontakt mit der OHL, der obersten kriegführenden Instanz im besetzen Spa, auch die militärischen Köpfe auf seine Seite zu ziehen. Ebert dachte nicht daran, die OHL, die zu diesem Zeitpunkt militärisch praktisch ohnmächtig war, abzusetzen oder gar zu bestrafen und durch eine revolutionäre Militärorganisation zu ersetzen. Im Gegenteil. Die OHL, das war ihm schon zu diesem Zeitpunkt klar, würde die »bolschewistischen« Spartakisten und USPDler und die Massen auf der Straße zur Räson bringen. Das war nur eine Frage der Zeit.

18.11. - Die OHL hatte einen Plan dafür in der Tasche, wie man die Arbeiter- und Soldatenräte mit brutalster Gewalt beseitigen konnte. Ebert, der genau durch diese Massen an die Macht gekommen war, stimmte allein und ohne Wissen der anderen Regierungsmitglieder diesem Plan zu. Er bedeutete blutigen Bürgerkrieg: Die heimkehrenden Fronttruppen sollte, angeführt von monarchischen Offizieren, die Räte entmachten, entwaffnen und Widerspenstige sofort exekutieren. Als dieser Putsch am 10. Dezember mißlang, weil u.a. die Soldaten nach Hause gingen, kam es einen Monat später zur nächsten Provokation:

24.12. - Da die Zerschlagung der kampfstarken, im November 1918 entstandenen Volksmarinedivision mißlang, willigte Ebert ein, präfaschistische Freikorps aufzustellen, ließ dafür seinen Freund Gustav Noske kommen, der wiederum mit den alten Generälen und vor allen Dingen mit Hauptmann Waldemar Pabst die brutalsten Verbände aus dem Boden stampfte. Noske (MSPD) gab die Parole aus, auf jeden zu schießen, »der der Truppe vor die Flinte kommt«.

5. bis 15.1. - Der zweite Aufstand der Arbeitermassen, diesmal noch ungesteuerter als im November, entzündete sich. Er sah zuerst wie eine zweite Revolution aus, wurde aber im Blut erstickt und mit den Morden an Luxemburg und Liebknecht durch Pabst und seine Truppe (inklusive klammheimlicher Genehmigung Noskes) endgültig begraben. Dies war die Geburtsstunde des deutschen Faschismus aus der Gegenrevolution.


Ermordete Revolution

Die Novemberrevolution mißlang, weil die erste Revolutionsregierung nicht wie in Rußland unter Alexander Kerenski bürgerlich war, sondern sozialdemokratisch und damit die Radikalisierung der Arbeiterschaft bremsen, die Arbeiter verwirren, belügen und hinhalten konnte. Außerdem waren die Arbeitermassen vom wilhelminischen Staat, durch militärischen Drill und eine vereinssozialistische Tradition so autoritär geprägt, daß sie ihrer Regierung die Parolen von Sozialisierung, Entmachtung des alten Militärs und Abschaffung des imperialen Herrschaftsapparates glaubten. Auch dachten sie wirklich, der Sozialismus ließe sich qua Nationalversammlung einführen und der Krieg und die Konterrevolution per Akklamation liquidieren. Als sie ihren Irrtum 1919/20 merkten, war es zu spät. Die SPD-Führung selbst verlor auch parlamentarisch immer mehr an Einfluß, stimmte völkische Töne an und sah sich trotzdem Umsturzversuchen von rechts ausgeliefert - von denen, die für sie gemordet hatten. Die SPD-Führungstruppe ließ schließlich, als es im März 1920 zum Kapp-Putsch, zum rechten Staatsstreich, kam und als Gegenreaktion zum Aufstand gegen rechts, nachdem sie gerettet ward, die weiter kämpfenden Massen von den Militärs zerschlagen, die eben noch geputscht hatten. Das Ganze endete schließlich 1933 im deutschen Faschismus, nicht zwangsläufig aber doch wesentlich vorbestimmt, durch den »zweiten Tag« der Novemberrevolution. Der erste Tag war großartig, der zweite schließlich grausamer denn je.


Anmerkungen:

(1) Rede Gustav Bauers vor der SPD-Reichstagsfraktion, zit. n. Karlludwig Rintelen, »Links blinken und rechts abbiegen«, in: Sebastian Haffner u.a., Zwecklegenden. Die SPD und das Scheitern der Arbeiterbewegung, Berlin 1996, S.59 (dort auch die ganze Rede Bauers)

(2) Neueste Forschungen und Literatur zur Novemberrevolution: - Ottokar Luban, »Die Novemberrevolution 1918 in Berlin - Tatsachen wider das gängige Geschichtsbild«, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung H. 1, 2009 - ders., »Die Rolle der Spartakusgruppe bei der Entstehung und Entwicklung der USPD Januar bis März 1919«, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H. 2, 2008, S. 69-75 - ders. »Demokratische Sozialistin oder 'blutige Rosa'? Rosa Luxemburg und die KPD-Führung im Berliner Januaraufstand 1919«, in: IWK, Jg. 35 (1999), H. 2, S. 176-207- Ralf Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008 - Annelie Laschitza, Die Liebknechts - Karl und Sophie. Politik und Familie, Berlin 2007


Vom Autor erscheint im Januar 2009 eine Biographie des Luxemburg-Mörders Pabst:
Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst - eine deutsche Karriere,
ca. 580 S., geb., ISBN 3-89401-592-3, Edition Nautilus, Hamburg 2009, 39,90 Euro

Klaus Gietinger referiert am 10. Januar 2009 auf der XIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin zum Thema.

Homepage des Autors: www.gietinger.de


*


Quelle:
junge Welt vom 06.11.2008
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Überregionale Tageszeitung junge Welt
Torstraße 6, 10119 Berlin
Telefon: 030/53 63 55-0; Fax: 030/53 63 55-44
E-Mail: redaktion@jungewelt.de
Internet: www.jungewelt.de

Einzelausgabe: 1,40 Euro
Abonnement Inland:
monatlich 27,90 Euro, vierteljährlich 81,10 Euro,
halbjährlich 160,70 Euro, jährlich 318,00 Euro.
Sozialabo:
monatlich 20,90 Euro, vierteljährlich 60,80 Euro,
halbjährlich 120,30 Euro, jährlich 238,20 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2008