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NEUZEIT/184: Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft in der DDR (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2009

Armee des Volkes?
Vom Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft in der DDR

Von Marcel Kirf


War die Nationale Volksarmee (NVA) eine "Armee des Volkes"? Konnten die DDR-Militärs ihrem Selbstanspruch genügen, der eine Interessenidentität von Militär, Staat, Gesellschaft und Individuum versah? Wie war es um die äußere Akzeptanz und das innere Gefüge der ostdeutschen Streitkräfte wirklich bestellt? Dr. Matthias Rogg hat in seiner Habilitationsschrift am Historischen Institut das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der DDR untersucht.


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Die Frage nach der "Armee des Volkes" beantwortet der Historiker mit "einem großen Nein und einem kleinen Ja". Beliebt war die NVA letztlich nur, wenn sie außerhalb ihres eigentlichen Kernauftrages agierte, zum Beispiel bei der Katastrophenhilfe, militärfolkloristischen Paraden oder der Förderung des Leistungssports. Die Differenzen in der Bewertung hingen entscheidend von der Sozialisation, der individuellen Erfahrung in oder mit der Armee und nicht zuletzt der Stellung des Einzelnen im und zum SED-Staat ab. Nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr des Mauerbaus kam nahezu jeder männliche DDR-Bürger in die Mühlen der NVA, die vom sozialistischen Regime dezidiert nicht nur als "Machtmittel zum Erhalt der äußeren Souveränität", sondern auch als "größte Sozialisationsmaschine der DDR" gesehen wurde. Das Militärische wurde überlagert vom Parteiauftrag: Politische Erziehung mit Mitteln der Indoktrination und Subordination, die Entwicklung einer "sozialistischen Soldatenpersönlichkeit" als gesellschaftliches Leitbild und die Mobilisierung der Bevölkerung durch militärpolitische Öffentlichkeitsarbeit und sozialistische Wehrerziehung. Letzteres geschah durchaus camouflagiert. So erfreute sich die "Gesellschaft für Sport und Technik" regen Zulaufs unter Jugendlichen nicht wegen ihrer paramilitärischen Ausbildungsanteile, sondern aufgrund attraktiver Freizeitangebote.

Roggs umfangreiche Studie fasst aber nicht nur erstmals das Verhältnis von Militär und Gesellschaft für den langen Zeitraum 1960-1989 zusammen, sondern untersucht zudem zum ersten Mal differenziert innere Strukturen, Realitäten, Interaktionen, Rezeptionen und Projektionen des DDR-Militärs. Dem Historiker ist dabei besonders wichtig, keine Ex-Post-Darstellung vorzunehmen, sondern auch kontroverse Schlussfolgerungen durch akribisch zusammengetragene Fakten mit kritischer Quellenanalyse zu belegen. Zeitzeugen-Gespräche fanden kaum Eingang in die wissenschaftliche Bewertung, verrät der Autor: "Aber das Bild, das da gezeichnet wurde, war weit kritischer und desaströser."

Hervorzuheben ist die sorgfältige Erschließung und Bewertung neuer Akten. Eingedenk der dünnen Quellenlage in den Wehrkreiskommandos, dem Verlust vieler Unterlagen nach 1989 und dem Verbot privater Aufzeichnungen, mithin dem Fehlen von Nachlässen, ist es schon bemerkenswert, was Rogg ans Tageslicht befördert. Bedenkt man zudem die Färbung vorhandenen Materials im Hinblick auf Interessenlagen und Verantwortlichkeit ihrer Verfasser im DDR-System, ist der Umstand, dass es Rogg gelingt, ein lebendiges Bild der Armee und ihrer Protagonisten zu zeichnen, ein hoher Verdienst. Selbst Berufsoffizier, heute Redenschreiber des Bundesverteidigungsministers und Mitglied des Planungsstabes, kann Rogg für die Studie auf Ergebnisse seiner langjährigen Arbeit am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA) zurückgreifen. Das Potsdamer Institut, mit dem die Philosophische Fakultät kooperiert, untersucht seit Jahren in einem Leuchtturmprojekt für Militärgeschichte die Armeen der Warschauer Pakt-Staaten und betreibt Grundlagenforschung zur Rolle der NVA.

Die Lebenswelt von Wehrdienstleistenden und Berufssoldaten innerhalb der Kasernen sei bedrückend gewesen, so Rogg. Eine restriktive Präsenzpflicht und rigide Urlaubsregelungen hätten die jungen Männer ihrem sozialen Umfeld, ihren Familien, Freunden und Partnern entfremdet. Hinzu kam eine strenge Geheimhaltungspflicht sowie unverhältnismäßig lange Dienstzeiten, teilweise erbärmliche Wohnbedingungen, eine omnipräsente politische Überwachung, ein absolutes Alkoholverbot und die ländliche Abgeschiedenheit vieler Armeestützpunkte. Gewalt unter Soldaten war an der Tagesordnung. Dem gegenüber standen die Berufskader, deren Lebenswelt und Selbstwahrnehmung eine gänzlich andere war.

Der größte Teil der DDR-Gesellschaft entwickelte offenbar keine grundsätzliche Ablehnung gegen das Militär, urteilt Rogg. Der persönliche Beitrag für die Landesverteidigung wurde allerdings mehr toleriert als akzeptiert und blieb im Nachklang überwiegend kritisch in Erinnerung. Diese emotionale Distanz war jedoch nur schwer mit dem Anspruch der SED von der NVA als "Armee des Volkes" in Einklang zu bringen. Rogg: "Die DDR-Gesellschaft war nicht grundlegend gegen 'das' Militär, aber sie war gegen 'dieses' Militär."


Die Studie ist erschienen im CH. Links Verlag:
Rogg, Matthias: Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR,
hrsg. n. Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam Militärgeschichte der DDR,
Band 15), Berlin 2008, ISBN 978-3-86153-478-5.


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2009, Seite 37
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2009