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NEUZEIT/189: Erste Anzeichen von Rebellion - DDR im Mai 1989 (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 2/2009

Erste Anzeichen von Rebellion
DDR im Mai 1989: Das Volk verweigert die übliche Wahlfarce

Von Boris Hänßler


Die Ergebnisse der Volkskammerwahlen in der DDR waren durchweg beeindruckend: Die Wahlbeteiligung und die Zustimmung lagen stets weit über 99 Prozent. So war es immer, so sollte es auch bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 sein. Doch es kam ganz anders.


Es war gerade einmal acht Uhr, da meldete bereits die erste Bezirksleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands: 41 Prozent der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger hätten gewählt. Um 12 Uhr meldete die Parteispitze gar 93,2 Prozent, das sei republikweiter Rekord. Es war die übliche Farce, aber eines war an diesem Tag neu: Erstmals beharrten Bürgerrechtsgruppen auf ihrem Recht, die Auszählung der Stimmen zu überwachen. Mit Erfolg - trotz Behinderungen von Seiten der Behörden stellten sie eine massive Verfälschung des Wählerwillens fest. Die offiziellen Ergebnisse wichen in einigen Orten um bis zu zehn Prozent von der gezählten Stimmenanzahl ab. Dieses Wahlfiasko des SED-Regimes gilt heute als Anfang vom Ende der DDR. Prof. Dr. Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), relativiert diese Sichtweise. Sein Institut erforscht die deutsche und europäische Zeitgeschichte. Einer der Forschungsschwerpunkte ist der Zusammenbruch des Kommunismus. Sabrow erkennt in den Wahlen im Mai 1989 nicht einmal einen klassischen Wahlbetrug. "Ein echter Wahlbetrug wäre es gewesen, wenn man geglaubt hätte, dass die Wahl etwas mit der Chance auf einen Machtwechsel zu tun gehabt hätte", sagt Sabrow. "Das hatte sie im Selbstverständnis des Regimes und seiner Eliten und auch in den inszenierten 'Wahlgesprächen' jedoch nie gehabt." Die Wahl sei immer eine öffentliche Konsens-Demonstration gewesen.

In der Tat legte die Nationale Front, der Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der DDR, die Mandate für jede Partei und Organisation vorab fest. Die Wähler hatten nur die Möglichkeit, diese zu bestätigen oder sämtliche Namen auf dem Wahlschein zu streichen, um ihr Nein zum Ausdruck zu bringen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es je viele DDR-Bürger gab, die darin ernstlich ein parlamentarisches System gesehen haben", sagt Sabrow. "Das wurde auch nie von jemandem behauptet, denn es handelte sich auch im Selbstverständnis des Regimes um eine Diktatur des Proletariats." Die Verteilung der Sitze war von vornherein so gedacht, dass alle Gruppen im Sinne eines ständischen Gemeinwesens adäquat repräsentiert waren: Bauern, Fabrikarbeiter, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten. In Diskussionen mit Nicht-DDR-Bürgern wurde dies als Vorteil des Systems gepriesen.


Wahl als Tauschgeschäft

Im Mai 1989 glaubte nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung fest an die Ideologie, die hinter solchen Wahlen steckte. Ein großer Teil quittierte die Wahl mit einem schlichten Achselzucken - eben eine typische Schauveranstaltung des Regimes. Man machte sein Kreuzchen wie gewünscht und kümmerte sich nicht groß darum. Wer clever war, wusste die Wahl sogar für sich zu nutzen. Bürger teilten zum Beispiel vor den Kommunalwahlen in Eingaben mit, dass sie das Vertrauen, das sie durch die Wahl ausdrücken sollten, nicht mehr aufbringen könnten, weil es von der Partei selbst erschüttert worden sei - man habe den Wartburg nicht zugestanden, eine Ferienreise oder eine Wohnungssanierung nicht bewilligt. "So trat ein Tauschgeschäft ein, ein Handel, in dem zuweilen auch die Bürger versuchten, den Staat zu erpressen", so Martin Sabrow. "Eine Ja-Stimme gebe ich dann gegen die Zustimmung, eine Brandwand aus der Wohnung schlagen zu dürfen." Diese Art Geschäft hatte es seit einiger Zeit schon gegeben und war 1989 gängige Praxis geworden.

Auf der anderen Seite gab es Bürgerrechtler, die den Wahlen nun erstmals einen Sinn verleihen wollten, den sie in der DDR zuvor nie hatten. "Am 7. Mai 1989 wurde die Erosion offenkundig. Es sickerte ein westliches freiheitliches Wahlverständnis in die DDR ein, allerdings hauptsächlich bei dem Teil der Bevölkerung, der sich als oppositionell verstand", sagt Sabrow. So kam es zu der ironischen Situation, dass der Staat mit der Fälschung Wahlen legitimierte, die nie davor in dem Verdacht gestanden hatten, eine ehrliche Abstimmung zu sein. Plötzlich wurde der Staat bei seinem Wort genommen. Die Führung bemühte sich einerseits, die Wahlen weiterhin zu schönen, gleichzeitig gab sie Wahlbeobachtern die Chance, die Fälschungen aufzudecken. "Man fragt sich, wie ein diktatorisches Regime sehenden Auges in eine solche Glaubwürdigkeitskrise schlittern konnte", sagt der ZZF-Direktor.

Gründe dafür lassen sich viele anführen. Der Zusammenbruch des Kommunismus zog sich über viele Jahre hin: Die DDR isolierte sich immer weiter. In der Sowjetunion fielen bereits die Schlagworte Perestroika und Glasnost, und selbst die Existenz der Mauer wurde von Gorbatschow in Frage gestellt. Kurt Hager, Ideologiechef im SED-Politbüro, hatte im April 1987 in einem Interview mit dem "Stern" klargemacht, dass die SED nicht dem Kurs Gorbatschows folgen werde: "Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" 1988 unterbrach die Regierung zudem die Auslieferung der kritischen russischen Zeitschrift Sputnik, was einem Verbot gleichkam - auch das irritierte die Bevölkerung. Und nicht zuletzt kriselte die DDR-Wirtschaft schon seit langem.


Stumme Demonstration

Interessanterweise durchschaute das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als erstes, dass die Wirtschaft auf einen Ruin zusteuerte. In den 80er Jahren diskutierte das Ministerium deshalb intern zwei Modelle: Entweder man begibt sich weiter in die Abhängigkeit vom Klassenfeind. Oder man legt den Hebel radikal um, schließt sich noch fester mit der Sowjetunion zusammen und bricht alle Kontakte in den Westen ab. Diese Option fand im MfS große Zustimmung, sie war aber in den 80er Jahren nicht mehr durchsetzbar; dem Regime entglitt am Ende aus vielen Gründen der Wille zur bedingungslosen Behauptung, glaubt Martin Sabrow.

Am Wahltag 1989 reagierte die Staatssicherheit allerdings gewohnt durchsetzungsstark. Auf dem Markt in Leipzig wurden 72 protestierende Demonstranten nach Schließung der Wahllokale von Sicherheitskräften "zugeführt", also in einen Polizeitransporter gesteckt und in Haft genommen. Die Behörden bemühten sich zudem, eine Veröffentlichung detaillierter Wahlergebnisse in der regionalen Presse so lange zu verschieben, bis die Einspruchsfrist abgelaufen war - ein Wahlbetrug war schließlich auch nach DDR-Recht ein Straftatbestand. Die Bürgerrechtler schickten unbeirrt massenhaft Anfragen an Lokalredaktionen, Ämter und Wahlausschüsse, obwohl sie dafür berufliche Nachteile in Kauf nehmen mussten. Doch die erfolgreiche Zusammenarbeit bei der Aufdeckung des Wahlbetrugs gab ihnen großen Auftrieb und sie beschlossen, mit ihrem Protest in die Öffentlichkeit zu gehen. Fortan versammelten sich Bürgerrechtler an jedem 7. des Monats zu einer stummen Wahldemonstration. Die Demonstration sollte so lange stattfinden, bis der Staat die Manipulationen eingestand - Ansätze einer oppositionellen Bewegung bildeten sich heraus.

Martin Sabrow möchte die Wahl dennoch nicht als das ausschlaggebende Ereignis für die Wende bezeichnen. "Es gibt in solchen Prozessen unterschiedliche Stufen, und eine führt dann zum Überschreiten des Rubikons", sagt er. "Wer glaubte, sich am 7. Mai von der DDR verabschiedet zu haben, hätte sich im Juni oder August durchaus wieder umentscheiden können, wenn die Führung anders aufgetreten wäre."

Er sieht in der revolutionären Wende eher einen sich steigernden Zerfall von Herrschaftslegitimation und - parallel dazu - wachsenden sozialen Unwillen, der erst schleichend, dann beschleunigend und am Ende kaskadisch verlief. Allerdings führte der 7. Mai den Menschen vor Augen, dass die sozialistische Wirklichkeit in der DDR nicht mehr so geschlossen war, wie sie zuvor noch schien.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 2/2009, Seite 8-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2009