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NEUZEIT/205: 1996 - Ermordung der Mönche von Tibhirin und franko-algerische Staatsräson (inamo)


inamo Heft 61 - Berichte & Analysen - Frühjahr 2010
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Die Ermordung der Mönche von Tibhirin und die franko-algerische Staatsräson

Von Werner Ruf


In der Nacht vom 26. zum 27. März 1996 wurden sieben Mönche des Zisterzienser-Klosters von Tibhirin in der Nähe von Medea (rd. 100 km südwestlich von Algier) im algerischen Atlas von einem Kommando islamistischer Terroristen unter Führung von Djamal Zituni, dem damaligen "Emir" der "Bewaffneten Islamischen Gruppen" (GIA), entführt. Nach der fast fünfzehn Jahre gültigen offiziellen Lesart der algerischen und französischen Behörden wurden sie etwa zwei Monate später "aus Fanatismus" von ihren Entführern exekutiert (Le Monde, 10.12.2003). Erst bei der Bestattung der vermutlich am 21. Mai 1996 Getöteten stellte sich heraus, dass in den Särgen nur die Köpfe der Toten waren, ihre Körper blieben für immer verschwunden. In den französischen Medien brach eine regelrechte Hysterie gegenüber den "Verrückten Gottes" (so die damaligen Schlagzeilen) aus, die für diese bestialische Tat verantwortlich waren. Doch schon sehr früh tauchten Zweifel an dieser Version auf.


Der Abt des Zisterzienser-Klosters im belgischen Scourmont, Armand Veilleux, nahm die vielen Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung der Ermordung der sieben Mönche des Zisterzienser-Klosters von Tibhirin zum Anlass, hinter dem verbrecherischen Akt politische Motive zu vermuten: Das Kloster lag auf einem Felsen in einem relativ unwegsamen Gebiet, das als Hochburg des militanten islamistischen Untergrunds galt. So wurden die Insassen des Klosters Zeugen der auf allen Seiten mit äußerster Brutalität geführten Auseinandersetzungen, bei denen die Armee auch Napalm einsetzte.(1)

Die Mönche selbst unterhielten gute und vertrauensvolle Kontakte zur Bevölkerung, vor allem leisteten sie allen Menschen, die sich an sie wandten, medizinische Hilfe, einer der Mönche war Arzt. Dabei fragten sie nicht nach Herkunft oder Gesinnung der Kranken und wohl auch der Verletzten, sondern leisteten Hilfe. Vor allem aber wussten sie viel - zuviel? Mehrfach hatten die algerische Armee, aber auch die französische Botschaft und der Erzbischof von Algier, Henri Teissier,(2) die Mönche aufgefordert, das Kloster zu verlassen. Die Mönche aber blieben, glaubten sie sich doch in Sicherheit.

Vor allem desertierte Angehörige des algerischen Geheimdienstes DRS (Département du Renseignement et de la Sécurité, vormals SM, Sécurité Militaire) wiesen schon früh auf Ungereimtheiten in den offiziellen Darstellungen hin.(3) Lt. ihren Aussagen war Zituni vom DRS in die militante islamistische Szene eingeschleust und dort zum "Emir" aufgebaut worden, um einerseits die GIA für den Kampf gegen den bewaffneten Arm der Islamischen Heilsfront (FIS) zu instrumentalisieren, andrerseits die Islamisten durch brutale Terrorakte gegen die Bevölkerung zu diskreditieren - ganz nach den schon von Frankreich im Algerienkrieg entwickelten Methoden der "psychologischen Kriegführung."(4)

Ein anderer Deserteur, Abdekader Tigha,(5) diente von 1993 bis 1997 in der Kommandozentrale des DRS in Blida, rd. 40 km südlich von Algier. Dort, so behauptete er gegenüber französischen Diensten wie gegenüber den Medien, habe er die Mönche in Begleitung von Zituni und seinen Männern in der Nacht der Entführung gesehen. Bei seiner Odyssee durch eine Vielzahl von Ländern wurde Tigha mehrfach von französischen Geheimdiensten vernommen, seine Bemühungen, in den Niederlanden oder Frankreich Asyl zu erhalten, wurden aber mit Rücksicht auf die Beziehungen zu Algerien stets abgewiesen.(6)


Kommuniqué Nr. 44

Mehr als dubios ist auch das von Zituni unterzeichnete Bekennerschreiben der GIA, das als "Kommuniqué Nr. 43" am 26. April vier Wochen nach der Entführung von der arabischsprachigen Zeitung al Hayat in London publiziert wurde und in dem Verhandlungen über die Freilassung der Entführten gefordert wurden. Das Kommuniqué war in klassischem Hocharabisch verfasst, das der ehemalige Geflügelhändler Zituni genauso wenig beherrschen konnte wie seine ungebildeten Gefolgsleute. Am 21. Mai folgte das "Kommuniqué Nr. 44", in dem es hieß, dass Frankreich den Faden des Dialogs abgeschnitten habe. "Wir unsererseits haben den sieben Mönchen die Hälse abgeschnitten."(7)

Die Affäre wirft ein Schlaglicht auf den dubiosen Charakter des algerischen counter-terrorism im Allgemeinen und der "Bewaffneten Islamischen Gruppen" (GIA) im Besonderen. Ganz kurz zum Hintergrund: Am 11. Januar 1992, fünf Tage vor dem zweiten Wahlgang der ersten freien Parlamentswahlen, hatte die Armee in Algerien geputscht, um den sicheren Wahlsieg der islamistischen Partei "Islamische Heilsfront" FIS zu verhindern. Zehntausende Mitglieder und Sympathisanten, meist Bürgermeister und Gemeinderäte, die durch die Kommunalwahlen von 1990 in ihr Amt gekommen waren, wurden in Konzentrationslagern ähnelnde Haftanstalten in der Sahara verschleppt und systematisch gefoltert. Teile der FIS reagierten mit bewaffnetem Widerstand und schlossen sich in der "Armee des islamischen Heils" AIS zusammen.

Der DRS begann schon damals mit dem Aufbau von Todesschwadronen, wie der "Organisation der jungen freien Algerier" (OJAL), die gezielt Morde an Intellektuellen und Anschläge auf Frauen verübten, 1994 aber aufgelöst wurde.(8) Ende 1993 tauchten dann erstmals die GIA auf, die zunächst gegen die Gruppierungen der AIS kämpften, ab 1994 aber zum systematischen Terror gegen die Zivilbevölkerung übergingen. Ziel bzw. Aufgabe dieser GIA war es, dem Westen vor Augen zu führen, wie brutal und barbarisch diese Islamisten vorgingen. um dem Regime in Algier internationale Unterstützung zu sichern und gleichzeitig die Bevölkerung gegen diese Horden zu mobilisieren. Den Höhepunkt fand dieser Terror gegen die Zivilbevölkerung in den Jahren 1996 und 1997, als ganze Siedlungen mit bis zu 400 Menschen, z. T. in unmittelbarer Nähe von Kasernen, systematisch massakriert wurden.(9)


La Stampa und die Aussagen General Buchwalters

Während in den französischen Medien sporadisch die undurchsichtige Entführung immer wieder thematisiert wurde, erschien in der italienischen Zeitung La Stampa (6. Juli 2008) ein ausführlicher aber wenig beachteter Bericht des Journalisten Vallerio Pellizzari, demzufolge die Mönche bei einem Hubschrauberangriff der algerischen Armee auf eine Bewaffnete Islamische Gruppe getötet worden seien (dokumentiert in inamo Nr. 55, Herbst 2008, S. 59-61). Da platzte am 6. Juli 2009 eine Bombe: Die konservative französische Tageszeitung Le Figaro berichtete, dass der von 1995 - 1998 an der französischen Botschaft in Algier tätige Militärattaché, General François Buchwalter, gegenüber dem noch immer mit der Affäre befassten Untersuchungsrichter Marc Trevidic am 25. Juni 2009 an Eides statt erklärte hatte, dass, wie im Bericht von Pellissari beschrieben, die algerische Armee beim Angriff eines Hubschraubers auf ein Feldlager der GIA die Zisterzienser getötet habe (siehe inamo Nr. 58, Sommer 2009, S. 78). In seiner Aussage verwies Buchwalter ferner darauf, dass er damals auf dem Dienstweg schriftlich dem Verteidigungsministerium, dem Generalstab und auch dem französischen Botschafter in Algier, Michel Levêque, Bericht erstattet habe, dass aber auf Weisung des Botschafters die Sache als Staatsgeheimnis behandelt wurde. Auch bestätigte er, dass nur aufgrund des Drängens von Armand Veilleux und gegen den Widerstand der Algerier und des französischen Botschafters die Särge schließlich zwecks Identifizierung geöffnet wurden, in denen nur die mumifizierten Köpfe lagen, einem der Köpfe fehlte das Kinn. Pellissari behauptet, dass die Körper beseitigt worden waren, damit aus den Verletzungen und der verwendeten Munition nicht auf die Armee als Täter geschlossen werden konnte.


Die Verwicklung Frankreichs

Mit einem Schlag war die Affäre keine algerische mehr, sondern auch eine französische. Präsident Sarkozy erklärte umgehend, das Staatsgeheimnis (secret défense), das bisher für diese Vorgänge galt, müsse aufgehoben werden. In der Tat hängt der nun öffentlich gewordene Skandal um die seit Beginn der Entführung bestehende Mitwisserschaft Frankreichs hoch: Weshalb hielt sich Frankreich wider besseres Wissen - an die offizielle algerische Version, und dies, obwohl die beiden Bekennerschreiben der GIA schon sehr früh als unglaubwürdig eingestuft wurden? Weshalb hielt Hubert Colin de Verdière, hochrangiger Diplomat, Algerienkenner und Kabinettsdirektor des damaligen Außenministers Hervé de la Charrette an dieser These fest? Zu welchem Zweck wurde General Philippe Rondot(10) vom Geheimdienst DST (Direction de la Surveillance du Territoire) nach Algerien entsandt? Rondot ist eine zentrale Figur der französischen Geheimdienste und Befürworter "gezielter Tötungen von Terroristen". Wie agierte der französische Nachrichtendienst DGSE (Direction Générale de la Sécurité Extérieure), der durch einen Agenten in der französischen Botschaft vertreten war und mit einem Emissär der Entführer namens Abdullah über Lösegeldzahlungen verhandelte? Dieser Agent des DGSE hat einen als höchst geheim eingestuften Bericht direkt an Staatspräsident Chirac gesandt. Wurden die Verhandlungen, die der Agent des DGSE mit dem Emissär der GIA führte, auf Druck Rondots, der mehrfach mit dem Chef des DRS, General Smail Lamari zusammentraf, abgebrochen? Lamari bestand offenbar darauf, dass Rondot "der einzige Kanal" sein dürfe, mit dem verhandelt werde - warum? Worüber konnte der DRS überhaupt verhandeln, wenn doch die Entführten in den Händen der Terroristen waren? Weshalb drängte Rondot auf direkte Verhandlungen mit den "Terroristen", wenn sein Kollege vom DGSE bereits Kontakt zu einem Abgesandten Zitunis hatte? Gab es hier Rivalitäten zwischen den Diensten oder spielten die Algerier diese gegeneinander aus? Warum erfuhr der militärische Geheimdienst Frankreichs DRM (Direction du Renseignement Militaire) erst am 2. Mai 1996 von der Entsendung Rondots, der bereits am 5. April in Algier eingetroffen war?


Unterschiedliche Interessen

Inzwischen sind Teile der Berichte Rondots der Presse zugänglich geworden. In einer Notiz vom 27. Mai 1996 schrieb er: "Sehr (zu) lange - und aus taktischen Gründen - genossen Djamal Zituni und seine Gruppen eine ziemliche Duldung seitens der algerischen Dienste: Er half (zweifelsohne unfreiwillig) bei der Aufspaltung der GIA und unterstützte so die inneren Kämpfe zwischen den bewaffneten Gruppen."(11) Daraus lässt sich schließen, dass die algerischen Dienste ganz andere Ziele verfolgten als die französischen: Für Algier waren Zituni - und seine Geiseln - ein Mittel zur Spaltung der GIA, für Frankreich, so sollte man annehmen, musste es um das Leben der Mönche gehen. Wozu dann allerdings die unterschiedlichen und konkurrierenden Strategien der französischen Dienste?

Aus den bisher bekannt gewordenen Informationen ergeben sich weitere Fragen: Welche Rolle spielte der damalige Rechtsaußen der konservativen Regierung, Innenminister Charles Pasqua,(12) der offensichtlich selbst eng mit dem algerischen DRS zusammenarbeitete und bereit war, auch Anschläge in Frankreich zu tolerieren, um während des Vorwahlkampfs um die Präsidentschaftskandidatur anti-islamische Stimmungen zu fördern: So hatte Jean-Charles Marchiani, Berater von Pasqua, "mehrere Szenarien für Anschläge ausgearbeitet. Eines davon sah vor, eine Autobombe vor der französischen Botschaft in Algier explodieren zu lassen. Aber Marchiani hat Smain (General Smail Lamari, Chef des DRS) davon überzeugt, dass eine Geiselnahme auf der emotionalen Ebene besser auszunutzen und ihre Medienwirksamkeit größer wäre. Er hat gefordert, dass, um die Sicherheit der zukünftigen Geiseln zu garantieren, die Operation vom Geheimdienst durchgeführt werden sollte, ohne die Beteiligung von Islamisten, "auch wenn sie manipuliert oder streng kontrolliert sind."(13) Parallel zu Rondot und dem Agenten des DGSE in der Botschaft wurde der Vertraute Pasquas, Marchiani, ebenfalls zu Verhandlungen nach Algier entsandt.(14)

Inwieweit der "islamistische Terror" in Frankreich Teil des Wahlkampfes werden sollte, in dem Pasqua (zusammen mit Sarkozy), die Nominierung des damaligen Ministerpräsidenten Georges Balladur innerhalb des gaullistischen Lagers gegen den Amtsinhaber Jacques Chirac unterstützte, kann hier nur gemutmaßt werden. Immerhin passen in diesen Kontext die Anschläge auf die U-Bahn in Paris, wo am 25. Juli 1995 in der Metro-Station St. Michel acht Menschen ums Leben kamen und 150 verletzt wurden. Zu dem Anschlag bekannte sich ... Djamal Zituni!(15)


Freigabe aller Dokumente?

Der heutige Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte zwar unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Aussage des Generals Buchwalter die Aufhebung der Geheimhaltung bezüglich sämtlicher Dokumente der Affäre gefordert, die zuständige "beratende Kommission" hat inzwischen "die totale oder partielle" Aufhebung der Geheimhaltung empfohlen.(16) Dabei handelt es sich um 14 Schriftstücke der DST, 47 der DGSE und 7 des militärischen Sicherheitsdienstes DRM, die Le Monde einsehen konnte.(17) Sie ergeben allerdings kaum Neues, was die obige Darstellung widerlegen oder nennenswert bereichern könnte.

Es war wiederum Le Figaro,(18) dem es gelang, sich Zugang zu Notizen Rondots zu verschaffen. Darin schreibt dieser seinen Vorgesetzten, dass Frankreich nicht länger abwarten und von den Informationen und Handlungen der algerischen Dienste abhängig bleiben könne, da diese "zweifelsohne andere Ziele verfolgen," zumal die Gefahr bestehe, dass diese "versucht sein könnten, brutal zu erledigen, was sie als eher nebensächlich betrachten. ... Auf keinen Fall dürfen wir uns von den Algeriern in ihre Logik securitärer Rechtfertigung hineinziehen lassen und uns zur Seite schieben lassen, wie sie es im Falle der Entführung des Airbus(19) getan haben." Auch stellte Rondot unmissverständlich fest: "Zu lange haben die algerischen Dienste Zituni gegenüber die Augen zugedrückt."


Die Wahrheit bleibt im Dunkeln

Doch was anhand der nun veröffentlichten Papiere und Aussagen so eindeutig scheint, könnte auch eine doppelbödige Flucht nach vorn der französischen Dienste sein: Die Algerier sind schuld sei es nun eine Panne von Geheimdienst und Armee oder die gezielte "Lösung" eines lästigen Problems. Sehr sachkundig äußerte sich dazu ein ehemaliger Hubschrauberpilot der algerischen Armee, Allili Messaoud, der mit seinem Hubschrauber nach Spanien desertierte, wo er politisches Asyl genießt.(20)

Ihm scheint die Version über den Hubschrauberangriff der Armee, die von Buchwalter und Pellizzari vertreten wird, höchst unglaubwürdig: "Wir überflogen keine Region zufällig. Das Landheer organisierte die Säuberungen, und wenn sie Terroristen lokalisierten, riefen sie die Hubschrauber, um die Zone zu "behandeln". Niemals handelten die Piloten auf eigene Initiative: Man musste berichten, was man sah, und auf Befehle warten. Schießen ohne einen Befehl erhalten zu haben, hätte uns ins Gefängnis gebracht! Und aus gutem Grund: Damals gab es im Untergrund Kämpfer der Armee des islamischen Heils (AIS), der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA), Leute der AIS, die "Freunde" der Sicherheitsdienste waren ... Ohne Befehl zu handeln, hätte bedeutet das Risiko einzugehen, auf Terroristen zu schießen, die die Schoßhündchen des militärischen Sicherheitsdienstes waren."

Abgesehen von der Tatsache, dass wohl auch für diesen Offizier die Zusammenarbeit zwischen "Terroristen" und den Sicherheitsdienst eine alltägliche Selbstverständlichkeit war, beschreibt er die Einsatzbedingungen: "Es gab immer einen Verbindungsoffizier am Boden. Er war von der Luftwaffe dem Heer zugeteilt. Er hatte ein Kurzwellen-Radio, ... das er benutzte, um Anweisungen vom Heer, den Geheimdiensten zu empfangen, die er dann an uns weiter gab. ... Auch war es (mit den russischen MI 17) unmöglich, tief zu fliegen, um zu schießen. Das war viel zu gefährlich ... weil ein Hubschrauber ein leichtes Ziel ist. ... Menschen mit dem Maschinengewehr zu erschießen hätte bedeutet, sehr, sehr nahe heranzugehen, um das Ziel gut zu sehen. Für einen Hubschrauberkommandanten war es unmöglich, sieben Menschen mit dem Maschinengewehr nieder zu machen, es sei denn, sie wären an Bäume gefesselt gewesen. ... das haben sie selbst im Vietnam-Krieg nicht gemacht."


Soll überhaupt die "gesamte Chiraquerie" ans Licht kommt?

Nach der Version, die vielleicht nicht zufällig schon früh von Pellissari veröffentlicht wurde, und die nun von Buchwalter bestätigt wird, bleiben Zweifel: Nicht uninteressant ist es deshalb, vom DRS lancierte Kommentare zur Kenntnis zu nehmen: Der den algerischen Diensten nahe stehende algerische Journalist "Mounir B."(21) wettet darauf, dass die Aufhebung der Geheimhaltung sämtlicher Dokumente nicht erfolgen wird: Dies würde bedeuten, dass die "gesamte Chiraquerie" ans Licht käme samt des "fürchterlichen unterirdischen Krieges, den sich die Geheimdienste DST (Pasqua-Marchiani) und DGSE (Juppé-Rondot) lieferten,(22) die damit die Mönche zum Tode verurteilt" hätten. "Unbestreitbar ist, dass ein Abgesandter der GIA, ein gewisser Abdullah, in der französischen Botschaft mit dem Residenten der DGSE verhandelt hatte. Er hatte die Botschaft in einem gepanzerten Diplomatenwagen verlassen mit einem Brief, in dem der Agent des DGSE schrieb: "Wir haben Ihren Abgesandten Abdullah empfangen, der uns Ihren Brief und ein Kassette übergeben hat. Wir wollen den Kontakt mit Ihnen halten." Doch auf Befehl von Alain Juppé (1995-1997 Premierminister) seien die Verhandlungen Marchianis mit Zituni abrupt abgebrochen worden: In einer Kabinettssitzung am 9. Mai 1996 sei beschlossen worden, "jede Verhandlungen bezüglich der Mönche von Tibhirin abzubrechen." Dies könnte erklären, weshalb der Kontakt mit "Abdullah" tatsächlich nicht fortgesetzt wurde. Am 21. Mai kam die Meldung über den Tod der Entführten.


Welche Schlüsse können aus dieser noch immer verworrenen Affäre gezogen werden?

• Als gesichert kann gelten, dass die von algerischer Seite immer vehement bestrittene These endgültig belegt ist, wonach weite Teile der GIA vom DRS unterwandert waren und von diesem für politische Zwecke instrumentalisiert wurden.

• Der französischen Regierung war dies bekannt, und offenbar gab es in ihr Kräfte, die das Spiel mit dem Terror in Zusammenarbeit mit dem DRS - auch in Frankreich betrieben.

• Im Interesse beider sollten die Mönche aus Tibhirine verschwinden, weil sie offensichtlich zuviel über diese dubiosen Zusammenhänge wussten.

• Frankreich wird nun alles unternehmen, um allein das Regime in Algier zum Sündenbock zu stempeln. Schon deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sämtliche Unterlagen der Justiz zur Verfügung gestellt werden, denn die französischen Dienste waren in die Affäre weit mehr verwickelt als für die Öffentlichkeit tauglich ist.

• Geschähe dies aber doch, läge bestenfalls ein Teil der ganzen Wahrheit auf dem Tisch, denn die Affäre ist verwoben mit der z. T. kriminellen Zusammenarbeit von Diensten beider Seiten,(23) besonders im Hinblick auf die noch immer allein den "Verrückten Gottes" zugeschriebenen Anschläge in Frankreich.


Werner Ruf, Prof. (i. R.) für Internationale Beziehungen.


Anmerkungen

1) Aggoun, Lounis/Rivoire, Jean-Baptiste: Françalgérie. Crimes et Mensonges d'Etats, Paris 2004, S. 474-480.

2) Die katholische Kirche hat eine starke Stellung in Algerien, obwohl die Zahl der Katholiken relativ gering ist: Sie besitzt immer noch eine beträchtliche Menge von Immobilien, es gibt drei Bischöfe in den Diözesen von Algier, Oran und Constantine und der Erzbischof von Algier hat Kardinalsrang. Sein Vorgänger, Léon Etienne Duval, hatte während des Befreiungskrieges (1954-1962) Verständnis für die Forderungen der algerischen Nationalisten gezeigt, weshalb die französischen Siedler ihn abwertend "Mohamed Duval" nannten und Verräter, der gemeinsame Sache machte mit "den Halsabschneidern, den arabischen Banditen und den muslimischen Fanatikern, die von Moskau manipuliert waren". www.cartage.org.lb/fr/themes/geohis/Histoire/chroniques/pardate/Chr/610715a [14-01-10]

3) So der ehemalige Hauptmann Ahmed Chouchane, dem ein Geheimdienstgeneral vorschlug, Stellvertreter Zitunis zu werden, da dieser "ein Mann von uns" sei. Vgl. Schmidt, Thomas: Der Mord an den Trappisten von Tibhirin: Le Monde Diplomatique (dt. Ausgabe), Nr 7307, 17. März 2004. Samraoui, Mohamed: Chronique des années de sang, Paris 2003, der Djamal Zituni ein ganzes Kapitel widmet (S. 214-226). Samraoui, ein hochrangiger Geheimdienstler, Militärattaché an der algerischen Botschaft, erhielt den Befehl, den Auslandssprecher der FIS, Rabah Kebir zu ermorden, der in Deutschland politisches Asyl genoß. Er weigerte sich, desertierte und erhielt selbst in Deutschland Asyl.

4) Die fundierteste Darstellung dieser Methoden findet sich bei Lazreg, Marnia: Torture and the Twilight of Empire. Princeton University Press 2007. Die französischen Theoretiker der Folter wie etwa Oberst Roger Trinquier finden sich später wieder im Machtapparat der argentinischen Generäle oder des Generals Pinochet. Ihre Texte dienten auch der Ausbildung US-amerikanischer "Spezialisten".

5) Libération, 23. Dez. 2002, Libération 17. März 2007.

6) Ebenda.

7) Zit. n. Schmid a.a.O.

8) Ruf, Werner: Die algerische Tragödie, Münster 1997, S. 127, vgl. auch Amnesty International: ai-Index MDE, London, 28. Febr. 1995.

9) In der Fülle der diesbezüglichen Literatur s. u. A. die Augenzeugenberichte von Souaidia, Habib: La sale guerre, Paris 2001 und Yous, Nesroulah: Qui a tué à Bentalha, Paris 2000.

10) www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/france/6180034/General-Rondots-notebook-how-France-considered-assassinating-terror-suspects. [12-02-10]

11) Diese Fragen ergeben sich aus dem Bericht von Le Monde, 11. Dez. 2009.

12) Pasqua ist auch eine zentrale Figur im sog. "Angolagate". Dabei ging es um massive Waffenlieferungen an die angolanische Regierung unter Dos Santos, damals unter Druck des von den USA und Südafrika unterstützten Rebellenführers Savimbi. In Zusammenarbeit mit Pierre Falcone, Chef eines Firmenkonsortiums namens Brenco International und Berater der Pasqua gehörenden halbstaatlichen Firma Sofremi, und dem russisch-israelischen Waffenhändler Arcadi Gaydamak wickelten Pasqua und Marchiani ein riesiges Waffengeschäft mit Angola ab. Die französische Polizei beschlagnahmte bei ihren Ermittlungen rd. 50.000 belastende Dokumente. Pasqua und Marchiani wurden in der Affäre zu drei Jahren bzw. drei Monaten Gefängnis verurteilt. http://en.wikipedia.org/wiki/Angolagate [12-02-10].

13) Mellah, Salima; Terrorismus im Dienste der Großmächte? algeria-watch, Infomappe 32. Sept. 2003 unter Verweis auf das im Erscheinen begriffene Buch von Aggoune/Rivoire, S. 344.

14) Le Monde 10. Dez. 2003.

15) Zu den Hintergründen s. Samraoui, a.a.O. S. 247-249.

16) Le Monde 11. und 22. Nov. 2009.

17) Le Monde 1. Nov. 2009.

18) Le Figaro, 9. Dez. 2009.

19) Am 24. Dezember1994 hatte ein Kommando der GIA einen Airbus der Air France mit Zielflughafen Paris entführt und drei Personen, einen algerischen Polizisten, den Koch des französischen Botschafters in Algier, und einen Vietnamesen umgebracht. Das Flugzeug landete in Marseille-Marignane. Dort wurde es von französischen Spezialkräften gestürmt, die sämtliche Entführer töteten. Innenminister Pasqua hatte zuvor sämtliche vorwiegend von Immigranten bewohnte Stadtteile hermetisch absperren lassen.

20) http://www.bakchich.info/Tibhirine-l-improbable-bavure,08260.html eingestellt am 13. Juli 2009 [20-07-09].

21) S. die algerische Zeitung Liberté, 9. Juli 2009.

22) Hier scheint "Mounir B" etwas zu verwechseln: Rondot arbeitete für den DST.

23) Die Zusammenarbeit der französischen und algerischen Dienste begann schon gegen Ende des Algerienkrieges, als die damalige Sécurité Militaire (SM) sich große Verdienste bei der Jagd nach den Putschgenerälen Salan, Jouhaud u. A. und deren Verhaftung durch französische Staatsorgane erwarb. Ihnen konnte wegen Hochverrats und wegen Anschlägen auf das Leben de Gaulles der Prozess gemacht werden.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Bilderstrecke der Originalpublikation:

Der französische Präsident Sarkozy und der algerische Präsident Bouteflika


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 61, Frühjahr 2010

Gastkommentar
- Antimuslimischer Feminismus und Rechtsextremismus - eine Replik, von Birgit Rommelspacher

Mauretanien
Sozialstrukturen und politische Macht, von Abdel Wedoud Ould Cheikh
Demokratie, Islamizität und Stammeskultur, von Ulrich Rebstock
Demokratie in Mauretanien - Übergangsphasen in Permanenz, von Mohamed Fall Ould Bah und Laurence Marfaing
"Moralisches Unternehmertum" und islamische Finanznetze von Mohamed Fall Ould Bah und Abdel Wedoud Ould Cheikh
Das Gesetz Nr. 2007-048 zur Ahndung der Sklaverei, von Christine Hardung
Die saharischen Schulen in der Geschichte Mauretaniens, von Ghislaine Lydon
Shaikhani (1907-1986) und die Erneuerung der Tijaniya in den 40er Jahren, von Britta Frede

Afghanistan
- Deutschland im Krieg: Es geht keinem um Afghanistan, von Conrad Schetter

Algerien/Frankreich
- Die Ermordung der Mönche von Tibhirin und die franko-algerische Staatsräson, von Werner Ruf

Westsahara
- Bereitet der EU-Fischerei in der Westsahara ein Ende! Von Axel Goldau

Palästina/Israel
- Ja zum Mobile-Geschäft! Nein zum Goldstone-Bericht! Von Jonathan Cook

Türkei
- Die "Kurdeninitiative" der AKP, von Havva Kökbudak

Film
- Palästinensisches Kino? Von Irit Neidhardt

Islam in outer space
- Teil II - Die afghanische Weltraummission, von Nils Fischer

Wirtschaftskommentar
- Irak, EU und Nabucco: Die Dreigroschenpipeline, von Inga Rogg

Zeitensprung
- 1970 im September, Redaktion

Ex Libris
Al-Nakba - Dokumentarfilm, besprochen von Hakam Abdel-Hadi
Bettina Marx: Gaza. Berichte aus einem Land ohne Hoffnung, besprochen von Katja Hermann
Anna Kölling: Weibliche Genitalverstümmelung im Diskurs, besprochen von Nils Fischer

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Quelle:
INAMO Nr. 61, Jahrgang 16, Frühjahr 2010, Seite 50 - 53
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2010