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NEUZEIT/223: Südafrika - Der ANC wurde in beachtlichem Mass vom Exil geprägt (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 1, Januar/Februar 2012

Lehrjahre im Exil
Der ANC wurde in beachtlichem Mass vom Exil geprägt

von Hans-Georg Schleicher



Zu seinem 100. Jahrestag präsentiert sich der ANC bei allem Stolz auf Erreichtes als eine heterogene Organisation mit Problemen, Diskussionen und Auseinandersetzungen. In seiner Rede zu den Feierlichkeiten sprach ANC-Präsident Jacob Zuma von der Notwendigkeit der Erneuerung des ANC und der Wiedergewinnung verlorenen Vertrauens. Bei der Frage nach den historischen Wurzeln dieser Probleme rückt auch das Exil wieder stärker in den Blickpunkt.


In der Geschichte des ANC kommt dem Exil beträchtliche Bedeutung zu. Wir sprechen hier über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten, von 1960 bis zur Rückkehr der Exilanten nach Wiederzulassung des ANC und anderer verbotener Organisationen 1990. Für die meisten stand eine Rückkehr nach Südafrika nach Überwindung der Apartheid außer Frage.

International erhielt das südafrikanische Exil seine Prägung auch dadurch, dass seine Ursache und sein politischer Inhalt, nämlich die Apartheid und der Kampf gegen die Apartheid, zwei entscheidende internationale Konflikte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tangierten und de facto in diese integriert waren - den Dekolonisierungskonflikt und den Ost-West-Konflikt.


Gravitationszentrum des Befreiungskampfes

Das südafrikanische Exil war in wachsendem Maße politisch und organisatorisch vom ANC geprägt und weitgehend dominiert. Der ANC selbst war 1960 nicht darauf vorbereitet, den Großteil seiner Führungskräfte und entsprechende Strukturen ins Ausland zu verlagern und von dort aus zu operieren. Erste Büros im Ausland und die Delegierung einiger Führer wie O.R. Tambo sollten primär internationale Unterstützung organisieren und koordinieren. Nach der weitgehenden Zerschlagung der ANC-Strukturen in Südafrika selbst veränderte sich das. Nun wurde das Exil zu einem wichtigen Operationsfeld der Organisation, es war Nährboden und Medium zugleich für das Überleben, für Reorganisation und den Aufbau neuer Strukturen des ANC.

Ein lebenswichtiges Kriterium der Wirksamkeit des ANC im Exil war und blieb die Verbindung und Interaktion mit dem Widerstand und dem Kampf in Südafrika selbst. Man war sich immer bewusst - dort in der Heimat schlug das Herz des Widerstandes. Dabei spielte auch eine Rolle, dass sich der ANC in Südafrika mit dem Pan Africanist Congress (PAC) und später der Black Consciousness Movement, aber auch mit der Inkatha rivalisierenden Bewegungen gegenüber sah, die auch international und - was die ersten beiden betrifft - insbesondere in Afrika Unterstützung erhielten.

Zunächst war die erfolgreiche Integration der im politischen Exil befindlichen Südafrikaner durch den ANC keinesfalls selbstverständlich. Nach dem Soweto-Aufstand der Schüler und Studenten Südafrikas 1976 kam die Stunde der Wahrheit. Wem würde sich die Mehrheit tausender, zumeist jugendlicher Flüchtlinge, die plötzlich ins Exil drängten, zuwenden? Es war der ANC, nicht der sich militant und panafrikanisch gebärdende PAC, der diese Soweto-Generation weitgehend integrierte. Gleichzeitig konnte der ANC, der ja den Soweto-Aufstand nicht selbst organisiert hatte, sehr schnell reagieren und sich den veränderten Bedingungen in Südafrika anpassen.

Im Exil 1960 bis 1990 hat sich der ANC reorganisiert und zur größten kohärenten Befreiungsorganisation des Landes entwickelt, er wurde dort zu einem politischen Gravitationszentrum des Befreiungskampfes. Ungeachtet der Unwägbarkeiten, der fremden, manchmal feindlichen Umwelt des Exils war dieses zugleich auch "schützendes Dach", das der ANC als Basis und Ressource für seinen organisatorischen Wiederaufbau nutzte. Es gelang dort, seinen Mitgliedern Ziele, Ideale und Motivationen zu vermitteln, die der Organisation über Krisen hinweg halfen. Zudem diente das Exil der Stärkung des internationalen Ansehens, der Sicherung von Solidarität und Unterstützung sowie der Qualifizierung seiner Führungskräfte.

Innerhalb der Organisation vollzogen sich im Verlauf des Exils gravierende Veränderungen. Mit den Soweto-Flüchtlingen erfuhr der ANC eine deutliche Verjüngung, die in der generationsgeprägten Führungsstruktur allerdings erst allmählich nachvollzogen wurde. Die Soweto-Generation brachte neue Herausforderungen. Lange war es für den ANC schwierig, enge Kontakte zwischen seinen internen und den Strukturen des Exils aufrecht zu erhalten. Das blieb eine permanente Herausforderung, der man vor allem auch mit dem Aufbau neuer Strukturen im Lande Rechnung zu tragen suchte.


Regionale Schwerpunkte des Exils

Auch wenn es insgesamt eine breit gefächerte südafrikanische Diaspora gab, sind als regionale Zentren des südafrikanischen Exils die afrikanischen Frontstaaten einerseits und Großbritannien mit der Metropole London andererseits festzumachen. Der ANC eröffnete seine ersten beiden Auslandsbüros in Daressalam und London.

In London plädierte man für den verstärkten Aufbau von Untergrundstrukturen. Aufgrund der unterschiedlichen politischen und ideologischen Einflüsse in der britischen Metropole wurde London im ANC oft ambivalent gesehen.

In den Frontstaaten waren für den ANC neben der räumlichen Nähe zu Südafrika und entsprechenden Kontaktmöglichkeiten der afrikanische Kontext, die Interaktion sowohl mit den Gastländern als auch im Rahmen der OAU von besonderer Bedeutung. Großbritannien andererseits blieb als ehemalige Kolonialmacht im Konfliktregulierungsprozess im südlichen Afrika, mit seinen Commonwealth-Verbindungen, einer starken Anti-Apartheidbewegung und mit Kontaktmöglichkeiten nach Südafrika ein wichtiges Kommunikationszentrum. Die sozialistischen Staaten wiederum waren nicht so sehr Gastländer im Sinne eines klassischen Exils als vielmehr wichtige Orte für Ausbildung und vielfältige, insbesondere auch logistische Unterstützung für den ANC.

London spielte eine wichtige Rolle bei der Erschließung politischer Unterstützung und diplomatischen Terrains im Westen. Der Großteil der organisatorischen und Öffentlichkeitsarbeit lief über das Londoner Büro. Ein hoher Anteil von Akademikern insbesondere im frühen Exil trug dazu bei, dass sich in und um London so etwas wie eine Denkfabrik des ANC entwickelte. Unzweifelhaft haben politisches Klima und Weltläufigkeit der Metropole London wichtige Sozialisierungsfaktoren dargestellt. Hier flossen unterschiedliche kulturelle Einflüsse und politische Erfahrungen des Exils sowie äußere Impulse zusammen, während im Hauptquartier des ersten Exiljahrzehnts, in Daressalam (seit 1964 im abgelegenen Morogoro), der afrikanische Kontext dominierte.

Nicht nur zur Frage des bewaffneten Kampfes entwickelten sich divergierende Positionen und entsprechende Diskurse zwischen diesen Exilzentren. 1966/67 beispielsweise forderten ANC-Führer in Daressalam, den bewaffneten Kampf von außen nach Südafrika hineinzutragen. Hier waren politische Diskussionen in der Organisation besonders aktiv und schlossen stärker auch Kritik und Dissens ein.

Mit der eindeutigen Verlagerung der Gesamtführung des ANC nach Lusaka ab 1970 floss dann die Vielfalt an Kompetenzen und Erfahrungen stärker zusammen. Unter Führung Tambos wurde Lusaka zu einem Zentrum, wo die Fäden des Exils zusammenliefen, wo unterschiedliche Impulse aus der ANC-Diaspora zusammengeführt wurden. In den 1970er Jahren war Lusaka auch eine Basis für andere Befreiungsbewegungen des südlichen Afrika. Es gab kaum einen hochrangigen Vertreter des ANC-Exils, der dort nicht längere Zeit verbracht hatte.


Wirkungen und Ergebnisse des Exils

Exil bedeutete oft Entfremdung, Trennung von der Familie, vom sozialen und politischen Umfeld, ja manchmal Isolation und Kampf ums Überleben. Es gab auch im Exil traumatische Erfahrungen mit terroristischen Anschlägen des Apartheidregimes. Nachhaltige psychische Wirkungen des Exils sind bisher wenig untersucht und vielleicht auch aus der "Siegerperspektive" nach 1994 verdrängt worden. Der Alltag im frühen Exil war kompliziert und differierte zwischen Großbritannien und Afrika erheblich. Unterschiedliche Lebensbedingungen bei Funktionären und der Mehrzahl der Mitglieder blieben ein Diskussionsthema mit großer Brisanz. Die oft komplizierten Exilbedingungen, die doppelte Last von Sicherung des Lebensunterhalts und politischen Aktivitäten, Sozialisation und Entfremdung belasteten auch partnerschaftliche Beziehungen und die Familie.

Die wachsende Repression und Brutalität des Apartheid-Regimes, mit der jeder Widerstand in Südafrika unterdrückt wurde, war ein wichtiges Thema in der politischen und propagandistischen Arbeit des ANC. Da schien das Exil zunächst ein vergleichsweise sicherer Ort. Doch auch für Exilanten waren - besonders in den Frontstaaten - Gefahren allgegenwärtig. Andererseits wurden gerade dadurch nachhaltige persönliche Bindungen gefördert sowie Loyalitäten zum ANC bestärkt.

Angesichts der Trennung von der Familie und der Einsamkeit vieler Exilanten bot sich der ANC als Bezugspunkt, als eine "Großfamilie" an. Die Organisation trug dem gezielt in ihrer Politik Rechnung. Sowohl in einzelnen Frontstaaten als auch in Großbritannien entwickelten sie lebendige soziale Strukturen und Aktivitäten. Durch Information, politische Bildung, z.T. auch soziale Unterstützung wurde den Mitgliedern das Gefühl der Zugehörigkeit zur und Betreuung durch die Organisation vermittelt. Das schloss auch Elemente von Einfluss und Kontrolle ein. Selbst Kritiker bescheinigen dem ANC, dass er damals weit mehr als nur eine politische Bewegung war. Er war für viele Südafrikaner, auch im Exil, eine "Lebenseinstellung", ein Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft.

Im Exil gab es - abhängig vom jeweiligen Zustand der Organisation, von Entwicklungen in Südafrika und von der internationalen Konstellation - immer auch eine Ambivalenz der Gefühle, die bei den Exilanten zwischen totaler Marginalisierung und Scheitern auf der einen und Hoffnung auf entscheidende Mitwirkung an politischen Veränderungen auf der anderen Seite pendelten. Das Exil war oft bestimmt durch Entbehrungen und Frustration, andererseits aber auch eine Schule politischer und Lebenserfahrung.

In den 1980er Jahren entwickelte der ANC Strukturen eines state in exile, die seinen Anhängern alternativ zur Integration in die Gastländer Möglichkeiten einer südafrikanischen Exilsozialisation boten. Der ANC funktionierte damals teilweise wie eine Regierung im Wartestand. Das trug zu seiner weltweiten Anerkennung bei (es gab mehr Auslandsvertretungen des ANC als solche des offiziellen Südafrika) und brachte ihm Ansehen in großen Teilen der Bevölkerung Südafrikas.

Raymond Suttner, langjähriger Aktivist und heute Analyst des ANC, bezeichnet das Exil als einen für die Entwicklung und den gegenwärtigen Charakter des ANC besonders einflussreichen Aspekt kultureller Erfahrungen. Die politische Kultur der Aufenthaltsländer, das Erlebnis sozioökonomischer Experimente und der Politik dieser Länder, deren internationale Akzeptanz sind wichtige Erfahrungen im Exil. Diese empirische Basis, ihre Anwendungsmöglichkeiten in Exil-Strukturen der Organisation, die Herausforderung internationalen Agierens in der Kombination mit Bildung und Ausbildung in den Gastländern gaben dem Exil seine besondere Bedeutung. Der stellvertretende Generaldirektor im südafrikanischen Außenministerium Abdul Minty berichtet, es gab im alten Außenministerium Südafrikas kaum jemanden, der mit Erfahrungen einiger ANC-Diplomaten besonders in der internationalen Diplomatie mithalten konnte. Es waren vor allem auch ehemalige Exilanten, die sich in den schwierigen Verhandlungen der Übergangszeit von 1990-94 gegenüber Vertretern des Apartheid-Regimes durchsetzen konnten.

Im Exil wurde an konzeptionellen Vorstellungen zu Verfassungsfragen, zur Wirtschaftsentwicklung, zu Bildung und Rechtswesen eines Post-Apartheid-Südafrika gearbeitet. So entstanden dort Verfassungsrichtlinien. Unmittelbar nach der Rückkehr nach Südafrika konnte der ANC eine makroökonomische Forschungsgruppe und ein National Institute for Economic Policy einrichten - Ergebnisse im Exil gesammelter Erfahrungen.


Kalter Krieg und politische Kultur

Ost-West-Konflikt und Kalter Krieg prägten internationale Entwicklungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, kein regionaler Konflikt blieb davon unberührt. Der Kampf gegen das Apartheidregime und dessen regionale Hegemonialbestrebungen war aufs Engste mit der Dekolonisierung Afrikas verknüpft. Im internationalen Kontext musste sich der ANC - wie andere Befreiungsbewegungen auch - deshalb mit den beiden Supermächten ins Benehmen setzen - mit der UdSSR, die über Beziehungen zur SACP, dann zum ANC frühzeitig den Befreiungskampf unterstützte, und mit den USA, lange einer der stärksten Verbündeten des Apartheidsystems. Beide Mächte waren in ihrer Haltung beeinflusst durch geostrategische Interessen.

Der eigene Gestaltungseinfluss des ANC, ähnlich wie bei anderen im Exil operierenden Akteuren, wurde häufig im Westen wegen seiner institutionellen Schwäche und der Abhängigkeit von fremder Unterstützung unterschätzt, nicht zuletzt auch wegen der Zerschlagung der inneren Strukturen des ANC. Das wurde später durch ein Bedrohungssyndrom ersetzt, als der bewaffnete Kampf propagiert und ein revolutionärer Systemwandel postuliert wurden, insbesondere aber auch wegen der politischen Nähe und der engen Zusammenarbeit der Befreiungsorganisation mit der Sowjetunion.

Die Auswirkungen von Ost-West-Konflikt und Kaltem Krieg auf den ANC sollten nicht übersehen werden. Die USA, die unter Reagan gegenüber dem Apartheidregime eine Politik des constructive engagement proklamierten, stuften den ANC bis 2008 als terroristische Organisation ein. Auf der anderen Seite war die Unterstützung der sozialistischen Staaten für den ANC, insbesondere in kritischen Situationen, sehr wichtig. Manche Führer des ANC orientierten sich bei gesellschaftspolitischen Visionen am osteuropäischen Sozialismus. Eine zeitweise weitgehend unkritische Haltung im ANC zu seinen Verbündeten führte dennoch nicht zu einem ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnis. Außerdem gab es den Konflikt zwischen Moskau und Peking mit seinen Nebenwirkungen auf die Befreiungsbewegungen. Andererseits war da auch immer der wichtige Faktor der weltweiten internationalen Solidarität. Inspiriert fühlte man sich durch Länder wie Kuba und Vietnam in der Rolle eines "antiimperialistischen David". Der Gefahr einer übergroßen äußeren Einflussnahme auf den ANC, wie sie einige Beobachter sahen, konnte jedoch offenbar weitgehend begegnet werden.

Angesichts aktiver Geheimdienstoperationen Pretorias gab es zeitweise ein überspitztes Sicherheitsdenken bis hin zur Spionagehysterie. Kritiker weisen in diesem Zusammenhang auf Formen einer undemokratischen Kultur mit zentralistischen und autoritären Erscheinungen im ANC hin, die - so die Mehrheit der Beobachter - jedoch durch die integrative Politik der Organisation verdrängt wurden. Der ANC überwand Krisen oftmals, indem er Probleme vertagte oder aussaß. Politische Entscheidungen im Konsens erfolgten oft zu Lasten einer vertiefenden Diskussion und kritischer Auseinandersetzung. In schwierigen Fällen wie Revolten in Militärcamps des ANC, die durch repressive Maßnahmen verschärft wurden, kam es zu Menschenrechtsverletzungen, wie sie später durch die Wahrheits- und Versöhnungskommission konstatiert wurden. Der ANC hatte diese Vorgänge durch eigene Kommissionen bereits untersucht und - ungewöhnlich für eine Befreiungsarmee - daraufhin einen Verhaltenskodex eingeführt.

Tatsächlich boten die Bedingungen des Befreiungskampfes mit Untergrundarbeit, bewaffnetem Kampf und dezidiertem Sicherheitsdenken auch im Exil den Nährboden für zentralistische, autoritäre und undemokratische Tendenzen. Es gab Erscheinungen von Dogmatismus und Intoleranz. Denis Goldberg beschrieb die Situation: "If we would have had a Siberia, people would have been sent to Siberia." Auch das ist ein Erbe des Exils und seiner spezifischen Bedingungen. Angesichts dessen sind bis heute anhaltende Auseinandersetzungen gerade zur politischen Kultur in Südafrika nicht überraschend.


Im Spannungsfeld regionaler Auseinandersetzungen

Afrikanische Exilländer waren für den ANC lebenswichtig als Transit-, Kommunikations- und später auch militärische Ausbildungsbasis. Ihre postkoloniale Entwicklung machte sie gleichzeitig auch zu einer wichtigen Lehrstätte, auch bei der Gestaltung internationaler Beziehungen und im Umgang mit Konflikten. Von den Konflikten im südlichen Afrika war der ANC unmittelbar berührt. Wie andere Befreiungsorganisationen war er Bestandteil, oft auch Objekt afrikanischer Versuche von Verhandlungslösungen für diese Konflikte und teilweise drastisch davon betroffen. Gastrecht und Unterstützung der Frontstaaten waren für den ANC von existenzieller Bedeutung, hinzu kam deren Rolle als Kern der Afrika-Gruppe in den Vereinten Nationen und Initiator vieler diplomatischer Aktivitäten dieser Gruppe zum südlichen Afrika.

Die Beziehungen zu den Frontstaaten wurden wiederholt - so die Sicht des ANC - durch deren Einmischungsversuche in Belange der Befreiungsbewegung gestört. Das betraf Fragen des bewaffneten Kampfes, aber auch das Verhältnis des ANC zum rivalisierenden PAC. Der tansanische Präsident Nyerere versuchte, beide Organisationen zu einem Miteinander zu bewegen, und trug diese Position auch in das stark von ihm beeinflusste OAU-Befreiungskomitee. Die Interaktion des ANC mit den Frontstaaten, der OAU und dem OAU-Befreiungskomitee war ein widersprüchlicher Prozess, in dem es um Interessen und Handlungsspielräume ging.

Die Exilbedingungen, geprägt von typisch postkolonialen Entwicklungen Afrikas, von der Frontstaaten-Realität und dem ambivalenten Verhältnis des sambischen Präsidenten Kaunda zu den Befreiungsbewegungen sowie seiner widersprüchlichen Regionalpolitik, veränderten sich im Lauf der Jahre. Nach der Übernahme der politischen Macht in Angola und Mosambik durch MPLA bzw. Frelimo 1975 wurden in beiden Ländern 1977 ANC-Büros eingerichtet. Angola stellte bald mit fünf Ausbildungscamps die wichtigste militärische Basis des ANC dar.

Aber das Apartheidregime erhöhte mit massiver Destabilisierung seinen Druck auf die Nachbarstaaten - nicht ohne Erfolg. Gestaltungsmöglichkeiten des ANC für den politischen, insbesondere aber den bewaffneten Befreiungskampf wurden besonders in Lesotho, Botswana und Swasiland eingeschränkt. Schmerzhaft war das im Falle Mosambiks, wo der Druck Südafrikas 1984 zum Nkomati-Abkommen führte - ein schwerer Rückschlag für den ANC.

Rückblickend reflektieren ehemalige Exilanten ihre Erfahrungen mit der Politik der Frontstaaten zwar durchaus kritisch, aber auch mit Verständnis für die schwierige Lage ihrer Gastländer, die unter gewaltigem Druck Südafrikas und teilweise auch des Westens standen. Bei vielen Exilanten hat sich eine starke Affinität zu den ehemaligen Gastländern erhalten. Sie haben nicht vergessen, wie manche Länder wegen ihrer Unterstützung des Befreiungskampfes gelitten haben. Sie selbst kehrten in ein mehr oder minder intaktes Südafrika zurück, während einige Exilländer durch Südafrikas Aggressionspolitik und von ihm unterstützte Bürgerkriege zerstört waren.

Exilerfahrungen des ANC schlossen auch politische und sozioökonomische Entwicklungen afrikanischer Länder ein, die unterschiedlichen Modellen folgten. Ihre Entwicklungsprobleme waren vielfältig und kompliziert. Konzepte zur Lösung dieser Probleme reichten vom "afrikanischen Sozialismus" Nyereres (ujamaa), über den "Sambischen Humanismus" Kaundas bis zu Versuchen in Angola und Mosambik, sich am osteuropäischen Sozialismus zu orientieren. Der ANC erlebte das Scheitern dieser Versuche und die Umorientierung auf Marktwirtschaft und Pluralismus.


Eine Bilanz

Als der ANC 1994 Regierungsverantwortung in Südafrika übernahm, war die Organisation nicht unwesentlich durch das Exil geprägt. Viele Führungskräfte hatten dort ihre politische und teilweise auch fachliche Profilierung erfahren. Dort waren Strukturen und konzeptionelle Vorstellungen entstanden, die der ANC teilweise mit in das neue Südafrika einbrachte. Mit Erfolg war das Exil für die Sicherung internationaler Anerkennung sowie politischer und materieller Unterstützung genutzt worden. Die von Gegnern erwartete Demystifizierung und ein Popularitätsverlust des ANC bei seiner Rückkehr nach Südafrika erwiesen sich als Fehleinschätzung. Der ANC präsentierte sich erfolgreich als Führer des Kampfes gegen die Apartheid und profitiert bis heute vom Image der Befreiungsbewegung. Nach der Rückkehr spielte die Exilführung des ANC - entgegen der Annahme vieler Beobachter - im Transitionsprozess und in den ihn begleitenden Verhandlungen, aber auch bei der Besetzung vieler Schlüsselpositionen eine dominierende Rolle. Wohl gab es Spannungen zwischen "Internals" und "Exiles", der erwartete scharfe Machtkampf blieb in diesem Maße jedoch aus.

Überraschend unkompliziert verliefen die Reintegration der Exilanten und die Rekonstituierung und Restrukturierung des ANC nach Untergrund und Exil. Dazu und zum Erfolg des ANC in den schwierigen Verhandlungen des Übergangsprozesses 1990-94 haben internationale Erfahrung, entsprechende Kontakte und Ressourcen sicherlich beigetragen. Im Exil des ANC haben ungeachtet seiner Ambivalenz, schwieriger Bedingungen, negativer Erfahrungen und Wirkungen insgesamt die positiven Aspekte überwogen, die dazu beitrugen, dass der ANC letztendlich seinem Anspruch als politische Führungskraft eines erfolgreichen Befreiungskampfes gerecht wurde. Hypotheken des Exils sind jedoch unübersehbar. Aus dem Exil tradierte Politikelemente wie z.B. die umstrittene Kaderpolitik spielen noch eine Rolle. Einflussreiche Netzwerke aus jener Zeit bestehen fort. Das Wirken dieser Netzwerke tangiert Erscheinungen von Korruption und Nepotismus, die Grenzen sind hier oft fließend. Andererseits gibt es Beispiele für Lebensläufe, die durch das Exil oder seine Auswirkungen ge- oder zerstört wurden. Für manchen ist das Exil eben nur Erinnerung an einen schönen, aber vergangenen Lebensabschnitt, dem nicht die erhofften Blütenträume im Post-Apartheid-Südafrika folgten. All diese Fragen werden auch in den aktuellen Auseinandersetzungen im ANC gestellt. Allerdings geht es hier inzwischen um mehr, es geht um Charakter und Profil des ANC, um seine Erneuerung und um seine Konzeption für Südafrikas künftige gesellschaftliche Entwicklung.


Hans-Georg Schleicher
Der gelernte Historiker war viele Jahre als Botschafter der DDR in afrikanischen Ländern tätig.

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afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
41.‍ ‍Jahrgang, Nr. 1, Januar/Februar 2012, S. 23 - 27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2012