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WISSENSCHAFT/067: Geschichtswissenschaft im Blickwinkel der Globalisierung (Uni Witten/Herdecke)


Perspektiven - Zeitschrift der Universität Witten/Herdecke
für Wissenschaft Kultur und Praxis - Heft 12, August 2007

Geschichtswissenschaft im Blickwinkel der Globalisierung
Zur Perspektivenerweiterung des historischen Denkens

Von Jörn Rüsen


Erinnerung stiftet Identität. Ein Blick in die Geschichte bietet den Menschen Orientierung für ihr gegenwärtiges Leben. Historisches Denken als Deutung der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart und ihrer Zukunftsaussichten gibt es seit jeher in allen Kulturen. Demgegenüber ist Geschichte als Wissenschaft eine historisch späte Besonderheit des historischen Denkens. Es verfasst sich 'wissenschaftlich', d.h. es vollzieht seine Deutung der menschlichen Vergangenheit in einer 'disziplinären' Form als Fachwissenschaft. Diese Form der Fachwissenschaft bildet sich in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus. Seitdem ist es universell geworden: In allen Gesellschaften, die den Modernisierungsprozess durchlaufen, etabliert sich im tertiären Bereich des Bildungswesens das Fach Geschichte (und entsprechend im sekundären Bereich der Geschichtsunterricht). Doch der westlich-wissenschaftliche Geschichtsblick ist, global gesehen, nicht der einzig mögliche. Andere Kulturen kritisieren an ihm eine Verdinglichung, die insbesondere den moralischen Charakter von Überlieferungen außer Acht lasse. Dabei schließen sich eine wissenschaftlich rationale Wissensproduktion und eine unterschiedliche Deutung des so gewonnenen Datenmaterials keineswegs aus, sagt der Historiker Jörn Rüsen. Als Grundvoraussetzung, dass der interkulturelle Diskurs über die Geschichte als Wissenschaft gelingt, sieht Rüsen die Überwindung des Ethnozentrismus: Keine Kultur darf das Anderssein der anderen abwerten und sich selbst zum Maß der Dinge machen.


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In jüngster Zeit hat sich mit der Verdichtung der Globalisierung im Bereich des humanwissenschaftlichen Denkens eine neue Sensibilität für kulturelle Differenz herausgebildet, die sich auch auf das historische Denken in seiner wissenschaftlichen Verfasstheit bezieht. Natürlich tritt das historische Denken schon jenseits und vor dieser Verfasstheit kulturspezifisch auf. Aber auch seine methodisch-rationale Geregeltheit als 'Wissenschaft' koppelt es nicht von diesen Vorgaben kultureller Differenz in der menschlichen Daseinsorientierung ab. Das ist deshalb nicht der Fall, weil es in seiner wissenschaftlichen Verfassung kontext- und standpunktabhängig bleibt.

Die Tatsache, dass die wissenschaftliche Verfassung des historischen Denkens ein Produkt des westlichen Modernisierungsprozesses ist, hat in nicht-westlichen Ländern zu einer kritischen Distanzierung geführt. Diese Kritik richtet sich zunächst einmal gegen die meta- und prä-disziplinären Einflussfaktoren der historischen Sinnbildung, wie den Fortschrittsbegriff, die Kultur- und Sinnvorstellungen etc. Sie betont deren Kulturspezifik und grenzt sie von anderen kulturspezifischen Gesichtspunkten der historischen Deutung ab. Entschiedenere Distanzierungen betreffen auch das methodische Verfahren als solches: Ihm wird eine Verdinglichung im menschlichen Bezug zur Vergangenheit vorgeworfen, die die lebendigen, lebensdienlichen Vollzüge der historischen Erinnerung lähme oder außer Kraft setze und insbesondere den moralischen Charakter der historischen Deutung vergangenen Geschehens verdunkle, wenn nicht gar auflöse.

Damit ergibt sich eine eigentümliche Problemlage: Die mit den methodischen Regulierungen des historischen Denkens verbundenen universellen Geltungsansprüche stoßen auf kulturelle Differenzierungen, die die normativen Dimensionen und Elemente der historischen Erkenntnis auf je eigene Bedürfnisse nach kohärenter Identität und Abgrenzung von anderen beziehen und damit relativieren. Wissenschaftlichkeit und Kulturspezifik geraten in ein ungeklärtes Verhältnis. Wenn die Wissenschaftlichkeit als Indiz westlicher Kulturspezifik angesehen wird, verliert die methodische Rationalität des historischen Denkens seine universalistischen Geltungskriterien, und damit hört die Geschichtswissenschaft letztlich auf, eine Wissenschaft zu sein. Die Historie wird dann ausschließlich in den Dienst kultureller Selbstverständigung genommen und damit zum Mittel der Selbstbehauptung im 'Kampf der Kulturen' um Anerkennung instrumentalisiert.

Die gegenwärtige Situation der interkulturellen Debatte über die Geschichte als Wissenschaft ist durch eine durchgängige Divergenz geprägt: Im Rahmen der etablierten Bildungssysteme (Schul- und Hochschulwesen) hat sich die spezifisch moderne Form des historischen Denkens überall durchgesetzt: Geschichtsunterricht gehört ebenso zum Standard der Erziehung wie das Fach Geschichte in den Kanon universitärer Fachdisziplinen. Die in beiden Gebieten maßgeblichen Standards (didaktische Regelungen und methodische Verfahren der historischen Forschung) haben sich weitgehend angeglichen, auf der Ebene der Fachwissenschaft am entschiedensten, aber durchaus wirkungsmächtig auch im Schulunterricht. Auf der Reflexionsebene jedoch, auf der die maßgeblichen Sinnkriterien und kulturellen Funktionen des historischen Denkens analysiert werden, sieht es anders aus: Hier wird mit der Kontextabhängigkeit und Perspektivik der historischen Erkenntnis deren grundsätzliche Einbettung in kulturelle Differenz als Inhalt und Herausforderung menschlicher Identitätsbildung betont.

Es kommt darauf an, beide Ebenen zugleich in den Blick zu nehmen und deutlich zu machen, dass Kulturspezifik und universelle Erkenntnisstandards sich logisch nicht ausschließen, sondern durchaus vermittelbar sind, jeweils sich sogar wechselseitig bedingen können. Mit seinen universellen Erkenntnisstandards der historischen Forschung trägt die Geschichtswissenschaft der 'Zivilisationsökumene' (Hermann Lübbe) der Wissenschaft im Globalisierungsprozess Rechnung. Da die hier maßgebliche methodische Rationalität eine rein formale Angelegenheit der Wissensproduktion darstellt, können die Inhalte und mit ihr auch die jeweiligen Deutungsperspektiven grundsätzlich divergent und unterschiedlich sein.

Ein besonderes Problem in der interkulturellen Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede des historischen Denkens stellt der Ethnozentrismus als eine anthropologisch tief verankerte Strategie der menschlichen Identitätsbildung dar. Mit dieser Strategie realisiert sich menschliche Selbstbehauptung im Prozess der Identitätsbildung. Das historische Denken folgt in dreifacher Hinsicht einer ethnozentrischen Sinnbildung: in Form einer asymmetrischen Wertung im Verhältnis zur eigenen Gemeinschaft und in der Konstruktion des Andersseins der anderen; in der Form einer ungebrochenen Kontinuität der eigenen Geschichte mit einer starken Betonung zukunftsträchtiger Ursprünge; und schließlich in der Form einer historischen Perspektive, die die Präsentation der eigenen Geschichte als Präsentation der ganzen Geschichte erscheinen lässt. Historisches Denken, das dieser Logik folgt, konstituiert aus sich selbst heraus, aus seiner eigenen Logik, einen Konflikt. Das Anderssein der anderen wird abgewertet und marginalisiert, das Eigene erscheint also in den Meistererzählungen der eigenen Kultur grundsätzlich auf Kosten des anderen. Bei den jeweils anderen ist es jeweils umgekehrt genauso. Die wissenschaftliche Verfasstheit des historischen Denkens kann zur Lösung dieses Konflikts Wesentliches beitragen: Sie gründet sich auf Vernunftkriterien, die prinzipiell allen Menschen unterstellt werden und an denen sich die Plausibilität der je unterschiedlichen historischen Deutungen messen lassen muss. Damit wird im Prinzip die normative Asymmetrie des Ethnozentrismus gebrochen, ohne dass damit schon die Vielfalt und Divergenz historischer Deutungsperspektiven in Frage gestellt würde. Nur muss die Art und Weise, wie diese Perspektiven gebildet und begründet werden, kulturübergreifenden Gesichtspunkten der Geltungssicherung unterworfen werden. Dazu gehören die methodischen Verfahren der Forschung, aber auch Gesichtspunkte, die die jeweiligen normativen Elemente des historischen Denkens betreffen, mit denen es seine Funktion der Identitätsbildung erfüllt: Hier gilt der Grundsatz der Gleichheit, der im Blick auf die Vielfalt und Differenz der Kulturen die Form d'er regulativen Idee einer wechselseitigen kritischen Anerkennung von Unterschieden annimmt.

Der interkulturelle Diskurs des historischen Denkens muss sich heute als Vollzug einer 'zweiten Achsenzeit' in der Weltgeschichte begreifen. In der ersten wurden die Grundlagen der kulturellen Differenzen gelegt, die sich heute im Verhältnis der Weltzivilisationen zur Geltung bringen. Die hier maßgeblichen Sinnkriterien des historischen Denkens weisen universalistische Elemente auf, die sich jedoch wechselseitig ausschließen. Die gegenwärtige Arbeit im historischen Denken an seinen Grundlagen müsste dann darin bestehen, diese Universalismen so neu zu deuten, dass sie sich nicht mehr ausschließen. Vielmehr müssen sie in ein Inklusionsverhältnis treten, in dem das Fremde und Andere nicht im Eigenen als dessen Gegenbild verschwindet, sondern ihm gegenüber seine eigene Kontur neu gewinnt.

Menschheit als Inbegriff der im historischen Denken zeitgemäß wirksamen universalen Sinnkriterien würde sich dann einmal im Universalismus der den interkulturellen Diskurs regelnden Gesichtspunkte ausdrücken. Man könnte geradezu von einem methodologischen Humanismus sprechen, wenn man die regulative Idee wechselseitiger kritischer Anerkennung kultureller Differenz als Prinzip der Regelung von Geltungsansprüchen im Verhältnis unterschiedlicher historischer Identitäten ernst nimmt. Zugleich brächte sich der Universalismus menschheitlichen Denkens aber auch dadurch zur Geltung, dass sich Menschheit nur in je unterschiedlichen ('individuellen') Ausprägungen nach unterschiedlichen Bedingungen der menschlichen Lebenspraxis in Raum und Zeit allein denken lässt.


Prof. Dr. Jörn Rüsen ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Geschichte und Geschichtskultur an der Universität Witten/Herdecke. Der gebürtige Duisburger, bis Juni 2007 auch Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen, lehrte lange Jahre an den Universitäten Bochum und Bielefeld. In seinen zahlreichen Publikationen widmet sich Rüsen immer wieder der sinnbildenden Kraft der Kulturwissenschaften - so auch in seinem jüngsten Buch "Kultur macht Sinn" (Böhlau Verlag Köln/Weimar 2006).


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Quelle:
Perspektiven - Zeitschrift der Universität Witten/Herdecke
für Wissenschaft Kultur und Praxis, Heft 12, August 2007, S. 32-35
Herausgeber: Dipl.-Kfm. Peter Kallien (Geschäftsführer)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2007