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DILJA/077: Südafrika - Statthalterstaat des Imperiums - Teil 16 (SB)


Statthalter westlicher Hegemonialmächte auf dem schwarzen Kontinent - Südafrika vor, während und nach der Apartheid


Teil 16: 10 Jahre "danach": Eine neue Widerstandsbewegung "von unten" stellt den Nachapartheidstaat in Frage. Die Antwort sind altbekannte Beschwichtigungsmanöver

An einem Tag im August brachen in Intabezwe, einem in der Nähe von Harrismith in Free State gelegenen Township, scheinbar spontane Proteste gegen das dort herrschende Elend aus. Die Autobahn von Durban nach Johannesburg wurde durch brennende Autoreifen blockiert. Als die Polizei anrückte, warfen die aufbegehrenden Jugendlichen mit Steinen, woraufhin die Sicherheitskräfte Gummigeschosse zum Einsatz brachten. Dabei töteten sie einen 17jährigen Schüler, was in der Öffentlichkeit zu großem Entsetzen und starken Protesten gegen die Provinzregierung führte.

In Kapstadt starb ein Rentner namens Mcondobi an einer Lungenentzündung. Er hatte sich bester Gesundheit erfreut, bis er eines Tages sein Haus verlassen mußte. Er wurde Opfer einer Zwangsräumung. In der "Hundehütte", in die er verbracht wurde, war es bei Winteranbruch bitter kalt. Das Dach leckte, es gab weder Dusche noch Bad. Mcondobi holte sich eine Lungenentzündung und starb. So wie er verlieren viele Menschen, sehr oft auch Ältere, ihr Zuhause. In Wellblechhütten ohne Wasser und Strom leben gezwungenermaßen rund zehn Millionen Menschen. Rund 43 Prozent der Bevölkerung Südafrikas müssen von weniger als einem Dollar pro Tag leben.

Und oft fehlt es am Allerlebensnotwendigstem - sauberem Trinkwasser. Der Staat und seine Institutionen sind keine Hilfe, wie beispielsweise Thulisile Manquele, eine arbeitslose Mutter, erfahren mußte. Sie ging in dem Streit um Wasser bis vor das Oberste Gericht in Durban, mußte jedoch unverrichteter Dinge nach Chatsworth zurückkehren, wo das in der Leitung stehende Wasser durch Fäkalien verunreinigt war. Leitungswasser bekommt nur, wer über eine Chipkarte verfügt. Viele Menschen holen sich ihr Wasser aus Flüssen und anderen Quellen mit dem Risiko, an Cholera oder anderen, unter besseren hygienischen Verhältnissen vermeidbaren Krankheiten zu erkranken.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben die Ärmsten der Armen eine schwarze Hautfarbe. Einschlägigen Berichten zufolge sind auch Menschenrechtsverletzungen zu beklagen: Folterungen und sogar Todesfälle in der Haft, Gewaltanwendungen seitens der Polizei und völlig unzureichende Bedingungen in den Haftanstalten.

Von Südafrika, das verraten schon die Ortsbezeichnungen, ist hier die Rede. Wer allerdings glaubt, schockierende Fallbeispiele und Beschreibungen skandalöser Verhältnisse aus der Zeit der Apartheid, die nach offizieller Übereinkunft spätestens seit dem 27. April 1994 als beendet angesehen wird, vor sich zu haben, muß sich eines Besseren oder vielmehr Schlechteren belehren lassen. Der 17jährige Schüler in Intabezwe starb am 30. August 2004, der zwangsgeräumte Rentner im Mandela-Park Kapstadts im Februar 2002, und die Zahlen über Millionen Arme und Wohnungslose sind noch immer gültig.

Für das Jahr 2003 bezifferte der Human Development Report South Africa die Zahl der Menschen, die im Kapstaat in absoluter Armut, definiert über ein Pro-Kopf-Einkommen von weniger als zwei US-Dollar (15 Rand) pro Tag, leben, auf 21,9 Millionen, was 48,5 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Die Einkommenskluft zwischen Menschen weißer und schwarzer Hautfarbe stieg noch weiter an; so von 2003 zu 2004 von 111:1 auf 150:1. Mike Sutcliffe beispielsweise, Stadtdirektor in Durban und ehemaliges ANC-Mitglied im Provinzparlament, bezog ein Jahresgehalt von 800.000 Rand sowie eine Zusatzdiät von 500.000 Rand - für eine solche Summe müßte ein einfacher Arbeiter, bekäme er einen Mindestlohn von 2000 Rand monatlich, vier Jahrzehnte lang arbeiten. Wer könnte es den Menschen in Durban da verdenken, daß sie nach den bitteren Erfahrungen, die sie in der Nachapartheidzeit bereits machen mußten, nicht länger auf diesen Stadtdirektor und die ANC-Zentralregierung hoffen und vertrauen?

Als Thabo Mbeki im Juni 2002 im Johannesburger Nobelviertel Sandton den UN-Weltgipfel zur Nachhaltigen Entwicklung eröffnete, galt es mehr denn je, die Worte des seit 1999 amtierenden Staatspräsidenten und seinesgleichen an ihren Taten zu messen. Mbeki suchte die Quadratur des Kreises zu vollführen: Er wollte sich und das "neue" Südafrika als Fürsprecher für die armen Staaten Afrikas, wenn nicht gleich der ganzen Welt, verstanden wissen. Und selbstverständlich beklagte er die klaffende Kluft zwischen arm und reich auch im eigenen Lande, so als wäre diese ein zu bedauerndes Naturereignis und nicht das direkte Ergebnis einer neoliberalen, vom ANC sogar noch forcierten Politik sowie einer Grundsatzentscheidung für die kapitalistische Gesellschaftsstruktur, die dem seit Jahrhunderten kolonialisierten Land die Schrecken der (offiziellen) Apartheid eingebracht hatte.

All jene, die den Präsidenten sowie die geladenen Gipfelteilnehmer daran erinnern wollten, daß die gegenwärtige Misere zwar aus der Apartheidzeit übernommen, seitdem jedoch eigentlich nur mit einer besseren Fassade versehen wurde, mußten draußen bleiben. Längst hatte sich im "neuen" Südafrika eine Protest- und Widerstandskultur Bahn gebrochen, die sich nicht mehr von den herrschenden Institutionen des ANC-dominierten Apparates vereinnahmen lassen wollte. Insbesondere in den Townships hatten sich die Menschen abermals zusammengefunden, um ihre vordringendsten Probleme fern der staatlichen Verwaltung zu regeln. An vielen Orten, in zahlreichen Gemeinden entstanden Basisorganisationen obdachloser, landloser, armer und noch immer notleidender Menschen. "Die Apartheid zwischen arm und reich muß beseitigt werden", hatte Mbeki in seiner Eröffnungsrede vor dem UN- Gipfel behauptet, doch Worte dieser Art dienten allein dem Zweck, dem wachsenden Unmut im eigenen Land entgegenzuwirken und zu verhindern, daß sich immer mehr Betroffene - und das sind die meisten - in solchen, vom ANC-Apparat unkontrollierbaren Zusammenschlüssen organisieren.

Im Jahr zuvor, beim Weltwirtschaftsforum 2001, hatte die Polizei Südafrikas Protestkundgebungen unmittelbar vor dem Tagungsgebäude noch zugelassen - 2002 schon nicht mehr. Die Demonstranten wurden hinter dreihundert Meter entfernte Absperrungen abgedrängt. Als Mbeki, begleitet von Polizeisirenen und Blaulichtern, am Hilton-Hotel eintraf, wo er mit Vertretern großer Konzerne wie AngloAmerican, NAIL, Sanlam und Thames Water zusammentreffen sollte, durchdrangen viele Menschen die Absperrungen, wurden jedoch von der Polizei, die rigoros von ihren Schlagstöcken Gebrauch machte und berittene Beamte einsetzte, zurückgedrängt. Es entstand eine Szenerie, wie sie sinnbildlicher für die Positionierung des ANC, von dem landauf, landab längst gesagt wurde, er habe sich "von den Menschen entfernt", kaum hätte sein können. Von den hausgemachten, drängenden sozialen Fragen wollten Mbeki und seine Geschäftspartner ganz offensichtlich nichts wissen.

1996, wenige Jahre nach dem offiziellen Apartheidende, verfügten, wie eine in jenem Jahr durchgeführte Volkszählung ergeben hatte, die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung nur etwa über drei Prozent, die reichsten 10 Prozent jedoch über die Hälfte des Nationaleinkommens. Unter der Verantwortung des ANC, der ja, wie Mbeki auf dem Gipfel sehr wohl behauptet hatte, die "Apartheid zwischen arm und reich" beenden wollte, hatte sich dieses für kapitalistische Gesellschaften so typische und die zugrundeliegenden Ausbeutungsverhältnisse zumindest andeutende Mißverhältnis nicht etwa abgeschwächt, sondern noch zugespitzt. In dieser Situation nahmen der ANC und mit ihm auch seine Partner in der Dreierallianz, die Kommunistische Partei SACP sowie der Gewerkschaftsbund COSATU, in der Entwicklung Südafrikas die für kapitalistische Staaten ab einem gewissen Punkt zum Erhalt der herrschenden Verhältnisse unverzichtbare Rolle der Sozialdemokratie ein.

In den gesellschaftspolitischen Verteilungskämpfen, die von oben nach unten geführt wurden mit der Folge, daß die wenigen Reichen immer reicher und die vielen Armen immer mehr und immer ärmer wurden, müssen ab einem bestimmten Grad der Widerstandsentwicklung Hoffnungsträger in Erscheinung treten, die noch nicht oder zumindest nicht vollständig als Steigbügelhalter der herrschenden Raubordnung identifiziert worden sind. Die als weiße Burenpartei bei den allermeisten Südafrikanern aus naheliegendsten Gründen zutiefst verhaßte Nationalpartei hätte nie und nimmer ein solches Elend verwalten können. Die neue, mit dem Apartheidwiderstand scheinbar identische Regierungsallianz, die ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft nicht nur mit Worten, sondern auch mit gewissen Taten untermauerte, bot demgegenüber ganz andere Optionen.

So wurde die Schulpflicht, die in der Apartheid nur für weiße Kinder bestanden hatte, auf alle Kinder ausgedehnt; arme Kinder erhielten zudem eine Schulspeisung. All dies war Flickschusterei. Hätte in ganz Südafrika kein einziger Mensch hungern müssen oder wäre mangelversorgt gewesen und wären Familien beim Unterhalt ihrer Kinder ausreichend unterstützt worden, hätte es gar keine Veranlassung für die medienwirksame Verteilung von Schulbroten gegeben. In den Siedlungen, in denen die schwarzen Bewohner noch immer ohne Wasser und Strom auskommen mußten, wurden an alle Schüler kostenlose Erdnußbutterbrote verteilt. Sie deckten angeblich ein Viertel des Kalorienverbrauchs der Kinder, die die täglich verteilten Brote dankbar "Mandela-Sandwiches" nannten.

Doch auch im Jahr 2002 gab es in Südafrika noch immer keine allgemeine Sozialhilfe. Das Sozialstaatsprinzip, von dem sich inzwischen eigentlich alle kapitalistischen Staaten in zunehmendem Maße entfernt haben, wurde im "freien" und "demokratischen" Südafrika gar nicht erst in die Verfassung, die noch heute als eine der liberalsten der Welt gerühmt wird, aufgenommen. Die fast 14 Millionen Menschen, die in Südafrika als arm gelten, hatten somit keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Sie mußten (und müssen) sich ihr Überleben selbst organisieren und kommen dabei nahezu zwangsläufig mit dem Gesetz in Konflikt. Einige Sozialleistungen erbringt die Regierung Südafrikas, wie es sich für eine echte "Sozialdemokratie" gehört, durchaus. So erhalten inzwischen "auch Schwarze" ein Recht auf eine staatliche Altersrente, und zwar unabhängig davon, ob der Rentner zuvor Beiträge eingezahlt hat oder nicht. Doch das Rentenalter überhaupt zu erreichen, ist so einfach nicht. Wer arm und arbeitslos ist, erhält keine seinen Lebensunterhalt sichernde Unterstützung. Kindergeld wurde zunächst nur bis zum Alter von sieben Jahren gezahlt. Bis zum Jahr 2005 - so versprach die Regierung 2002 - sollte dieser Anspruch auf die Altersgruppe der bis zu 13jährigen ausgeweitet werden.

Doch von Versprechungen auf eine bessere Zukunft wurde niemand satt. "Infrastruktuelle Verbesserungen", wie etwa eine kostenlose "Basiselektrizität" für Arbeitslose oder die Zuteilung von fünf Litern Trinkwasser pro Kopf und Tag, wie sie die Regierung nach 2002 gewährte, nützten nicht viel. Maßnahmen dieser Art erfüllten in erster Linie eine ordnungspolitische Funktion. Der landesweite Unmut, der angesichts der allgemeinen und prekären Mangellage nach fast einem Jahrzehnt ANC-Herrschaft unübersehbar geworden war, sollte auf diese Weise entkräftet werden. In den Basisbewegungen hatten die neuen Administrationen eine Bedrohung ihres Herrschaftsanspruchs ausgemacht, lange bevor diese über ihre zumeist anlaßbezogenen Proteste hinausgewachsen waren. In ihnen brach sich eine Widerstandskultur Bahn, die zumindest das Potential in sich trug, den ANC-Staat wirksam in Frage zu stellen. Dies wurde von diesem recht schnell als Gefahr erkannt, der es präventiv gegenzusteuern galt. So versuchte der ANC, die von den Basisgruppen und Gemeindebewegungen in Angriff genommenen Konfliktfelder um Wasser, Land oder Strom mit eigenen Kampagnen zu besetzen.

Dies trieb mitunter seltsame Blüten. Die ANC-Jugendliga etwa suchte die Fronten zu verwässern. Sie demonstrierte am 16. Juni 2002 für Arbeitsplätze und unternehmerische Qualifikationen. In Durban forderte sie einen freien Trinkwasserzugang und ging dafür auf die Straße. Für die zahlreichen Wasserabschaltungen machte sie "die weißen Bürokraten" der Stadt verantwortlich - einziger Schönheitsfehler war die eigentlich unübersehbare Tatsache, daß Durban vom ANC regiert wurde. Nicht selten trat die ANC-Jugendliga sogar als Schlägertruppe auf, gegen die die Gemeindebewegungen ihrerseits mit Unterstützung linker Studenten, die der Universität Durban-Westville verwiesen worden waren, Schutzorganisationen zu bilden begannen. 1993, also kurz vor dem offiziellen Amtsantritt Mandelas und des ANC, war ein Gesetz "("Regulation of Public Gatherings Act") erlassen worden, das es den Behörden und der Polizei ermöglichte, gegen Massendemonstrationen vorzugehen oder diese einfach zu verbieten. Es erübrigt sich beinahe schon die Feststellung, daß es die Nachapartheid-Regierung 1994 versäumte, dieses Gesetz aus der Apartheid wieder aufzuheben.

Und so griffen die Armen zur Selbsthilfe. In Soweto arbeitete die Operation "Khanyisa" ("Einschalten") den massenhaften Stromabschaltungen des staatlichen Stromversorgers Eskom entgegen. Die Aktivisten setzten die Betroffenen eigenhändig und selbstverständlich illegal wieder ans Stromnetz. Dem Bürgermeister von Johannesburg wurde seinerseits, nicht minder illegal, der Strom abgestellt. Mehr und mehr Menschen beteiligten sich an Protestformen, die über bloße Unmutsbekundungen hinausgingen und als Operationen "zivilen Ungehorsams" die Aufmerksamkeit der staatlichen Sicherheitsorgane erregten. Die Aktivisten besetzten Büros Kapstädter Banken, sie erstürmten das Gebäude der Gerichtsvollzieher in Durban, verbrannten und bespuckten ANC-Flaggen usw. In ländlichen Gebieten zeigte sich dieselbe Entwicklung. Auch hier verloren immer mehr Menschen die Geduld, auf eine Rückgängigmachung des Apartheid-Landraubes sowie eine substantielle Verbesserung der allgemeinen Misere durch die neuen Behörden zu warten. Die Folge waren Maßnahmen, die aus Sicht der staatlichen Organe juristische Tatbestandsmerkmale erfüllten und hier wie auch in den Städten die Kriminalitätsraten hochschnellen ließen: Viehdiebstähle, wildes Siedeln, Landbesetzungen.

Der ANC-Staat manövrierte sich zunehmend in eine Zwickmühle. Da er ungeachtet des scharfen Windes, der ihm in Stadt und Land von den neuen sozialen Bewegungen entgegenschlug, nicht gewillt war, die nach oder vermutlich schon lange vor 1994 getroffenen Grundsatzentscheidungen zu überdenken oder auch nur in einem gesellschaftlichen Diskussionsprozeß zur Disposition zu stellen, bewertete er die sozialen Konflikte ausschließlich als sicherheitspolitische Herausforderungen, denen mit kluger Hand begegnet werden müßte. Die ANC-Oberen waren politisch erfahren genug um zu wissen, daß der ungezügelte Einsatz des Repressionsapparates nicht zur Stabilisierung der durch die aufbegehrenden Armen latent in Frage gestellten Staatsordnung beitragen würde, weil dann unübersehbar geworden wäre, daß der "weißgewaschene" ANC in vollem Umfang in die Fußstapfen des alten Apartheid-Regimes getreten war. Dies hätte zu einem Wiederaufflammen der Antiapartheidkämpfe führen können mit dem Risiko (dies zumindest aus Sicht der alten und neuen Herren Südafrikas sowie ihrer ausländischen Freunde, die ohnehin dieselben geblieben waren) einer vollständigen Beendigung der westlichen Einflußnahme.

Also galt es, den mehrheitlich auf konkrete Notlagen wie Stromabschaltungen und Zwangsräumungen bezogenen Protestbewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Juni 2002, als rund fünftausend wütende Bewohner auf die Büros der Stadtverwaltung von Durban zumarschierten, lenkte diese schnell ein und erließ den Menschen Gelder, die diese ohnehin nicht hätten bezahlen können. In einem scheinbar "gnädigen" Akt wurden den Bewohnern 17 Millionen Rand (1,7 Millionen Euro) Außenstände erlassen. In Städten wie Kapstadt und Johannesburg hatten die von den Gemeindebewegungen vorgenommenen und organisierten Wiederanschlüsse von Wasser und Strom ein solches Ausmaß erreicht, daß die Behörden die Kontrolle über diese Basisdienste in den von den Betroffenen geschaffenen "abschaltungsfreien Zonen" faktisch schon verloren hatten.

Der ANC agierte und reagierte bi-funktional: Er war und blieb die Regierungsorganisation, die das eingegangene Gelübde auf einen neoliberalen und somit nur geringfügig sozial abgefederten Kapitalismus weiterhin ungerührt einlöste, und agierte zugleich als (vermeintliche) Befreiungsorganisation, um die Entstehung und weitere Entwicklung eines wirksamen Widerstandes außerhalb der durch den ANC kontrollierten Strukturen zu be- und verhindern. Zuckerbrot (in diesem Fall "Mandela-Sandwich") und Peitsche, lautete die Maxime des ANC-geführten staatlichen Handelns, und dabei war letzteres durchaus auch wörtlich zu verstehen. Als beispielsweise Aktivisten der "Western Cape Anti-Eviction Campaign" am 27. Juni 2002 vor dem Provinzparlament demonstrierten, feuerte die Polizei mit Tränengas in die Menge. Sie verhaftete 44 Kampagnen-Mitglieder und klagte sie des Hausfriedensbruchs an. "Die herrschende schwarze Elite zögerte nicht, mit den gleichen brutalen Methoden gegen die Demonstranten vorzugehen, die uns aus Apartheidzeiten so vertraut sind", lautete ein Kommentar in der Presse ("South African Labour Bulletin", Vol. 26, No. 3, 2002).

Zu den Gegenmaßnahmen der Regierung gehörte das sogenannte "Black Empowerment". Der ANC hatte auf seiner 51. Nationalkonferenz vom 16. bis 20. Dezember 2002 allen Ernstes die Armen des Landes oder vielmehr die von ihnen entwickelten Protest- und Widerstandsformen als eine revolutionäre Bedrohung aufgefaßt. Die Verarmung der schwarzen Bevölkerung böte das "Potential" für eine "Revolution", hieß es in einem ANC-Papier. Schon am 13. August 2002 hatten führende ANC-Mitglieder und -Minister eine Erklärung zu "Black Empowerment" abgegeben, in der es geheißen hatte:

"Empowerment ist keine Option unter anderen, sondern ein Imperativ. Der ANC wird sich nicht davon abbringen lassen, die sozio-ökonomischen Bedingungen zugunsten der Armen zu verändern. Viele werden Opfer bringen müssen, aber ohne die wird es nicht gehen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn die Massen gegen ihre Lebensbedingungen revoltieren. Es gibt keinen anderen Weg als den einer abgestimmten Intervention der Regierung."

Die "gezielte Förderung schwarzer Wirtschaftskraft", wie sich "Black Economic Empowerment" (BEE) in etwa übersetzen ließe, stellte jedoch nichts anderes als den Versuch dar, die "Schwarzen" Südafrikas zu spalten und gegeneinander auszuspielen durch die gezielt herbeigeführte Etablierung einer kleinen, nun aus Menschen mit schwarzer Haut bestehenden Elite. Doch nicht einmal diese Rechnung ging auf. So veröffentlichte das Wirtschaftsberatungsunternehmen "BusinessMap" im Jahre 2002 einen "Empowerment"-Index, aus dem hervorgeht, daß die Anzahl der von Schwarzen geführten Unternehmen sogar rückläufig war und einen neuen Tiefstand erreicht hatte. Auch an der Johannesburger Börse zeigte sich dasselbe Bild. Von Herbst 2001 bis Herbst 2002 fielen die von Schwarzen gehaltenen Anteile an der Börse um 40 Prozent, sie machten 2002 nur noch 4,2 Prozent aller Notierungen aus. Dabei spricht es schon Bände, daß die Regierung Mbeki die Entwicklung bzw. Stärkung "schwarzer" Unternehmen als Antwort auf die drängenden sozialen Fragen gebetsmühlenartig anpries, so als könnte das Wohlergehen eines Unternehmen jemals auf etwas anderem beruhen als der Benachteiligung und Mangellage derjenigen, die eben nicht über Privateigentum an Produktionsmitteln verfügen und deshalb gezwungen sind, ihre Arbeits- und Lebenskraft zu Markte zu tragen.

Somit mußte von Beginn an absehbar gewesen sein, was dem BEE-Konzept nach wenigen Jahren entgegenschlug, nämlich daß diese Unternehmensförderung zu der Heranbildung einer kleinen, recht wohlhabenden Elite führte und eben nicht zu einer Verbesserung der desaströsen wirtschaftlichen und sozialen Lage der armen Bevölkerung. So hat die BEE-Politik nicht etwa "versagt" in dem Sinne, daß - aus welchen Gründen auch immer - die damit ursprünglich verknüpften Absichten, nämlich die schwarze Bevölkerungsmehrheit Südafrikas wirtschaftlich und damit sozial zu stärken - schon nach wenigen Jahren gescheitert wäre. Dies würde unterstellen, daß die ANC-Regierung tatsächlich einmal diese Absicht in die Tat hätte umsetzen wollen. Dies war jedoch nicht der Fall. Ihr Reformprojekt von 1994 RDP war ein Umverteilungs- und Entwicklungsprogramm, das noch am ehesten in der Lage gewesen wäre, für diesbezügliche Korrekturen der apartheidgestützten Armutsverhältnisse zu sorgen.

Allein, es mangelte am Willen zur Umsetzung, was aus rückwärtiger Sicht eigentlich nur die Schlußfolgerung zuläßt, daß der ANC dieses Programm einzig und allein zu Wahlkampfzwecken aufgelegt hatte - was erklären würde, warum es 1996 ersatzlos gestrichen und durch eine ausschließlich auf Besitzstandswahrung ausgerichtete Wirtschaftspolitik ersetzt wurde. "Black Economic Empowerment" wurde von Präsident Mbeki zur Chefsache erklärt, um das Versprechen auf eine Besserung der Lage gleichwohl am Leben zu erhalten. Dabei bissen sich die vom ANC propagierten Versprechen gegenseitig in den Schwanz. Als die "Black Economic Empowerment Commission" (BEECom) 2002 ihren Abschlußbericht vorlegte, nahm der Kommissionsvorsitzende Cyril Ramaphosa ausdrücklich Bezug auf das vom ANC 1994 propagierte Umverteilungsprogramm RDP. Ramaphosas Argumentation war stichhaltig: Da nach wie vor Menschen schwarzer Hautfarbe nur zu einem sehr geringen Teil an der Wirtschaft beteiligt sind, müsse, wie im RDP ursprünglich vorgesehen, der Staat eine interventionistische Rolle wahrnehmen.

Mit anderen Worten: In dem BEE-Untersuchungsbericht wurden vorsätzliche Korrekturmaßnahmen des Staates zugunsten der wirtschaftlich aufgrund der "vorsätzlichen" Verzerrungen der Apartheid benachteiligten Menschen schwarzer Hautfarbe gefordert - und eben dies war (und ist) der ANC-Staat mit seiner unverrückbaren Festlegung auf neoliberale Wirtschaftsmodelle nicht bereit zu tun. Die Forderungen der BEE-Kommission beliefen sich in ihrem Kern darauf, der ANC-Regierung frühere Versprechen der ANC-Regierung entgegenzuhalten - so als habe sie diese kurz nach ihrem ersten großen Wahlerfolg von 1994 lediglich zu erfüllen "vergessen". Solche und ähnliche Forderungen noch immer an den ANC und die, wenn man so will, Südafrika dominierende, aus ANC, SACP und COSATU gebildete Dreierallianz zu richten, hieße jedoch, wider besseren Wissens an dem dem Kapstaat wie auch jedem anderen kapitalistischen Staat zugrundeliegenden Kernversprechen, den bestmöglichen Wohlstand für alle gewährleisten und hervorbringen zu können, festzuhalten - und das, obwohl die jüngere Geschichte Südafrikas wie in einem Zeitrafferverfahren schon mannigfaltige Anhaltspunkte für die eigentlich sattsam bekannte Tatsache, daß die Vorteile weniger stets nur zu Lasten vieler erwirtschaftet werden können, geliefert hat.

Mit anderen Worten: Die aus der Apartheid stammenden, unter der Verfügungsgewalt einer zumeist weißen Elite stehenden Besitztümer wurden (und werden) vom ANC-Staat nicht nur nicht angetastet, sondern explizit geschützt gegen etwaige "Übergriffe" der besitzlosen Massen. Die Reichen von damals können auch heute und morgen ihre Reichtümer mehren; zu ihrem Schutze hat der ANC-Staat der früheren Buren-Regierung die Aufgabe abgenommen, durch soziale Flickschusterei, finanziert durch einen geringen Bruchteil dessen, was den Armen abgenommen wurde und wird, diesen Status Quo zu erhalten.

(Fortsetzung folgt)

26. Februar 2008