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DILJA/106: Srebrenica oder die Zerschlagung Jugoslawiens - Teil 23 (SB)


Das "Massaker von Srebrenica" - nachgelieferte Letztbegründung für die gewaltsame Zerschlagung Jugoslawiens und Präzedenzfall der humanitär bemäntelten Kriegführung westlicher Hegemonialmächte

Teil 23: 1999/2001 - Die Kriegslügen der deutschen Bundesregierung werden öffentlich gemacht. Doch unter politischem Druck stehen die Kritiker des selbstmandatierten Gutmenschen-Krieges gegen Jugoslawien


Rudolf Scharping, Bundesverteidigungsminister von 1998 bis 2002 und heutiger Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer, wird von Teilen der kritischen Öffentlichkeit bis heute wohl am meisten mit den Kriegslügen der deutschen Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühsommer 1999 in Verbindung gebracht. Dafür gibt es gute bzw. schlechte Gründe. Gute deshalb, weil in keinem anderen Fall die Kriegslügen eines verantwortlichen Regierungsmitgliedes so dezidiert und umfassend öffentlich analysiert, widerlegt und bloßgestellt werden konnten und auch wurden wie in seinem; schlechte deshalb, weil die allzu schnelle Identifizierung eines Kriegslügners, als welcher Scharping fraglos zu bezeichnen wäre, den gesamten Themen- und Fragenkomplex propagandistischer Kriegführung und -begleitung herunterzubrechen droht in die Sphäre eines vermeintlich individualisierbaren Fehlverhaltens.

Zwei Jahre nach dem Jugoslawien- oder auch Kosovo-Krieg wurden Einzelheiten und Enthüllungen öffentlich gemacht, die dazu führten, daß ein von der damaligen PDS-Bundestagsfraktion gestellter Antrag auf eine Aktuelle Stunde zur "Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Berichten über die Gründe zum Eintritt in den Kosovokrieg" am 16. Februar 2001 zu wenn auch später Stunde abgehalten wurde. Die Bundesminister, um die es in erster Linie ging - neben Scharping auch Bundesaußenminister Joseph Fischer - ließen sich, um nicht Rede und Antwort stehen zu müssen, von ihren Staatssekretären vertreten. Zu den aktuellen Berichten, die die PDS zu diesem Schritt veranlaßt hatten, hatte zunächst einmal der Anfang Januar 2001 veröffentlichte Abschlußbericht des finnischen Expertenteams gehört, das mit der Untersuchung des angeblichen Massakers von Racak [1] beauftragt worden war. Aus diesem ging hervor, daß sich die Behauptung, es habe in Racak eine Massenhinrichtung von Zivilisten durch serbische Kräfte gegeben, nicht belegen läßt. Da gerade diese Massaker-Legende auf dem von den NATO-Staaten fraglos längst beschrittenen Weg in den Krieg auf den letzten Metern einen hohen propagandistischen Wert eingenommen hatte, hätte allein dieses Untersuchungsergebnis einen politischen Skandal auslösen können.

Die ganz große Koalition der an der Kriegführung beteiligten Bundestagsparteien, von denen sich einzig die damalige PDS-Fraktion ausnahm, ließ sich jedoch durch diesen Faux pas nicht aus der Ruhe und schon gar nicht in die Defensive bringen, wie es aufmerksame Zeitgenossen erwartet haben könnten, zumal namentlich Scharping die Massaker von Racak nicht als eine Möglichkeit, sondern als eine vermeintlich erwiesene Tatsache dargestellt hatte. Die vereinigte Kriegskoalition hielt dem ihr entgegengebrachten Vorwurf, aufgrund einer auch nach akribisch durchgeführten Untersuchungen nicht verifizierbaren These einen Krieg geführt zu haben, das Argument entgegen, daß der Krieg gegen Jugoslawien keineswegs "wegen Racak" begonnen worden sei. So führte die verteidigungspolitische Sprecherin der damaligen Bundestagsfraktion der Grünen, Angelika Beer, in der Aktuellen Stunde des Bundestages aus, daß die Entscheidung, "im Kosovo militärisch einzugreifen", in einem "klaren politischen Kontext" gestanden habe, der zwei Ebenen gehabt habe, nämlich [2]

erstens die humanitäre Lage im Kosovo, die jahrelang andauernden, zum Teil gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Kosovo von serbischer Seite, und zweitens die Entwicklung in der Gesamtregion, die Gefahr einer zunehmenden politischen Destabilisierung der Region durch die kontraproduktive Wirkung der Politik des Milosevic-Regimes.

Es scheint Beer nicht bewußt gewesen zu sein, wie wenig ihre Ausführungen geeignet sind, den Beschluß der damaligen Bundesregierung zur Beteiligung der Bundeswehr an dem ersten Krieg nach 1945 zu rechtfertigen. Weder das Grundgesetz noch die UN-Charta oder irgendein anderes für die Bundesrepublik Deutschland bindendes internationales Vertragswerk sehen eine Kriegsermächtigung für den Fall einer schlechten "humanitären Lage" oder einer womöglich drohenden "politischen Destabilisierung" einer Region vor. Und das aus gutem Grund. Wäre dem so, könnte wohl nahezu jeder Staat einen anderen angreifen, so er auf der Basis bereits bestehender oder eigens zu diesem Zweck angeheizter oder gar geschaffener humanitärer Konfliktlagen Vorwürfe dieser oder ähnlicher Art gegen ihn erhebt. Da nach der formal noch immer gültigem, faktisch jedoch spätestens durch den NATO-Krieg von 1999 endgültig ausgehöhlten sogenannten internationalen Friedensordnung ausschließlich ein UN-Mandat einen Krieg legitimieren könnte, so kein Akt unmittelbarer Selbstverteidigung vorliegt, kommt Beers Argumentation vom Ergebnis her dem Eingeständnis gleich, daß Deutschland im Verbund mit den übrigen NATO-Staaten einen Angriffskrieg geführt hat.

Angesichts der Anfang 2001 veröffentlichten Medienberichte, zu denen neben dem finnischen Abschlußbericht insbesondere auch die am 8.2.2001 erstausgestrahlte WDR-Dokumentation "Es begann mit einer Lüge" [3] und ein am 14.2.2001 veröffentlichter Stern-Artikel mit dem Titel "Und der Minister starrt und stiert" [4] zu rechnen sind, ruderte die Koalition der Kriegswilligen keineswegs zurück, um angesichts faktisch unwiderlegbarer Vorwürfe nach Entschuldigungen oder zumindest moralischen Rechtfertigungen zu suchen. Nein, sie nutzte die von der PDS wegen des Verdachts, die Bundesregierung habe sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen praktisch die Zustimmung zu dem Kriegseinsatz erschlichen, abgehaltenen Aktuellen Stunde, um im Bundestag und damit auch in aller Öffentlichkeit das faktische neue Kriegsrecht publik zu machen. So erklärte der CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete Christian Schmidt bei dieser Gelegenheit in dankenswerter Offenheit [2]:

Ich sage ganz klar: Wenn heute die gleiche Entscheidung anstünde, würden wir wieder zustimmen, weil es eine völlig falsche Vorstellung ist, die mancher Journalist haben mag, es wäre so, dass ein singuläres Ereignis eine lang andauernde Entwicklung allein ausmache und die schwer wiegende Entscheidung, die auch dieses Parlament getroffen hat, tragen würde. Deswegen kommt es auf das, was der finnische Untersuchungsbericht über Racak aussagt, nicht im Detail an, obwohl - das müssen Sie sich schon anhören, Herr Gysi - dieser Untersuchungsbericht nicht als Zeuge dafür in Anspruch genommen werden kann, dass friedliebende Serben von bösen Albanern verkleidet dort hingelegt worden wären. Wir wissen sehr genau, dass viele Dinge nicht mehr aufgeklärt werden können.

Gregor Gysi machte stellvertretend für die PDS in dieser Stunde deutlich, daß die Vorgängerin der heutigen Linkspartei die Kriegslügen der damaligen Bundesregierung zum Anlaß der Kritik nahm, nicht jedoch die Kriegsbeteiligung der Bundeswehr oder den Jugoslawienkrieg an sich. Mit anderen Worten: Nach dem Dafürhalten der einzigen im Bundestag vertretenen Linksopposition hätte es der Kriegslügen nicht bedurft, wohl aber - diese Annahme drängt sich auf - des Krieges [2]:

Wenn das, was wir inzwischen erfahren haben, stimmt, dass nämlich in dieser Zeit sehr vieles, was seinerzeit als Begründung diente, manipuliert wurde, ja sogar falsch war, dass auch der Bundesverteidigungsminister anderes kannte - wobei wir uns übrigens von Anfang an alle darüber einig waren, dass es selbstverständlich schlimme Menschenrechtsverletzungen in Jugoslawien gab -, dann habe ich den Eindruck, dass der Bundesverteidigungsminister und übrigens auch der Bundesaußenminister damals offenkundig der Meinung waren, dass das Tatsächliche nicht genügte, um die Zustimmung des Bundestages und der breiten Öffentlichkeit zu erreichen. Das ist der einzig denkbare Grund dafür, dass man derart überzogen und zum Teil auch mit falschen Fakten operiert hat.

Hier klingt die Bereitschaft, den zuständigen Regierungsmitgliedern ihre Lügen nachzusehen, weil diese - angeblich - einem höherwertigen Gut gegolten hätten, deutlich an. Honoriert wurde dem Linkspolitiker dieses Entgegenkommen allerdings nicht. Stellvertretend für all jene, die auch außerhalb des parlamentarischen Rahmens nicht darauf zu verzichten bereit waren, öffentlich den Finger in die Wunde offizieller Kriegslügen zu legen, wurden Gysi und andere PDS-Redner abgestraft, indem man sie persönlich zu diskreditieren suchte. So ging beispielsweise der SPD-Abgeordnete Reinhold Robbe präventiv vor. Er diffamierte den WDR-Beitrag, ohne ihn inhaltlich-argumentativ zu würdigen, erneuerte die antiserbischen Kriegsbezichtigungen und geißelte im selben Atemzug in der Person Gysis die Kriegskritiker [2]:

Worum geht es eigentlich in dieser Debatte? Ein schlecht recherchierter und nach meiner Auffassung von vornherein einseitig ausgerichteter Fernsehbericht des WDR stellt die These auf, dass insbesondere Verteidigungsminister Rudolf Scharping - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten - ... mit bewussten Fälschungen versucht hat, NATO-Luftangriffe zu begründen. Unter der Überschrift "Es begann mit einer Lüge" werden wenige Ereignisse wahllos als Belege dafür aufgeführt, dass die deutsche Bevölkerung über die wahren Geschehnisse im Kosovo bewusst getäuscht wurde. Ich will an dieser Stelle in aller Deutlichkeit feststellen - ich glaube, dass ich hierbei auch die Auffassung der breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag wiedergebe -, dass es völlig unerheblich ist, ob bei einem Massaker, Herr Gysi, in Rugovo die hinterrücks erschossenen Kosovo-Albaner vielleicht auch einen Mitgliedsausweis der UCK bei sich trugen. Das ist vollkommen unerheblich. Fest steht, dass es Serben waren, die im Auftrag des verbrecherischen Diktators Milosevic bereits ein Jahr früher Hunderttausende von Kosovo-Albanern systematisch aus ihrer Heimat vertrieben haben. Fest steht, dass nach Angaben des UNHCR allein zwischen Januar und Mitte März 1999 - also unmittelbar vor Beginn der NATO-Luftangriffe - rund 200000 neue Flüchtlinge aus ihren Häusern vertrieben wurden. Fest steht, dass die Menschen im Kosovo nicht zuletzt deshalb ihre Heimat verließen, weil sie genau wussten, dass Milosevic und seine verbrecherischen Generäle bereits in Bosnien die dort lebenden Menschen vertrieben, verfolgt und zum Teil bestialisch ermordet hatten. Fest steht weiterhin, dass Milosevic nicht zu einer politischen Lösung des Balkankonflikts bereit war und stattdessen die gesamte zivilisierte westliche Welt an der Nase herumgeführt hat. Fest steht auch - hören Sie gut zu -, dass die Europäische Union, die NATO und damit selbstverständlich auch die Bundesrepublik Deutschland überhaupt keine andere Wahl hatten, als dem verbrecherischen Treiben des Herrn Milosevic und seinen Schergen mit militärischer Gewalt ein Ende zu setzen. Deswegen ist der Eingriff erfolgt, deswegen begannen die Luftangriffe. Vor diesem Hintergrund ist es schon mehr als dreist, Herr Gysi, wenn sich die PDS heute hinstellt, um auf der Grundlage eines - ich möchte es vorsichtig formulieren - außerordentlich fragwürdigen Fernsehberichts den Versuch zu unternehmen, die Bundesregierung, den Bundesverteidigungsminister und die Mehrheit des Deutschen Bundestages an den Pranger zu stellen. Umgekehrt, meine Damen und Herren, wird ein Schuh daraus: Gott sei Dank sind wir heute aufgrund gut funktionierender Archive in der Lage, auch Unangenehmes schnell zutage zu befördern, wenn es wirklich angebracht ist. Ich zeige Ihnen jetzt mit Erlaubnis des Präsidenten ein Foto aus dem "Spiegel", das am 14. April 1999, also etwa drei Wochen nach Beginn der NATO-Luftangriffe gegen das Milosevic- Regime, aufgenommen wurde. Es zeigt Herrn Gysi, den wir gerade gehört haben, und Herrn Milosevic. Ich hoffe, Sie, insbesondere Sie, Herr Gysi, können erkennen, dass Herr Milosevic in einer offensichtlich sehr entspannten Atmosphäre dem damaligen Vorsitzenden der PDS-Bundestagsfraktion freundschaftlich die Hand schüttelt.

Dem Einwand einer PDS-Abgeordneten, daß dies die Bundesregierung auch getan habe, fiel ebensowenig ins Gewicht wie die Sachargumente in den inkriminierten Medienbeiträgen. Robbe lieferte ein Beispiel für das, was Gysi in seinem vorherigen Redebeitrag vorausgesehen hatte, als er sagte, daß Kriegsgegner in eine Ecke manövriert werden, in der sie "fast wie ein Schwein" aussähen [2]:

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich seinerzeit bei "Sabine Christiansen" eingeladen war. Dort habe ich, der ich gegen den Krieg bin, gesessen, während die anderen dafür waren. Zum Mindestmaß an Fairness gehört doch, dass man in einem solchen Streit mit Tatsachen gegeneinander operiert. Der Bundesverteidigungsminister aber hat dort gesagt: Lehrer werden vor den Augen ihrer Schüler erschossen. - Dafür hat es aber nie einen Nachweis gegeben. - Er sagte, es habe ein Massaker stattgefunden. Er sagt, an Türen sei ein "S" angebracht worden - was offensichtlich aber nie der Fall war -, um Serben zu schützen. Das alles erzählt er in dieser Sendung. In einem solchen Moment kann ich doch gar nicht wissen, ob das stimmt oder nicht. (...) Ich habe in der Sendung auch nicht Nein gesagt. Er konfrontiert mich damit in der Sekunde. Warum? - Er weiß: Dort sitzt ein Gegner des Krieges. Den bringe ich jetzt einmal in eine moralisch ganz schlimme Ecke, aus der er nicht herauskommt. - So etwas ist grob unfair. Er hätte ja auch versuchen können, seinen Krieg mit Tatsachen zu verteidigen, nicht aber mit Erfindungen, mit denen Kriegsgegner in eine Ecke gedrängt werden, in der jemand, der in einer solchen Situation gegen einen völkerrechtswidrigen Krieg auftritt, fast wie ein Schwein wirkt. So etwas darf man übel nehmen. Das darf man auch als Parlamentarier übel nehmen. Deshalb frage ich: Hätte es ohne falsche Sachverhaltsdarstellungen auch hier im Bundestag eine Zustimmung zu diesem Krieg gegeben?

Es hätte. Diese Fragestellung suggeriert, daß die Abgeordneten tatsächlich dem Krieg zugestimmt hätten in dem Glauben, dadurch einer menschenrechtlichen Pflicht gegenüber den Kosovo-Albanern nachzukommen und läßt von vornherein die Möglichkeit außer acht, daß Menschenrechtsverletzungen ebenso systematisch wie einseitig der serbischen bzw. jugoslawischen Seite zugelastet worden sein könnten, um in den NATO-Staaten ein zur Kriegführung taugliches öffentliches Bewußtsein zu erzeugen für einen Krieg, der, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen als den vorgeblichen, längst beschlossene Sache gewesen war. Die damaligen Kriegslügen offenzulegen, ohne den Jugoslawienkrieg zur Gänze und ohne Wenn und Aber abzulehnen, kommt insofern noch einer Form propagandistischer Beteiligung gleich. Wer den Standpunkt bezieht, die damalige rotgrüne Bundesregierung habe "zu dick" aufgetragen und ihrer Sache damit selbst einen schlechten Dienst erwiesen, bietet sich als Regierungsberater in derselben Mission an. So könnte das später erfolgte politische Aus für Scharping als eine Art Selbstreinigungsmaßnahme bewertet werden, bei der der frechste Lügner aus dem Spiel genommen wird, nur damit die übrigen Spielfiguren, die in diesem Kontrast vergleichsweise integer zu sein scheinen, ihre Kriegspolitik nur umso ungestörter fortsetzen können.

Scharping war als damaliger Bundesverteidigungsminister am 7. April 1999 in der heißesten Kriegsvorbereitungsphase mit der Behauptung an die Öffentlichkeit getreten, es gäbe auf der serbischen Seite einen "Operationsplan Hufeisen" zur systematischen Vertreibung der Kosovo-Albaner. Diese Behauptung wurde von fachkompetenter Seite widerlegt. Der deutsche OSZE-General Heinz Loquai brachte 2000 ein Buch heraus, in dem er darlegte, daß es einen solchen Vertreibungsplan nicht gegeben hatte und daß der vermeintliche Hufeisenplan zu Propagandazwecken erfunden worden war. Diese Enthüllungen kosteten den General den Job, er wurde von dem durch ihn bloßgestellten Verteidigungsminister - gegen den Willen der OSZE - abberufen. Der Vorwurf, daß neben vielen weiteren Lügen auch mit der Hufeisenplan-Lüge der Weg in den Krieg bereitet worden war, ist damit inhaltlich natürlich nicht entkräftet. Einen solchen Versuch unternahm der stellvertretende verteidigungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Winfried Nachtwei, in einem von ihm am 12. März 2001 verfaßten Text [5], in dem er zugesteht:

Richtig ist, dass bisher keine Beweise für die tatsächliche Existenz eines Operationsplanes "Hufeisen" vorgelegt wurden. Vor der Öffentlichkeit (8.4.1999) und im Verteidigungsausschuss berichtete der Generalinspekteur von einer serbisch-jugoslawischen Operation "Hufeisen", über deren Grundzüge Geheimdienstinformationen vorlägen und die sich im aktuellen Vorgehen der serbischen Kräfte zeige. Die Details des Plans seien nicht bekannt. Mit anderen Worten: Dem BMVg lag kein "Hufeisenplan", sondern nur Indizien für einen solchen Plan vor.

Die Strategie Nachtweis und anderer bestand im Frühjahr 2001 darin, die Kriegslügen der Bundesregierung in dem Ausmaß, in dem sie ohnehin nicht zu leugnen waren, zuzugestehen und im zweiten Schritt quasi zu adeln durch eine abermals zugespitzte Bezichtigung des Kriegsgegners, wodurch die Kriegslügen der eigenen Seite relativiert und als geringeres, aber gleichwohl einem guten Zweck dienendes Übel präsentiert wurden. So führte Nachtwei aus, daß der (in seiner Existenz nicht erwiesene) Hufeisenplan für die damaligen Parlamentarier eine "untergeordnete Rolle" gespielt hätte, weil sie "um seinen Status wussten" und "die Entscheidungen über die deutsche Beteiligung an den NATO-Luftangriffen lange vorher gefallen war" [5]. Diese Argumente tragen jedoch nichts zur Entlastung der Bundesregierung bei. Im Gegenteil. Daß die Abgeordneten um den "Status" des Hufeisenplanes gewußt hätten und die Entscheidung über die Kriegsteilnahme Deutschlands längst gefallen war, macht die Sache nur noch schlimmer. Nachtwei leistete der Bundesregierung damit einen Bärendienst, da er quasi eingestand, daß Kriegslügen wie die um den Hufeisenplan eigens lanciert worden waren, um die beschlossene Kriegführung gegenüber der eigenen Bevölkerung durchzusetzen [5]:

Eine erheblich größere Bedeutung hatte "er" allerdings für die breite Öffentlichkeit, da er als der Beweis für eine serbische Vertreibungsstrategie gewertet wurde.

Angesichts der Veröffentlichungen, die im Frühjahr 2001 auch in staatstragenden und regierungsnahen Medien vorgenommen wurden, darf angenommen werden, daß die Kriegslügen zu diesem Zeitpunkt durchaus publik gemacht werden sollten. So titelte beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Geleimt - Der Anlass des Kosovo-Krieges eine Erfindung der NATO", während die Frankfurter Rundschau am 15. Mai 2001 den Grünenpolitiker Nachtwei folgendermaßen zitierte:

In der Tat gingen Brüche des Waffenstillstandes immer wieder von der UCK aus. Das war den Sicherheitspolitikern im Bundestag durch die sehr nüchterne laufende Unterrichtung seitens der Bundesregierung sehr wohl bekannt.

Und im Stadion von Pristina, so wußte Nachtwei nun plötzlich auch korrigierend klarzustellen, habe es auch kein KZ gegeben. Alles Lüge - doch was folgt daraus? Mitnichten, zumindest nicht von diesen Kräften, eine Fundamentalkritik an dem Krieg insgesamt und den für ihn Verantwortlichen. Die Bundesregierung habe zwar, so Nachtwei im Jahre 2001, mit Manipulationen gearbeitet, doch das gelte es seiner Meinung nach zu verstehen und zu akzeptieren. Die Entscheidung zum Krieg sei, so der Grünenpolitiker, "angesichts der Unübersichtlichkeit und Dynamik von Krisensituationen und den vielen Unwägbarkeiten politischer Prozesse für politische Verantwortliche eine völlige Überforderung" [6] gewesen. Das mächtigste Militärbündnis der Welt überzieht einen militärisch wehrlosen Staat mit Krieg, benutzt dabei erlogene Kriegsgründe und sucht dies hinterher zu rechtfertigen mit der angeblichen Überforderung der Entscheidungsträger? Deutlicher könnte die Allmachtsstellung, die die NATO-Staaten für sich und ihre Protagonisten in Anspruch nehmen zu können glauben, wohl kaum dokumentiert werden.

In der ARD-Dokumention "Am Anfang war die Lüge" über den Kosovo-Krieg, die zwei Jahre später mit dazu geführt hatte, daß Öffentlichkeit und Bundestag sich mit dem Thema beschäftigten, war den Scharping'schen Behauptungen mit journalistischer Gründlichkeit nachgespürt worden. Die Ergebnisse waren, auch wenn die Fürsprecher der Kriegführung in der Aktuellen Stunde des Bundestages das genaue Gegenteil behaupteten, über alle Maßen entlarvend, wie es am 14.2.2001 auch im Stern unter dem Titel "Und der Minister starrt und stiert" [4] in einem von Arno Luik verfaßten Artikel nachzulesen war. Dort hieß es unter anderem:

Wundersames gab es in der Dokumentation "Am Anfang war die Lüge" zu sehen. Man konnte zuschauen, wie ein Minister Märchen erzählt, die physikalische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen. Weil er es nicht besser weiß? Weil er es nicht besser wissen will? Wie auch immer: Im Kosovokrieg ließ Scharping eine Broschüre auflegen, in der er detailliert die angeblichen Gräuel der Serben auflistete. Etwa wie tückisch die Serben in einem kleinen Dorf Häuser der Kosovo-Albaner zerstört hätten: "Zunächst stellt man (also die Serben) eine brennende Kerze auf den Dachboden, und dann öffnet man im Keller den Gashahn." Dörfer wurden zerbombt, Häuser gesprengt - das ist unbestritten. Warum aber fühlte Scharping sich gezwungen zu lügen? Das ARD-Team war in jenem Dorf, sprach mit den Bewohnern, keiner hat erlebt, dass auf diese Weise Häuser zerstört wurden. Ein UCK-Kämpfer: "So gerieten unsere Häuser nicht in Brand."
Rudolf Scharping wird von der ARD mit den Zweifeln konfrontiert: "Welche Zweifel sind das?"
"Dass man im Keller den Gashahn aufdreht und auf dem Dachboden eine Kerze aufstellt. Das funktioniert nicht."
"Ja?"
"Ja, es funktioniert nicht, weder chemisch, physisch, überhaupt nicht.
Das weiß jeder Oberbrandmeister. Das ist also eine Information, die Ihnen zugetragen worden ist, die nicht korrekt ist."
"Dann würde ich Ihnen raten, diesen Test nochmals zu machen. Aber nicht mit einem Gashahn im Keller, sondern mit einer Flasche."
"Beides funktioniert nicht."
"Ja?"
Der Minister starrt. Er sitzt da und stiert, indigniert. Die Gesetze der Physik? Propangas ist schwerer als Luft? Warum hat ihm das keiner erzählt?


Es darf und muß bezweifelt werden, daß "ihm das keiner erzählt" hat. Enthüllungen dieser und ähnlicher Art binden die potentiell kritische Öffentlichkeit und lenken ihren Aktivismus womöglich auf Forderungen nach dem Rücktritt dieses oder jenes Ministers oder, noch schlechter, nach einer "besseren" Rechtfertigung zukünftiger Kriege. Solange "Kriegslügen" das Problem sind und nicht die Kriege selbst, bleibt eine Pufferfunktion aufrechterhalten, die die beste Gewähr dafür bietet, daß die unter dem Label "Srebrenica" initiierte "humanitäre" Kriegführung fortgesetzt werden kann und fortgesetzt werden wird.


Anmerkungen:

[1] Schattenblick, GEISTESWISSENSCHAFTEN\MEINUNGEN, DILJA/103:
Srebrenica oder die Zerschlagung Jugoslawiens - Teil 20 (SB)
1999 - das entscheidende Kriegsjahr. Die Srebrenica-Legende wird durch die Massaker-Inszenierung von Racak aktualisiert, um die Scheinverhandlungen von Rambouillet und damit den Krieg gegen Jugoslawien zu erzwingen

[2] Kosovo-Debatte im Bundestag, Zeit Online, http://www.zeit.de/ reden/deutsche_aussenpolitik/200109_bundestag_kosovo?page=2, Download vom 3.11.2009

[3] Nach Angaben in einem von Winfried Nachtwei am 12. März 2001 verfaßten Text (Kosovo-Krieg vor zwei Jahren: Begann alles mit einer Lüge? - Zum Streit um die Informationspolitik der Bundesregierung, http://www.nachtwei.de/index.php/articles/277, Download vom 3.11.2009) soll sich das vollständiges Textmanuskript dieser Sendung unter www.wdr.de/online/news/kosovoluege befunden haben, ist dort derzeit jedoch nicht abrufbar.

[4] Und der Minister starrt und stiert. 1999 zog die Bundesrepublik zum ersten Mal in den Krieg - unter Bruch des Grundgesetzes und des Völkerrechts, von Arno Luik, Stern, Ausgabe 8/2001, 14.02.2001,
ursprünglich http://www.stern.de/magazin/deutschland/2001/08/ kommentar.html
http://www.nato-tribunal.de/varvarin/minister_starrt_und_stiert.htm, Download vom 4.11.2009

[5] Kosovo-Krieg vor zwei Jahren: Begann alles mit einer Lüge? - Zum Streit um die Informationspolitik der Bundesregierung, von Winfried Nachtwei, 12.03.2001, http://www.nachtwei.de/index.php/articles/277, Download vom 3.11.2009

[6] Wachsende Kritik am Kosovo-Krieg der Nato, Friedensforscher erheben heftige Vorwürfe gegen Bundesregierung, von Verena Nees, 19.06.2001, World Socialist Web Site (WSWS), herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI), http://www.wsws.org/de/2001/jun2001/koso-j19.shtml, Download vom 3.11.2009

(Fortsetzung folgt)

15. Dezember 2009