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ZEITGENOSSEN/016: 1968 in Hanoi - Irene und Gerhard Feldbauer (Hoa Binh)


Hoa Binh Nr. 33 | 2018
Informations-Bulletin der Vereinigung Schweiz-Vietnam

1968 in Hanoi

Gespräch mit Irene und Gerhard Feldbauer, 21. September 2018

geführt von Stefan Kühner, dem stellvertretenden Vorsitzenden
der Freundschaftsgesellschaft Vietnam aus Deutschland


50 Jahre ist es her, dass die Tet-Offensive die USA und die Welt erschütterte. 50 Jahre liegt auch das Massaker der US-Armee in My Lai zurück. Und vor 50 Jahren gingen in der Schweiz junge Leute auf die Strasse, um gegen diesen Krieg, den die Vietnamesen "Amerikanischer Krieg" nennen, zu protestieren. Viele Zeitzeugen erinnern sich noch gut an dieses Jahr und manche berichten mit etwas Wehmut über diese Zeit, in der sie so aktiv waren. An Zeitzeugen über die Bewegung gegen den Vietnamkrieg mangelt es also nicht. Ganz anders, wenn es um Zeitzeugen geht, die vor 50 Jahren in Hanoi waren und den Krieg hautnah miterlebten. Zwei dieser Zeitzeugen sind Gerhard und Irene Feldbauer. Sie waren von 1967 bis 1970 als Korrespondenten in der DRV, der Demokratischen Republik Vietnam, wie Nordvietnam hierzulande genannt wurde. Hoa Binh hatte im September die Gelegenheit, mit den beiden zu sprechen und sie um ihre Erinnerungen und Erfahrungen zu bitten.


Foto: © Irene und Gerhard Feldbauer

Irene und Gerhard Feldbauer als Auslandskorrespondenten der DDR im Kriegseinsatz in Vietnam
Foto: © Irene und Gerhard Feldbauer

Fulda, 21.09.2018: Ich sitze bei Irene und Gerhard Feldbauer in Künzell, im Randgebiet von Fulda. Die Namen der beiden sind mir schon lange bekannt durch ihr Vietnambuch "Sieg in Saigon". Getroffen haben wir uns noch nie. Die Herzlichkeit, mit der sie mich empfangen, sorgt von Anfang an für eine ganz freundschaftliche Atmosphäre.

Auf dem Tisch liegen einige Erinnerungsstücke, darunter auch eines aus Fallschirmseide. Es gehörte zu einem US-Fallschirm, mit welchem ein US-Bomberpilot über Nordvietnam abspringen musste, nachdem er von der Flugabwehr der DRV "vom Himmel geholt wurde". Dabei kommen wir noch auf ein anderes Stück Seidentuch zu sprechen, ein sogenanntes "Überlebenstuch". Das waren Seidentücher mit dem Aufdruck "I am a citizen of the United States of America. I do not speak your language. Misfortune forces me to seek your assistance in obtaining food, shelter and protection. Please take me to someone who will provide for my safety and see that I am returned to my people. My government will reward you." (1)

Dieser Text wurde in den Sprachen Englisch, Burmesisch, Thai, Laotisch, Kambodschanisch, Vietnamesisch, Indonesisch, Malayisch, Chinesisch (alt und modern), Französisch und Holländisch sowie Tagalog (2) und Visayan (3) wiederholt. Solche Tücher trugen die Bomberpiloten bei sich. Die Tücher sollten ihnen helfen, Leute zu finden, die sie in die USA zurückbringen würden. Wie lächerlich war doch dieses Ansinnen, wenn diese 'Luftpiraten', wie sie in Vietnam bezeichnet wurden, gefangen genommen wurden. Den Kerlen, die ihnen die Bomben auf den Kopf warfen, helfen? Ja, sie taten dies. Die Bevölkerung Nordvietnams hatte strikte Anweisung, gefangene Luftpiraten zu den Sicherheitsbehörden zu bringen.

Einer der abgeschossenen war John McCain, der kürzlich verstorbene US-Senator der Republikaner. Er stürzte in Hanoi in den "Truc Bach"-See und brach sich dabei Arm und Bein. Ein junger Leutnant mit Namen Mai Van On rettete ihm das Leben. Am Ufer half er McCain ein zweites Mal, denn nach einem eben erlebten schweren Bombenangriff auf die Hauptstadt war zu befürchten, dass wütende Hanoier gegenüber dem Amerikaner handgreiflich würden. Van On hielt sie zurück, eine Krankenschwester half ihm und leistete erste Hilfe. Kurze Zeit später kamen Soldaten und nahmen McCain in Gewahrsam. (4)

Zwischen 1964 und 1972 wurden Hunderte solcher Piloten in Gefangenschaft genommen und in ein Gefangenenlager in Hanoi gebracht. Irene und Gerhard trafen auf solche Piloten, denn sie waren unmittelbar dabei, als drei dieser "Herren der Donnervögel" zum Tet-Fest 1968 von der Regierung der DRV freigelassen wurden. Irene steht auf und holt Bilder aus dem Arbeitszimmer, die sie selbst gemacht hat. Die Schwarzweiss-Abzüge haben auf der Rückseite jeweils die Bildregisternummer und eine Bilderklärung für die Redaktionen, die diese Bilder bekamen. Aufgedruckt per Matrizendruck im klassischen Matrizenblau.


Foto: © Irene Feldbauer

Prof. Dr. Howard Zinn und Reverend Daniel Berrigan bei der Übergabe der US-Piloten
Foto: © Irene Feldbauer

Bild eins zeigt Prof. Dr. Howard Zinn, einen Aktivisten der amerikanischen Antikriegsbewegung und den Pfarrer Reverend Daniel Berrigan. Sie waren gekommen, um drei abgeschossene Bomberpiloten abzuholen und sie in die USA zu bringen. Ein zweites Bild zeigt die drei Piloten und das dritte den Fliegerleutnant Paul Metheny, einen jungen Mann von 24 Jahren, der sich im Namen seiner Kameraden für die grossherzige Tat der Freilassung bedankt.

Ein andermal sprachen sie mit Major Jack Williamson Bomar. Er wurde am 4. Februar 1967 mit einer Flak-Rakete nördlich von Hanoi abgeschossen. Er flog ein Flugzeug, das das Radarsystem der nordvietnamesischen Luftabwehr stören sollte. Navigationsoffizier Bomar, so erinnert sich Gerhard, sagte zunächst, seine Maschine habe keine Bomben abgeworfen und so sei er nicht für getötete Zivilisten verantwortlich. Doch im weiteren Gespräch gab er zu, dass es grosse Zerstörungen gibt und "ich will meine Verantwortung dabei nicht leugnen." Am Ende sagte er: "Ich hege keinen Hass gegen die Vietnamesen. Ich bin hier den Umständen entsprechend gut behandelt worden. Ich hoffe und wünsche, dass dieser Krieg bald zu Ende geht. Was mich betrifft, so möchte ich nur noch einen Flug machen, den Flug nach Hause."


Foto: © Irene Feldbauer

Die drei am 16. Februar 1968 aus Anlaß des Tetfestes freigelassenen US-Piloten
Foto: © Irene Feldbauer

Sie kannten solche Piloten allerdings auch aus einer ganz anderen Perspektive. Als Tiefflieger, die über ihre Köpfe brausten. Sie berichten von einer ihrer Reisen in den Süden der DRV im April 1968. Abends, sie hatten gerade ihr Gepäck auf die Jeeps geladen und wollten weiterfahren, wurde das Dorf angegriffen. "Die Maschinen flogen so tief, dass wir die Gesichter der Piloten in den Kanzeln sehen konnten", erzählt Irene. "Zwischen den Hütten explodierten die Bomben. Wir wollten das Geschehen mit unseren Kameras festhalten. Unsere vietnamesischen Begleiter zerrten uns in die Fahrzeuge und wir rasten davon, das Dorf im Bombenhagel hinter uns zurücklassend. Wie so oft waren unsere Begleiter unsere Lebensretter."

Und dann erzählt Gerhard noch eine weitere solche Situation. "Wir waren mit Hubert Link von ADN-Zentralbild, der auf Einladung der "Vietnam News Agency" für zwei Wochen nach Hanoi gekommen war, auf der Fahrt in den Süden. Es war gegen Mitternacht, als wir an einem Fluss ankamen und das Ende einer langen Kolonne bildeten. Die Pontonbrücke, die etwas unter Wasser angelegt war, sollte um Mitternacht geöffnet werden. Gerhard entdeckte am Anfang eine Reihe Benzintank-LKWs, die Treibstoff an die Front brachten." Irene schildert das weitere Geschehen. "Wir beschlossen schleunigst umzukehren. Wir hatten vielleicht einen Kilometer zurückgelegt, als die Fahrzeugkolonne am Fluss angegriffen wurde. Wir sahen einen riesigen Feuerschein und uns war klar, dass da viele Menschen sterben mussten."


Foto: © Irene Feldbauer

Ein-Personen-Bunker in Hanoi
Foto: © Irene Feldbauer

Die Einschläge von Bomben erlebten sie aber auch in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung in Hanoi. Diese war nur ein, zwei Strassen vom Hauptbahnhof entfernt, der zu den bevorzugten Angriffszielen gehörte. "Wir sahen verbrannte Menschen und zerstörte Häuser", erzählt Irene. "Wenn die Bomber kamen, suchten wir und unsere drei vietnamesischen Mitarbeiter zusammengekauert Schutz in einem kleinen Luftschutzbunker im Garten unseres Hauses".

"Nur, Irene schaffte es oftmals nicht, in den Bunker zu kommen", fügt Gerhard an. "Wenn sie im Fotolabor war (das war die Toilette in ihrer Wohnung) und Bilder entwickelte, blieb sie dort". Irene: "Was hätte ich denn tun sollen? Wenn ich den Entwicklungsprozess unterbrochen hätte, wären die Bilder kaputt gewesen." Sie hat Tausende Bilder in ihrer Zeit in Hanoi gemacht. Die Fotos liegen jetzt im digitalen Bildarchiv der deutschen Bundesregierung in Koblenz. Einige hat sie noch und sie springt nochmals auf, um sie zu holen.


Foto: © Irene Feldbauer

Besagtes Foto einer jungen Vietnamesin mit von Kugelbomben verursachten Rückenverletzungen
Foto: © Irene Feldbauer

Es sind Bilder einer jungen Frau, deren Rücken durch Kugelbomben von kleinen Wunden übersät ist. Die DDR-Dokumentarfilmer Heynowski&Scheumann berichteten über diese üble Waffe in ihrem Film und Buch "Piloten im Pyjama". "Ach ja", ergänzt sie, "hier ist noch ein Bild. Da sieht man Kinder mit so dicken Strohhüten. Das waren handgeflochtene 'Schutzhelme' gegen diese Kugelbomben". Auch darüber berichteten Heynowski&Scheumann. Getroffen haben sich diese nicht mit den Feldbauers. "Sie kamen erst, als wir schon wieder zuhause waren", sagt Irene. Gerhard fügt noch hinzu: "Die Vorwarnzeiten bei den Luftangriffen waren unglaublich kurz. Die Angreifer kamen von den Flugzeugträgern vor der Küste immer übers Meer und die Warnungen kamen über einen der Lautsprecher, die in unserem Haus und in den Straßen installiert waren. Wir hörten dann die Warndurchsagen: noch 100 km entfernt, noch 50 km, noch 15 km und dann fielen die Bomben auch schon."


Foto: © Irene Feldbauer

Kinder aus einer in Hanoi evakuierten Schule mit besonders dick geflochtenen Strohhüten zum Schutz vor Kugelbomben
Foto: © Irene Feldbauer

Die beiden waren ein noch ziemlich jung verheiratetes Paar, als sie nach Hanoi flogen, um für den Allgemeinen Nachrichtendienst der DDR (ADN) und die Zeitung "Neues Deutschland" zu berichten. Gerhard war studierter Historiker. Bevor er 1965 zum ADN kam, war er Assistent am Institut für Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Irene war dort leitende medizinisch-technische Assistentin am Pharmakologischen Institut. Beim ADN war Irene dann als Fotoreporterin ausgebildet worden. Den Auftrag des ADN nach Hanoi zu gehen, übernahmen sie gern, denn sie waren überzeugte Internationalisten. "Wir ahnten schon, was da auf uns zukommen sollte", erzählen sie, "aber die Wirklichkeit des Krieges war dann halt doch die nackte Realität. Sehr schnell nach unserer Ankunft wurden wir mit der Brutalität der Bombenangriffe der USA gegen Hanoi konfrontiert", ergänzt Gerhard seinen Bericht über die "Feuertaufe" am Roten Fluss. "Es gab Mitte Oktober 1967 einen furchtbaren Luftangriff auf das Zentrum von Hanoi. In der Hué-Straße kamen 76 Menschen ums Leben, 151 wurden verwundet. Wir fuhren dorthin und sahen ein völlig verwüstetes Wohngebiet vor uns. Aus den Trümmern ragte ein Kinderwagen, dazwischen zerfetzte Schulbücher."

Das Leben war mehr als bescheiden zu jener Zeit. Nicht nur wegen des Krieges. "Aber wir hatten den Kontakt zu unseren Kollegen aus den anderen sozialistischen Ländern und vor allem zu unserer Übersetzerin und anderen vietnamesischen Helfern, die uns immer zur Seite standen. Unsere Dolmetscherin Anh war Mutter von vier Kindern. Nicht ein einziges Mal hat sie abgelehnt, uns in die vom Krieg heimgesuchten Provinzen zu begleiten. Was für eine tapfere Frau. Und so wie sie lernten wir ein ganzes Volk kennen."


Foto: © Irene Feldbauer

1968 - internationale Journalisten besichtigen Bombenschäden in Hanoi
Foto: © Irene Feldbauer

Natürlich gibt es auch gute Erinnerungen. Irene und Gerhard erzählen von einem Besuch bei der Minderheit der Thai im Westen der etwa 150 Kilometer südlich von Hanoi liegenden Provinz Thanh Hoa. Es war das erste Mal, dass sie Europäern begegneten. Das ganze Dorf kam herbei. Vor allem die Kinder. "Habt ihr Kinder?, wollten die Erwachsenen wissen. In Vietnam ist das eine der ersten Fragen, wenn man ins Gespräch kommen will, aber sich noch nicht kennt", erzählt Irene. "Nein, antworteten wir - wir sind in der dritten Wartezeit. Alle fingen an zu klatschen."

Was ist das, die dritte Wartezeit, will ich wissen. "Ja das war im Krieg ein stehender Begriff für die Vietnamesen", erklärt Gerhard. "Die Alten gaben den Jungen diesen Rat, bevor sie in den Kampf zogen: Wenn Du noch keine Freundin hast, warte bis der Krieg vorbei ist. Das war die erste Wartezeit. Wenn Du eine Freundin hast, heirate nicht. Warte bis der Krieg vorbei ist. Das war die zweite Wartezeit. Wenn Du verheiratet bist und noch keine Kinder hast, warte bis der Krieg vorbei ist. Das war die dritte Wartezeit. Und in der steckten wir beide." Nochmals steht Irene auf und holt ein kleines gewebtes und kunstvoll besticktes viereckiges Tuch, das eine der Frauen ihr geschenkt hat.

Und auch daran wird sich vor allem Irene immer erinnern. Einmal bei einer Kundgebung in Hanoi, bei der Ho Chi Minh sprach, fotografierte sie. Ho Chi Minh bat, dass man diese Fotoreporterin doch zu ihm bitten möge. Auf die Frage, woher sie komme, antwortete sie: "Aus der Deutschen Demokratischen Republik", und Ho begrüßte sie ganz herzlich auf Deutsch. Er konnte diese Sprache etwas, da er in jungen Jahren einige Wochen in Deutschland verbracht hatte. Damals nannte er sich Ai Quoc. Sie hatten noch zwei weitere Begegnungen mit dem legendären Führer des nationalen Befreiungskampfes Vietnams. "Es waren unvergessliche Begegnungen", sagt Irene. "Wenn er mit uns sprach, uns die Hand drückte, uns freundschaftlich umarmte, sich nach unserem Befinden erkundigte, spürten wir in einer unvergesslichen Weise die kaum wiederzugebende Ausstrahlung dieser faszinierenden Persönlichkeit."


Fußnoten:

(1) Ich spreche Ihre Sprache nicht. Das Unglück zwingt mich, Sie um Hilfe zu bitten und um Nahrung, Unterkunft und Schutz. Bitte bringen Sie mich zu jemandem, der für meine Sicherheit sorgt und dafür sorgt, dass ich zu meinen Leuten zurückgebracht werde. Meine Regierung wird Sie belohnen.

(2) Die wichtigste Sprache auf den Philippinen

(3) Sprache einer philippinischen Minderheit

(4) McCain konnte nach dem Pariser Friedensabkommen 1973 nach 5 Jahren Gefangenschaft in die USA zurückkehren. Von Dankbarkeit gegenüber seinem Lebensretter war lange Zeit nichts zu hören. Vielmehr beschwerte sich McCain über Folter, weil seine Verletzungen nicht schnell behandelt wurden. 1985 und auch später besuchte er Hanoi, ohne einmal nach seinem Lebensretter zu fragen. Erst 1996, er war inzwischen Senator von Arizona, traf er sich mit Van On und überreichte ihm eine "Erinnerungsmedaille" des US-Kongresses.

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Quelle:
Hoa Binh Nr. 33 | 2018
Informations-Bulletin der Vereinigung Schweiz-Vietnam
HerausgeberInnen: Vorstand / Redaktion der Vereinigung Schweiz-Vietnam
Postfach 8164, 8036 Zürich, Schweiz
Internet: www.vsv-asv.ch


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2018

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