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BERICHT/061: Dr. Reusch - Philosoph, Freibeuter ... (uni ulm intern)


uni ulm intern Nr. 285 / April 2007 - Das Ulmer Universitätsmagazin

Verleger mit Chemie-Diplom:

Dr. Siegfried Reusch: Philosoph, Freibeuter und Wilderer des Geistes


Diplom-Chemiker, Doktor der Philosophie, Hausmann und Verleger - so viel vorab: Den klassischen Weg eines Wissenschaftlers hat Dr. Siegfried Reusch nicht eingeschlagen. Keine Uni-Karriere, keine Führungsposition in der Wirtschaft. Dafür das Hobby als Beruf. "Spaß und Erfüllung, das ist unbezahlbar", sagt der gebürtige Freiburger, in Personalunion Mitherausgeber, Chefredakteur und Verleger der meistgelesenen deutschsprachigen Philosophie-Zeitschrift. Ihr beziehungsreicher Titel: "der blaue Reiter - Journal für Philosophie".


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So ist denn auch der Hinweis im Impressum auf ihn selbst bezogen durchaus wörtlich zu nehmen: "Philosophie ist eine brotlose Kunst", warnt der Vermerk in der zwei Mal jährlich erscheinenden Publikation, initiiert einst als "Studentenwitz" (Reusch) im Humboldt- Studienzentrum für Philosophie der Universität Ulm, inzwischen freilich überaus geschätzt und fraglos ernst genommen in der Zunft. Das verdankt sie ihrem Konzept und Anspruch gleichermaßen. "Wir wollen Philosophie verständlich machen, dabei aber ein anspruchsvolles wissenschaftliches Niveau nicht verlassen", erklärt der seinerzeitige Mitbegründer. Das führe allerdings gelegentlich schon zu "einer Gratwanderung". Wenn in der Philosophie überdurchschnittlich bewanderte Leser über einzelne Formulierungen die Nase rümpften etwa.

Dann, so Siegfried Reusch, werde eben "Wort für Wort gerungen". Mit Autoren ebenso wie innerhalb der Redaktion, der neben Professoren auch Doktoranden und Studenten der Philosophie angehören.

Allesamt ehrenamtlich übrigens und dies gelte auch für die Autoren und Künstler. Für die Herausgeber ebenfalls. Diese Aufgabe teilt er sich mit den Professoren Otto-Peter Obermeier und Klaus Giel. Das wirtschaftliche Risiko als Verleger indes trage er allein, macht Reusch deutlich. Derzeit zumindest ein überschaubares: "Es geht Null auf Null auf." Dabei sei die Auflage mit 4500 Exemplaren stabil, die Zahl der Abonnenten sogar langsam aber konstant steigend. Rund 1000 seien es bisher. Ein paar mehr könnten nicht schaden. "Wir arbeiten an einem verbesserten Marketing", sagt der Verleger. Eine neue Webseite soll dazu beitragen, möglichst auch den Absatz beschleunigen. Im Schnitt dauere es bislang sieben Jahre, bis eine Auflage verkauft sei.

Das reiche gerade, wie er versichert, für die anfallenden Kosten, des Büros insbesondere und der drei Beschäftigten.

"Ich selbst arbeite absolut zum Nulltarif", lacht der Wahl- Stuttgarter, räumt jedoch zugleich ein: "Ohne meine Frau wäre das nicht machbar." Ihr, Oberärztin in der Herzchirurgie einer Stuttgarter Klinik mit langen und zumeist unregelmäßigen Arbeitszeiten, halte er dafür komplett den Rücken frei. Bei drei Kindern unstrittig eine respektable Aufgabe, für ihn aber "eine ideale Form, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen". Passend, wenngleich so nicht geplant, die Geburt der ersten Tochter zeitgleich mit dem Abschluss des Studiums der Eltern. Nur für den jungen Vater indes eine zweifache Cäsur: Während die Mutter für eine AIP-Stelle in Stuttgart nur den Wohnort wechselte, sagte Siegfried Reusch neben Ulm auch der Chemie ade.

Dabei habe er deren Studium nie bereut. "Ich wollte erfahren, was die Welt zusammenhält", erinnert er sich. Auch daran, dass die Neugier bereits in der Schule geweckt worden sei. Aber: Eine Antwort habe ihm die Chemie nicht gegeben. Schon eher die Philosophie. Denn: "Chemie ist eben nur eine Sichtweise, die Welt zu erklären", sagt Siegfried Reusch, "Philosophie dagegen der Versuch, alle Blickwinkel auf die Welt zusammen zu führen". Erkenntnisse mithin, die bei dem damals angehenden Chemiker schon frühzeitig reiften. Nicht zuletzt im philosophischen Begleitstudium, Keimzelle seiner neuen Liebe.

"Über den Tellerrand hinaus zu blicken" sei ihm stets wichtig gewesen und "die Freude am Denken" dazu, erklärt er nicht ohne Stolz. Einen "Freibeuter und Wilderer des Geistes" nennt er sich. Naheliegend, dass einer wie er in Sachen Hochschulpolitik nicht außen vor bleiben konnte. Fachschaft, UStA, studentischer Vertreter im damaligen "Kleinen Senat" und dies als "enfant terrible" des Gremiums - für Siegfried Reusch auch heute noch mehr Auszeichnung als selbstkritische Reflexion.

Gleichwohl hätte auch ein unruhiger und kritischer Geist wie er kaum Spuren in der jungen Universitätsgeschichte hinterlassen, wäre da nicht jener legendäre "Dies academicus" Mitte der 80er-Jahre gewesen. Da war der gebürtige Freiburger des Jahrgangs 1963 unter den "Sargträgern", die zum Entsetzen des festlich gestimmten Auditoriums im Hörsaal "die freien Wissenschaften zu Grabe trugen", wie sie ihren Protest gegen die Anfänge der Wissenschaftsstadt begründet hatten. Für die Medien seinerzeit ein Spektakel ersten Ranges, das der Ulmer Uni bundesweite Aufmerksamkeit vermittelte, sich überdies einreihte in ähnlich kreative Aktionen wie Jahre zuvor der Dackel als Senatskandidat "Willi Wacker" und kürzlich die Energie-Spende "Holz für die Uni".

Und heute? Im Grunde sei es kein Protest gegen die Wissenschaftsstadt gewesen, erklärt Siegfried Reusch, "wir befürchteten Abhängigkeiten in der Forschung, insbesondere von der Rüstungsindustrie". Schließlich müsste rückblickend auch die damalige politische Situation einbezogen werden. Wie auch immer: Die Distanz zu einzelnen Ereignissen und Entwicklungen schließt bei ihm wie bei vielen Ulmer Demo-Aktivisten vor- und nachher Verbundenheit mit der eigenen Hochschule nicht aus. Im Gegenteil. "Ich habe Ulm immer geschätzt", sagt er, als kleine und überschaubare Uni vor allem, mit "stets offenen Türen bei unseren Professoren". Bemerkenswert zudem, "wie ernst wir als Studenten genommen worden sind und wie man sich mit uns auseinandergesetzt hat". Er würde, dürfte er noch einmal studieren, "wieder nach Ulm kommen".

So sieht er denn auch keinen Widerspruch darin, dass er mit Altrektor Professor Theodor Fliedner selten einer Meinung gewesen sei, sich dennoch bis heute über eine Medaille freut, die ihm dieser für seine Verdienste überreicht habe. Ganz abgesehen von der Wertschätzung für Fliedners Aktivitäten für das Humboldt-Studienzentrum und der gemeinsamen Überzeugung, dass Bildung mehr sei als Ausbildung. Dafür arbeitet (oder besser: kämpft) Siegfried Reusch seit seinem philosophischen Begleitstudium, das er noch mit dem so genannten Philosophicum abgeschlossen hat. Den Bachelor nämlich hat es damals noch nicht gegeben.

Unabhängig davon sei dies eine ausgezeichnete Basis für seine spätere Promotion gewesen. Von einigen Hürden abgesehen, die es noch zu nehmen gegolten habe. Ein paar Scheine etwa, eine nachträglich eingeforderte Magisterarbeit und nicht zuletzt das "kleine Latinum". Dafür freilich habe er "mehr geschwitzt als beim Chemie-Diplom".

Und so nebenbei war da ja auch noch "der blaue reiter", Reusch zufolge entstanden aus dem Grundgedanken, Philosophie verständlich zu machen. Aus einer Erfahrung resultierend, die er mit vielen Interessierten teile, weit über die seinerzeitigen Gleichgesinnten im Begleitstudium hinaus. "Alle waren ja hoch motiviert", erinnert er sich, "aber die meisten hatten terminologische Probleme und Mühe, manche Begriffe auseinander zu halten." Darunter aber, so die Überlegungen, sollte die Liebe zur Philosophie nicht leiden. Heute formuliert es der Verleger noch deutlicher: "Die Freude am Denken soll nicht durch eine geschraubte Sprache und unverständliche Fachausdrücke getrübt werden."

Dabei will die Zeitschrift keine bestimmte Schule vertreten, vielmehr Reusch zufolge alle Richtungen bedienen. Noch ein Aspekt: "Wir wollen einfach Themen aus dem Leben aufgreifen." Eine Auswahl: Freiheit, Glück, Geld, Zeit, Ethik, Was ist gerecht? Und demnächst Heimat. So weit das Konzept.

Aber warum "blauer Reiter"? Mit der gleichnamigen Künstlergruppe um Franz Marc und Wassily Kandinsky habe das Journal nur die Metaphorik gemein, die bildliche Sprache also, erklärt der Verleger. Und die Farbe blau stehe bei Marc eben für den Geist. Reiter wiederum symbolisierten das kämpferische Element, dem sich die Initiatoren verpflichtet gesehen hätten. Und Objekte des Kampfgeistes habe es ja ausreichend gegeben: Bürokratie, so genannte wirtschaftliche Realitäten, fremdwortgespickte Aufsätze. Da sich, nicht überraschend, kein Verlag zur Finanzierung des "verrückten Unternehmens" gefunden habe, sei eben ein eigener gegründet worden.

Ebenfalls mit einer reichlich hintersinnigen Bezeichnung versteht sich, philosophisch eben: Der omega-Verlag. "Wir wollten gleich mit dem Ende beginnen", schmunzelt Reusch heute. Freilich: Nomen war in diesem Fall keineswegs omen. "Nach wie vor reitet unser Journal quicklebendig durch die Buchhandlungen", freut sich der Mitbegründer. Der indes freimütig einräumt: "Wir sind noch immer auf großzügige Leser und Mäzene angewiesen."

Und wer liest ihn nun, den "blauen reiter"?

Zum größten Teil seien es Naturwissenschaftler, Mediziner und Theologen, so Reusch. Akademiker weitgehend, die nicht Philosophie studiert, sich jedoch dem klassischen Bildungsideal verschrieben hätten. Auch um "eine andere Sicht auf ihr eigenes Fach zu entwickeln", wie er betont. Denn: "Wer kreativ forschen will, braucht auch Muße." Natürlich könne die Philosophie Fachkenntnisse nicht ersetzen, weiß Siegfried Reusch, "aber sie kann den Horizont erweitern". Nicht zu vergessen: "Wir beschäftigen uns häufig auch mit ethischen Fragen", der Medizin insbesondere und der Naturwissenschaften.

Mag es die Fülle an aktuellen Themen sein oder die Leidenschaft des Verlagschefs: "Künftig wollen wir auch Bücher publizieren", kündigt er jetzt an. Dabei wolle er sich weiter im bewährten Segment der verständlichen Philosophie bewegen. Unabhängig davon rechnet er mit "einem extrem schwierigen Geschäft". Aber es mache nun einmal ungemein viel Spaß. Allem voran die vielen Begegnungen und Gespräche mit Autoren und Partnern, die Themen, Beiträge und ihre Sicht der Dinge dazu lieferten.

Dieser Tage mit dem Regisseur Edgar Reitz ("Heimat") zum Beispiel und erst kürzlich mit dem Schauspieler Klaus Maria Brandauer, dem Extrem-Bergsteiger Reinhold Messner und dem Promi-Friseur Udo Walz. Und mit den vielen Philosophie-Kollegen ohnehin. Schon das Lässt verstehen, wenn er sagt: "Brotlos ist meine Arbeit nur im materiellen Sinn." Bliebe auch im Sinne der Leser nur zu wünschen, dass "der blaue reiter" nicht vom Pferd fallen möge. wb


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Quelle:
uni ulm intern, Nr. 285 (37. Jg.), April 2007, S. 28-29
Herausgeber: Universität Ulm, Pressestelle
Helmholtzstraße 16, 89069 Ulm
Tel: 0731/50 220-20 oder 0731/50 220-21
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E-Mail: willi.baur@uni-ulm.de
Internet: www.uni-ulm.de

uni ulm intern erscheint sechsmal pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2007