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BERICHT/072: Wissenschaftsphilosophie - Physik der Börsenkurse? (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 1/2009

Physik der Börsenkurse?
Philosophie und Wissenschaft für eine komplexe Welt

Von Meinard Kuhlmann und Manfred Stöckler


Wissenschaften verändern sich, auch exakte Disziplinen wie die Physik. Der Einsatz leistungsstarker Computer hilft nicht nur beim Lösen mathematischer Gleichungen, er erlaubt auch neue Methoden der Modellierung und der digitalen Simulation komplexer Systeme. Hier kommen Natur- und Sozialwissenschaften in eine bisher nicht gekannte Nähe, die neue Disziplinen wie die Econophysics hervorgebracht hat.


Der Lauf der Planeten hat die Wissenschaft seit jeher herausgefordert. Die Antike kannte mechanische Modelle, um die Bahnen der Himmelskörper anschaulich zu machen. Sie kannte aber auch Ansätze zur rein mathematischen Berechnung ihrer Positionen. Kepler gelang es später, die Planetenbahnen mit mathematischen Gesetzen einfach und genau zu beschreiben.

Erst Newtons Mechanik und das universelle Gravitationsgesetz erlaubten eine einheitliche physikalische Erklärung - nicht nur der Bewegung der Planeten, auch der des Mondes und des vom Baum fallenden Apfels. Dieses Vorgehen wurde im Mechanismus zum Idealbild der Wissenschaft: Einzelne Phänomene werden erklärt, indem sie als Spezialfälle aus einem gemeinsamen fundamentalen Naturgesetz abgeleitet werden.


Dynamik der Wissenschaft

Doch nach und nach wurde deutlich, dass die Erfolge der Himmelsmechanik auch der Natur des Untersuchungsobjekts zu verdanken waren. Auch andere Lehrbuchbeispiele wie die Bewegung eines einzelnen Elektrons in einem homogenen Magnetfeld erwiesen sich als eher untypisch für die Systeme, denen wir in der Natur begegnen.

Mit der Thermodynamik und der statistischen Physik entwickelten sich neue Methoden, um auch Systeme mit vielen Teilchen in komplizierter Wechselwirkung zu analysieren. Erst der Einsatz leistungsfähiger Computer erlaubte es aber, viele durchaus bekannte Probleme systematisch anzugehen. Heute sind Modellierung und Computersimulationen aus vielen Wissenschaften nicht mehr wegzudenken.

Mit welchen Methoden die Wissenschaften arbeiten und wie diese sich wandeln, beschreibt die Wissenschaftsphilosophie. Sie orientierte sich zunächst am Beispiel der Himmelsmechanik. Auch die einflussreiche Strömung des logischen Positivismus in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts bevorzugte solche Beispiele aus der Physik, die mit Hilfe logischer Werkzeuge gut analysierbar waren. Erst neuerdings werden auch andere wichtige Gebiete thematisiert. Dazu gehören die statistische Physik, der Status von Modellbildung und Computersimulationen und eben auch die neuen Methoden im Umgang mit zusammengesetzten Systemen mit komplexem zeitlichen Verhalten.


Mechanismen in komplexen Systemen

Theorien komplexer Systeme gibt es in den verschiedensten Wissenschaften von der Physik über die Biologie bis hin zu Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die Analysemethoden sind oft universell einsetzbar, strukturell ähnliche Gleichungen und analoge Lösungsverfahren eignen sich zur Beschreibung der Dynamiken, die bis in numerischen Details übereinstimmen können.

Ein Beispiel ist die Analyse von Börsenkursen im Rahmen der sogenannten Econophysics. Mathematische Modellierungen lassen sich mit Erfolg aus der Physik in die Ökonomie, insbesondere auf die Analyse von Finanzmärkten übertragen. Der Wechsel von einem relativ ruhigen, durch Unternehmensanalysen bestimmten Marktgeschehen zu einer Phase hektischer Verkäufe und starker Preisänderungen lässt sich verblüffend gut mit der Physik der Phasenübergänge beschreiben.

Die Kenntnis über die Einzelteile eines Systems reicht oft nicht aus, um seine Dynamik zu erklären. Stehen viele Bestandteile in Wechselwirkung, kann das gesamte System ein unvorhersehbares, häufig auch überraschendes Verhalten zeigen. Schon bei einem vergleichsweise klassisch anmutenden Thema wie dem Magnetismus reichen die fundamentalen Theorien, die die Vorgänge auf der Mikroebene beschreiben, in einer gewissen Hinsicht nicht mehr zur Erklärung aus.

Wie also lassen sich komplexe Systeme theoretisch überhaupt beschreiben? Das Entscheidende ist, so die neue These, strukturelle Mechanismen zu identifizieren, also Abläufe, die nicht an einen bestimmten Gegenstandsbereich gebunden sind. Anschließend muss gezeigt werden, auf welche Weise sie in den konkreten Fällen realisiert sind.


Wissenschaftsphilosophie in einer komplexen Welt

Anders als in der fundamentalen Physik, in der etwa die Bahn eines Elektrons in einem Magnetfeld mit Hilfe grundlegender Bewegungsgleichungen erklärt wird, spielen allgemeine Naturgesetze bei komplexen Systemen eher eine untergeordnete Rolle. Man sucht vielmehr nach dynamischen Mustern, die sich in der Änderung der Systemzustände über die Zeit herausbilden.

Solche dynamischen Muster lassen sich auch in sozialen und wirtschaftlichen Prozessen (wie eben Börsenkursen) finden. Offenbar kann die erklärende Kraft hier nicht mehr von einem Naturgesetz stammen. Worauf beruht sie aber dann? Gibt es neben den Naturgesetzen andere Formen der Universalität? Muss man strukturellen Elementen eine besondere Bedeutung zuweisen oder handelt es sich einfach um besonders raffinierte Anwendungen mathematischer Methoden?

Die Wissenschaftsphilosophie analysiert Wandlungen in den methodischen Idealen der Wissenschaften. Nur so kann man verschiedene Naturbilder verstehen und einordnen, etwa im Hinblick auf die Frage, ob die Welt chaotisch oder durch Gesetze geordnet ist. Darüber hinaus sollten Steuerungsentscheidungen in einer durch die Wissenschaft geprägten Welt nicht durch falsche Ideale (etwa einer einheitlichen Methode für alle Wissenschaften) geleitet sein, sondern auf adäquaten Vorstellungen über wissenschaftliche Methoden beruhen.


Meinard Kuhlmann ist Privatdozent und Akademischer Rat am Institut für Philosophie. Nach seinem Diplom in Physik an der Universität Köln untersuchte er in seiner Dissertation, welche Konzeption von Materie der Quantenfeldtheorie, also der grundlegenden "Sprache" der Elementarteilchenphysik zugrunde liegt. Gegenwärtig gilt sein Hauptinteresse der Frage, was in den verschiedenen Bereichen der Wissenschaft gute Erklärungen auszeichnet und welche Rolle dabei dynamische Mechanismen spielen.

Manfred Stöckler wurde 1991 auf eine Professur für Theoretische Philosophie mit dem Schwerpunkt Naturphilosophie und Philosophie der Naturwissenschaften an die Universität Bremen berufen. Forschungsgebiete sind die Grundlagen der Quantentheorie und der Kosmologie sowie Probleme der Reduktion und Emergenz, d. h. die Analyse des Zusammenhangs von Beschreibungen der Natur z. B. auf der Ebene der Biologie mit den Theorien der Prozesse in tieferen Schichten, etwa auf der atomaren Ebene.

Weitere Informationen:
www.philosophie.uni-bremen.de


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 1/2009, Seite 20-21
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2009