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BERICHT/076: Denken auf Vorrat (highlights - Universität Bremen)


"highlights" - Heft 28 / Dezember 2013
Informationsmagazin der Universität Bremen

Denken auf Vorrat



Darf man Tieren Schmerz und Leid zufügen oder sie töten, um in wissenschaftlichen Forschungsprojekten zu neuen Erkenntnissen zu kommen? Wann ist eine humanitäre Intervention in Krisengebieten legitim? Sind wir moralisch verpflichtet, Menschen in der Dritten Welt zu helfen? Wie könnte ein weltweit gerechter Umgang mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln aussehen? Vier von unzähligen Themen, mit denen sich die Angewandte Philosophie beschäftigt. Im Institut für Philosophie der Universität Bremen forschen und lehren Professorin Dagmars Borchers, ihre Kollegen Professor Manfred Stöckler und Professor Georg Mohr und die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtung auch zu solch aktuellen Fragen.

Man kann eine Tageszeitung nehmen und eine beliebige Seite aufschlagen - man findet sofort ein Thema, das sich philosophisch reflektieren lässt", ist die Hochschullehrerin Dagmar Borchers sicher. "Unsere Werte und Normen lassen sich nicht nur hinterfragen - es ist für eine aufgeklärte und kritische Öffentlichkeit sogar unerlässlich, dies zu tun." Insofern ist Philosophie Teil des Alltags: Die Politische Philosophie beispielsweise beschäftigt sich mit den Grundstrukturen und Fragen des demokratischen Rechtsstaates. "Dabei geht es darum, die geistesgeschichtlichen Grundlagen unseres Staatsverständnisses kennenzulernen und über die Veränderungen bis heute nachzudenken - etwa, wie sich die Gerechtigkeitsvorstellungen entwickelt haben und wie sie aktuell diskutiert werden", sagt Dagmar Borchers. Die Angewandte Philosophie wiederum beschäftigt sich mit Fragen, die aus der Gesellschaft oder aus anderen Wissenschaften an sie herangetragen werden. Themenbereiche sind hier zum Beispiel die Tier-, Medizin- und Umweltethik.

"Die Philosophie ist für jede Gesellschaft wichtig", verdeutlicht die Professorin. "Philosophinnen und Philosophen haben analytische Kompetenzen im Hinblick auf Argumentationen. Sie werden überall dort mit einbezogen, wo ein bislang selbstverständliches Handeln plötzlich fragwürdig wird und die Gesellschaft Klärungsbedarf sieht: Welche Werte und Normen sind denn nun 'richtig'?" Philosophie ist dabei unparteiisch: Sie soll komplexe Problemlagen fächerübergreifend mit einem "Blick von außen" sichten und strukturieren. Auf diese Weise kann sie unvoreingenommen Denkanstöße im Diskussionsprozess geben.


Argumentationen zu Ende denken

Oft ist es schon hilfreich, wenn Philosophen in Debatten die verschiedenen Argumentationsansätze "zu Ende denken". Dagmar Borchers bewertet viele aktuelle Auseinandersetzungen um Sachfragen als "scheinheilig". Ihrer Meinung nach wird zu oft vorschnell geurteilt und argumentiert, ohne dass alle Fakten bekannt sind oder die Beteiligten ihre eigenen Interessenskonflikte eingestehen. Persönliche Vorlieben und Urteile verfärben die Argumente - dabei sollten diese umgekehrt durch gute Argumente erst gebildet und verfestigt werden. "Es gibt heute in unserer Gesellschaft sehr viel moralische Entrüstung und voreilige Empörung, wenn ein Thema hochkocht."

Die schnelle Schlagzeile zähle dann oftmals mehr als der Inhalt: "Die Argumentationen in den heutigen politischen oder gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sind selten widerspruchsfrei. Ein Beispiel ist die Debatte um den Umgang mit privaten Daten: Wer sich darüber empört, dass verschiedene Dienste in unzulässiger Weise mit privaten Informationen umgehen, muss konsequenterweise auch vorsichtiger mit der Herausgabe von Daten sein - und im nächsten Schritt dann auch bewusster mit seinen Einkäufen und seinen privaten Netzwerken im Internet umgehen. Aber in dieser Hinsicht zeigen sich viele Menschen wiederum verhältnismäßig unbeschwert." In derartigen öffentlichen Kontroversen geht es der Philosophie darum, Widersprüche im Denken aufzuzeigen - aber nicht darum, diese auch in eine bestimmte Richtung aufzulösen. Dagmar Borchers: "Das müssen die Diskussionsteilnehmer dann schon selber tun."


Sind Tiere moralisch relevant?

Ein anderes Beispiel für öffentlich geführte Kontroversen ist die Frage des Umganges mit Tieren. Tierethik ist einer der Forschungsschwerpunkte von Dagmar Borchers. "Es ist immer noch unglaublich, wie unsere Gesellschaft mit Tieren umgeht und sich über ihre Bedürfnisse hinwegsetzt. Das bewegt zunehmend die Menschen und wird auch sichtbar: Die Tierschutzbewegung nimmt zu, und in Großstädten sieht man immer öfter vegetarische Restaurants." Die philosophische Grundfrage laute: Sind Tiere moralisch relevant? Und wenn ja, warum und in welchem Umfang? "Diese Frage wird dann besonders brisant, wenn es um Tierversuche geht - eine Frage, die ja auch die Universität Bremen und die hiesige Politik und Stadtöffentlichkeit beschäftigt, weil hier ebenfalls mit Tieren geforscht wird." Ist für eine Gesellschaft das Ziel der Linderung oder Heilung von Krankheiten so wichtig, dass es moralisch gerechtfertigt ist, dafür einer bestimmten Anzahl von Tieren Schmerz und Leid zuzufügen? "Menschen kommen hier schnell in einen Ziel- oder Interessenkonflikt. Wenn sie ernsthaft krank sind, wollen sie geheilt werden und fragen nicht danach, um welchen Preis die Therapien oder Medikamente entwickelt wurden. Gleichwohl kann und sollte man Tierversuche immer wieder kritisch diskutieren."

Die Rolle der Angewandten Philosophie in derartigen Diskussionen ist es, die oft extrem konträren Standpunkte zu verdeutlichen und zu versachlichen. "Die Philosophie ist eine Wissenschaft, die sich vorurteilsfrei und emotionslos mit Argumenten beschäftigt. Sie sammelt, evaluiert und kritisiert diese Argumente und versucht, selbst möglichst gute Argumente zu entwickeln und in die Diskussion einzubringen." Das Handwerkszeug dafür erlangen Philosophen in ihrer Ausbildung. In dieser werden unter anderem Logik, Argumentation und Argumentationstheorien und Philosophie- und Geistesgeschichte gelehrt, aber auch Wissen aus anderen Fachgebieten: "Man kann nicht über moralische Fragen reden, wenn man sich nicht auch mit Moralpsychologie, Soziologie und weiteren Nachbarwissenschaften beschäftigt hat", verdeutlicht Dagmar Borchers. "Und wer sich philosophisch mit Tierethik beschäftigt, muss wissen, was in den Laboren mit den Tieren passiert." Eine besondere Bedeutung komme auch der Sprachanalyse zu: "Menschen benutzen oft die gleichen Worte, meinen aber etwas Differierendes damit. Philosophen sind auch dazu da, in Argumentationsprozessen sprachliche Verwirrungen aufzuklären. Schon im Studium lernen angehende Philosophen, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Das ist nicht immer einfach."

Im immer schnelleren Alltag, so die Hochschullehrerin, sei die Philosophie ein Mittel und Ort zum "Nach-Denken" sowie zur Entschleunigung von Entscheidungsfindungsprozessen. "Viele Entscheidungen werden heute zu schnell getroffen. Es wird vor der Entscheidung nicht mehr genug informiert, diskutiert und abgewogen. Kein Wunder, dass viele Menschen den Eindruck haben, dass immer mehr schief geht", sagt Dagmar Borchers. Philosophie sei so etwas wie "Denken auf Vorrat" - und eine kleine Reserve davon kann sicher nicht schaden.


Prof. Dr. Darmar Borchers
Institut für Philosophie
E-Mail: borchers@uni-bremen.de
www.philosophie.uni-bremen.de

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Quelle:
highlights - Informationsmagazin der Universität Bremen
Heft 28 / Dezember 2013, Seite 20-23
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Kai Uwe Bohn, Universitäts-Pressestelle
Postfach 330440, 28334 Bremen
Telefon: 0421/218-601 50
E-Mail: presse@uni-bremen.de
Internet: www.uni-bremen.de/universitaet/presseinfos/publikationen/highlights.html
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2014