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ETHIK/019: Neues Nachdenken über das Böse (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 3/2007

Antlitzlos und unbesprechbar?
Neues Nachdenken über das Böse

Von Stefan Orth


Das Nachdenken über das Böse hat im 21. Jahrhundert wieder Konjunktur. Vor allem mit Bezug auf die traumatischen Ereignisse zu dessen Beginn wurden in jüngerer Zeit Vortragsreihen und Symposien zum Thema veranstaltet; die breit angelegte philosophische wie theologische Reflexion schlägt sich auch in einer Fülle von Neuerscheinungen nieder.


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Das Böse verstört, immer noch. Hatte sich bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, dass die Beschäftigung mit Luzifer und anderen Vertretern der Unterwelt in den Kultur- und Religionswissenschaften sowie in christlicher Publizistik und Theologie wieder zunimmt (vgl. HK, April 1999, 192 ff.), gilt dies inzwischen auch für die Beschäftigung mit dem Bösen im Allgemeinen. Dass Satanisten als "Vereinsmeier des Bösen" (Hans Richard Brittnacher) entlarvt sind, die sich in der lustvollen Pervertierung des Christlichen erschöpfen, bedeutet gerade nicht, dass die Auseinandersetzung mit dem Bösen am Ende wäre.

Symptomatisch hierfür ist das Editorial einer Ausgabe der Schweizer Kulturzeitschrift "du" mit dem Titel "Der Teufel. Das Antlitz des Bösen" (Nr. 9/2005). Dort zeigte man sich erstaunt darüber, dass der seit der Aufklärung "ins Kasperltheater" verbannte Teufel so ernsthafte Diskussionen über die heutigen Abgründe des Bösen zu befördern vermag. Die Herausgeber fürchteten bei der Planung, das Heft könne "zu philologisch werden, zu volkskundlich, zu mittelalterlich, zu literarisch, zu anekdotisch oder gelehrt. Mit einem Worte vergangenheitslastig". Die Befürchtung habe sich hingegen als grundlos herausgestellt, der existenzielle Ernst der Autoren bei der Reflexion über das Thema habe sehr beeindruckt.

Zwar mögen die politisch-kulturellen Kontexte der traumatischen Ereignisse von New York und später von Madrid, London und andernorts deutlich komplexer sein: Vor allem das Datum "11. September 2001" ist in diesem Zusammenhang längst zu einer Chiffre geworden, die eine intensivere Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen des Bösen ausgelöst hat, deren Höhepunkt - wie die Neuerscheinungen des Frühjahrs zeigen - noch nicht überschritten ist.


Zurechenbarkeit und Verantwortung

So wurden in jüngerer Zeit mehrere Vortragsreihen und Symposien zum Thema veranstaltet. Die Vorträge der Hannoveraner "Hannah-Arendt-Lectures" und "Hannah-Arendt-Tage" des Jahres 2005 hat der Sozialphilosoph Detlef Horster jetzt unter dem Titel "Das Böse neu denken" herausgegeben (Verlag Velbrück, Weilerswist 2006) - einschließlich einschlägiger Überlegungen zur Terrorismusbekämpfung von Günther Beckstein und Ernst Uhrlau, dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes. Pointiert beklagt der Herausgeber, dass in der Philosophie zuletzt zu wenig über das Böse nachgedacht worden sei, nachdem man die Fragestellung auf das Problem der Verantwortung des Menschen für seine ethisch unzureichenden Handlungen eingeengt habe.

Im Band selbst finden sich dann freilich vor allem Beispiele für Ansätze, die die Rolle des Bösen nicht überschätzt wissen wollen. Besonders extrem ist hier die systemtheoretische Ruhigstellung der Fragestellung, in der Terror als "soziales System" gedeutet wird - was impliziert, dass es "nicht mehr um das Ausloten einer 'terroristischen' Psyche und deren Motive, nicht mehr um die Taten der Täter, um ihre internen Befindlichkeiten und Konditionierungen" gehen dürfe (Peter Fuchs).

Ein Fragezeichen hinter die Überzeugung, von "dem Bösen" sprechen zu können, setzt die Philosophin Susan Neiman, die das Potsdamer "Einstein Forum" leitet. Die Suche nach einem "allen seinen Erscheinungsformen innewohnenden Wesen des Bösen" sei zu beenden: Die "Konzentration der Konservativen auf den Teufel oder abstrakte Begriffe des Bösen" gingen einher mit der Leugnung der genuinen Fähigkeit des Menschen zum Bösen (51f.). Wer das Böse als etwas Dämonisches behandele, ignoriere zu schnell die Verantwortung für die eigenen Taten. Neiman hatte bereits einige Zeit zuvor eine viel beachtete Relecture der Philosophiegeschichte seit dem Erdbeben von Lissabon 1755 vorgelegt (dt.: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Verlag Suhrkamp, Frankfurt 2004).

Anders als die jüngere neurowissenschaftliche oder auch evolutionsbiologische Infragestellung der Freiheit des Menschen vermuten lassen könnte, ist bei den Autoren, die sich dem Bösen widmen, freilich weithin Konsens, dass die menschliche Freiheit das Böse initiiert und deshalb auch zur Rechenschaft zu ziehen ist. Der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin warnt allerdings bei entsprechenden Zuschreibungen vor einem zu starken Verantwortungsbegriff. Aus der Frustration aufgrund einer entsprechenden Überbetonung folge allzu rasch dessen Auflösung und schließlich auch apolitisches Handeln oder Zynismus. Genau diesem Verhältnis zwischen der - letztlich eben innerhalb bestimmter Grenzen agierenden - Freiheit des Menschen und dem, was sie zum Bösen zu bewegen vermag, widmet sich die gegenwärtige philosophisch und dann auch theologische Diskussion.

Dass die eigene Zunft, von allgemein gehaltenen, geistesgeschichtlichen Essays à la Rüdiger Safranski abgesehen, angesichts der Fragen nach dem Bösen so zurückhaltend ist, kritisiert auch der Philosoph Hans-Jörg Ehni (Das moralisch Böse. Überlegungen nach Kant und Ricoeur, Verlag Alber, Freiburg 2006). Möglicherweise, so seine Mutmaßung, entstehe der Verdacht, ein philosophisches Verständnis des Bösen sei veraltet und durch andere, zeitgemäßere Auffassungen zu ersetzen, welche dieselben Phänomene aus biologischer, psychologischer oder soziologischer Sicht besser beschreiben, ohne dass überhaupt noch vom moralisch Bösen die Rede sein müsse: "Das Böse könnte als Begriff erscheinen, der zur Religion und nicht zur Ethik gehört und der nur in einer Philosophie christlicher Prägung noch eine Rolle spielen kann" (18). In jedem Fall spielt in seinem Werk der für religiöse Fragestellungen sensible Philosoph Paul Ricoeur eine maßgebliche Rolle. Die deutsche Übersetzung einer kleinen Arbeit über das Böse von ihm ist bezeichnenderweise ebenfalls seit kurzem greifbar (Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie, Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2006).


Das Böse auf den Begriff bringen?

Wie die philosophischen Ethiker müssen sich auf der anderen Seite auch die Moraltheologen gegenüber dem Vorwurf verteidigen, das Fach forciere eine Verharmlosung und Banalisierung des Bösen und leiste damit der eigenen gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit Vorschub. Die Vorträge einer entsprechend angelegten Tagung von Moraltheologen erscheinen gerade unter dem Titel "Das Böse und die Sprachlosigkeit der Theologie" (Klaus Berger, Ulrich Niemann, Marion Wagner [Hg.], Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2007; vgl. auch den Bericht von Franz-Josef Bormann, in: Stimmen der Zeit, Nr. 8/2006).

Zur Verteidigung der Moraltheologie hebt Bormann in diesem Band hervor, dass die Entwicklung der so genannten autonomen Moral mit der Betonung der Freiheit des Subjekts gerade die Voraussetzung für eine vertiefte Reflexion auf das Böse (im Sinne des malum morale) mit sich bringe. Allerdings habe das Streben nach Anschlussfähigkeit theologischer Überlegungen in der säkularen Kultur dazu geführt, auch noch die Restbestände christlicher Sündenlehre aufzugeben. Größere Anstrengungen zur Erhellung des Begriffs des Bösen, von der Rede der "strukturellen Sünde" in der Sozialethik einmal abgesehen, suche man deshalb vergeblich.

Dass es problematisch ist, das Böse auf den Begriff bringen zu wollen, wird vor allem innerhalb der evangelischen Theologie immer wieder hervorgehoben, wie man etwa der Dokumentation einer Vortragsreihe zum Thema im Berliner Dom entnehmen kann (Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hg.]: Leben im Schatten des Bösen. Gespräche zu einer ungelösten Menschheitsfrage, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2004). Bemerkenswert sind dabei vor allem die Beiträge der systematischen Theologen Wolf Krötke und Eberhard Jüngel, die eine Reihe von Parallelen aufweisen.

Jüngel hebt hervor, dass sich das Böse nur allzu gerne verberge: "Es ist ausgesprochen bestimmungsresistent. Es scheut den Begriff" (124). Das Böse sei sogar so verlogen, dass es sich auch des Guten zu bedienen wisse. Ähnlich auch Krötkes Hinweise, wie das Böse seine Macht aus dem Guten sauge: "Da wird das Absurde verborgen und stattdessen ein ganzes Panorama von edler Absicht, hehren Zielen und unausweichlichen Härten entfaltet. Die Maske des Guten, Nützlichen und Gerechten ist schon immer die bevorzugte Requisite der Auftritte des Bösen in der Menschheitsgeschichte und in den persönlichen Geschichten der vielen Einzelnen gewesen" (64).

Genau dieses Ineinander von Gut und Böse steht im Mittelpunkt der Habilitationsschrift des systematischen Theologen Knut Berner (Theorie des Bösen. Zur Hermeneutik destruktiver Verknüpfungen, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2004). Seine These entwickelt er in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, insbesondere der Praxis in Konzentrationslagern, und deren Aufarbeitung durch Hannah Arendt in ihrem "Bericht von der Banalität des Bösen". Sie lautet, dass die menschliche Kompetenz zur Unterscheidung von Gut und Böse nicht zu hoch eingeschätzt werden sollte. Angesichts der gewaltigen Komplexitätszuwächse in der modernen Gesellschaft sei die Zurechenbarkeit des Bösen zweifelhaft geworden.

In Auschwitz hätten auch die "Zuschauer, Mitläufer und Denunzianten (...) in deprimierender Weise erfolgreich Moral, Recht und Güterorientierung in Anspruch genommen, um die Destruktionen zu rechtfertigen und zu verschleiern" (1). Es mache gerade die Bosheit des Bösen aus, sich mit Güter- und Wertorientierungen heimtückisch zu verknüpfen und von ihnen in infamer Weise zu profitieren. Die Vermischung von Gut und Böse sorge letztlich dafür, dass sich das Böse entzieht und erst im Nachhinein das ganze Ausmaß von Unheilszusammenhängen ersichtlich werde. Der in Auseinandersetzung mit Gottfried Wilhelm Leibniz und Karl Barth entwickelte Gedankengang, vorgetragen mit einer unnötig gestelzten Sprache, setzt freilich zu stark darauf, dass die Menschen vom Bösen "chronisch überfordert" seien. Hier vertritt Berner letztlich eine sehr skeptische Position.


Lust am Bösen

Mit Recht stellt er allerdings fest, dass die bildhaften Vorstellungen vom Bösen dort besonders zutreffend und aussagekräftig sind, wo die Bestreitung der Menschlichkeit des Menschen "in perfider Weise betrieben wird, indem physisch und psychisch gedemütigt, erniedrigt und enttäuscht wird, ohne dass diese Formen von Integritätsbeschädigungen und ihre Konsequenzen immer offensichtlich sind" (7). Das Böse sei attraktiver und faszinierender, als es einem humanistischen Menschenbild genehm sein könne (vgl. zu diesen Abgründen des Bösen auch die kleine, aber sehr eindringliche Schrift von Heinz-Günther Stobbe, Vom Geist der Übertretung und Vernichtung. Der Ursprung der Gewalt im Denken des Marquis de Sade, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2002).

Die insgesamt anregendsten Überlegungen der gegenwärtigen Beschäftigung mit dem Bösen finden sich ebenfalls bei einem Protestanten: beim Zürcher Religionsphilosophen und Theologen Ingolf U. Dalferth, der im vergangenen Jahr gleich zwei Bände zum Thema veröffentlicht hat. Während im ersten Fall das Nachdenken über das Böse im Kontrast zum Guten im Vordergrund steht (Das Böse. Essay über die Denkform des Unbegreiflichen, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2006), wird im anderen Fall die Fragestellung dezidiert auf das Thema des Leidens ausgedehnt (Leiden und Böses. Vom schwierigen Umgang mit Widersinnigen, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006). Leiden sei nicht zwangsläufig Böses (wie Böses nicht zwangsläufig Leiden), in jedem Fall aber der Ort, an dem das Böse unabweisbar als Phänomen in den Blick trete. Der Primat des Bösen liege nicht im Wollen, sondern in der "Erfahrung des Bösen im Widerfahrnis des Üblen" (Burkhard Liebsch).

In beiden Fällen geht es auch Dalferth darum, das Thema aus den kantischen Engführungen zu befreien. "Wer nur in den Kategorien von Tätern und Opfern denkt und alles Böse nach der Logik des Handelns zu verstehen sucht, der wird ihm nicht auf die Spur kommen, sondern in moralisierenden Übervereinfachungen stecken bleiben. Das ist in der Neuzeit weithin geschehen" (Leiden und Böses, 50). Er begründet dies ebenfalls damit, dass Moralisch-Böses im 20. Jahrhundert ein Ausmaß angenommen habe, das Kant sich nicht vorzustellen vermochte. Es gebe weiterhin "eine Lust am Bösestun und eine 'Joy of Hurting', die sich im Sadismus und den Perversitäten von Psychopathen und Soziopathen manifestieren, bei denen die Schranken der üblichen physischen, psychischen und moralischen Aversion gegen solches Tun fehlen oder gefallen sind" (Das Böse, 113).

Beide Bände stecken das Feld mit - gelegentlich ausufernden - sprachanalytischen Beobachtungen ab. Vor allem der zweite Band zeigt bei der "Neuvermessung" des Felds zwischen Leiden, Bösem und Übel jedoch eine Sensibilität bei der Beschreibung der Phänomene, die das Buch besonders lesenswert macht. Auch hier spielt die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine maßgebliche Rolle. Das Ausmaß und der Charakter des Grauens ließen sich nicht fassen und begreiflich machen, indem man die nationalsozialistischen Vernichtungslager auf das böse Handeln böser Menschen aus bösen Absichten zurückzuführen suche. Es seien eben in vielen Fällen nicht Sadismus, Hass, Bösartigkeit oder antisemitischer Vorsatz, sondern kleinbürgerlicher Karrierismus, Feigheit, Routine, Pflichtgehorsam oder Frontangst gewesen, die die Untaten ermöglicht hätten.

Das Böse müsse deshalb in einem weiten Sinne verstanden werden, es sei umfassender, unvermeidlicher und unverständlicher, als es die Orientierung am Leiden und Handeln Einzelner nahe lege. Allerdings wird das Verständnis des Bösen bei Dalferth unnötigerweise eingeschränkt auf das, was - gewissermaßen rein subjektiv - als böse empfunden wird. Sollte beispielsweise eine Übervorteilung, nur weil der Geschädigte dies nicht bemerkt, nicht böse genannt werden dürfen?


Den Teufel beim Namen nennen

Bei allen Diskussionen ist der ontologische Status des Bösen zumindest unterschwellig präsent. Welche Wirklichkeit kommt dem Bösen jenseits der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen zu? Besonders angesichts dieses Aspekts ist das Auseinanderhalten der Sprachebenen entscheidend.

Das beginnt bei der Frage, wie das Böse dargestellt werden kann. Explizit hat der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer in einem Band mit zuvor schon verstreut veröffentlichten Aufsätzen die Frage gestellt, inwieweit die Darstellungen des Bösen selbst am Bösen teilhaben (Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie, Carl Hanser Verlag, München 2004). Haben die Künste, vor allem die Literatur und die Malerei selbst eine spezifische Affinität zum Bösen?

In den verschiedenen, sich überlappenden Essays geht es darum, wie die Anziehungskraft des Bösen die künstlerische Vorstellungskraft beflügelt. Ausdrücklich verweist Bohrer dabei unter anderem auf die Passion Jesu Christi, die ein Beispiel dafür sei, dass eine Ästhetik des Schreckens die Kunst- und Literaturgeschichte maßgeblich präge. Die menschliche Affinität zu den Perversionen des Bösen darzustellen, gelingt seiner Überzeugung nach eben nicht der philosophischen, sondern nur der poetischen Rede. Weil auf diese Weise eine eigene Perspektive auf die Welt freigelegt werde, könne man auch vom Bösen als einer "ästhetischen Kategorie" sprechen.

Problematisch ist in diesem Zusammenhang freilich die Überzeugung Bohrers, dass die Imaginationen des Bösen in den Künsten gewissermaßen gleichrangig zu den Imaginationen des Guten seien. Er kritisiert, dass vor allem in der deutschen Literatur seit 1945 das Böse tabuisiert und bestenfalls als Negativfolie für das "Regulativ des gesellschaftlich Guten" beachtet wurde. Das aber habe dazu geführt, das Böse als das Andere der Vernunft nicht ernst genug zu nehmen.

Birgt eine solchermaßen interessierte stärkere Aufmerksamkeit für das Böse in den Künsten aber nicht die Gefahr, das Grauen auch zu ästhetisieren? Davor warnt immerhin der Sozialethiker Walter Lesch in einem gerade erschienenen Band von vornehmlich Schweizer Theologen, die versuchen, auch die verschiedenen Geschlechterperspektiven bei der Betrachtung des Bösen mit einzubringen (Béatrice Acklin Zimmermann und Barbara Schmitz [Hg.], An der Grenze. Theologische Erkundungen zum Bösen, Verlag Lembeck, 2007).

Das Böse ernster nehmen, den Bedeutungsüberschuss in sprachlichen Äußerungen und künstlerischen Darstellungen nicht auf ethische Probleme zu reduzieren, ohne daraus ein metaphysisches Prinzip schlussfolgern zu müssen. Dies ist schließlich auch das Anliegen in der Diskussion innerhalb der katholischen Theologie. Überraschend ungeniert setzt sie sich dabei auch mit der Figur des Teufels auseinander.

Der Dogmatiker Bernd J. Claret hatte sich bereits vor einem Jahrzehnt mit "Geheimnis des Bösen. Zur Diskussion um den Teufel" (Verlag Tyrolia, Innsbruck 1997) gegen den vorschnellen "Abschied vom Teufel" (Herbert Haag) ausgesprochen, um angesichts der menschlichen Erfahrung des Bösen nicht sprachlos zu werden - ohne deshalb einen expliziten Teufelsglauben im Christentum behaupten zu wollen.

Danach hat der Dogmatiker Jürgen Bründl in seiner Dissertation "Masken des Bösen. Eine Theologie des Teufels" (Echter Verlag, Würzburg 2002) in eine ähnlich Richtung gearbeitet. Angesichts der Scheu der gegenwärtigen Theologie, in der Reflexion über das Böse auch den Teufel beim Namen zu nennen, so seine Überzeugung, drohe sie "zur Hüterin eines systematisierten Un-Glaubens zu werden" (14). Ohne den Teufel bleibe die Wirklichkeit des Bösen "antlitzlos und unbesprechbar" (401).

Dabei streicht auch Bründl heraus, dass so etwas wie eine "zweite Naivität" (Ricoeur) anzustreben ist: In Bezug auf den Teufel gelte ganz besonders, was jeder reflektierten theologischen Rede zugrunde liegen müsse: "dass sie analog, insbesondere metaphorisch strukturiert ist, also zwar den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit wahrhaftig auszusagen, dazu jedoch selbst einer Auslegung bedarf, die sie zum Sprechen bringt" (17).

Ute Leimgruber hat unter anderem diese beiden Ansätze in ihrer dezidiert pastoraltheologisch angelegten Doktorarbeit "Abschied vom Teufel. Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Rede vom Teufel im Volk Gottes" (LIT-Verlag, Münster 2004) aufgegriffen und auf ihre Praxistauglichkeit untersucht. Auch die praktische Theologin kommt nach der Auswertung der von ihr geführten Interviews dabei zu der Überzeugung: "Die Rede vom Teufel besitzt ungebrochene Aktualität, und es kann und darf auf sie (...) begründeterweise nicht verzichtet werden" (334).

In einem von ihm herausgegebenen Sammelband, der sich auch intensiver mit dem Theologumenon der "Erbsünde" beschäftigt, bekräftigt Claret jetzt seine Position und verteidigt sich gegen den Vorwurf, mit der Reflexion über das unergründliche Böse eine Theodizee leisten zu wollen (Theodizee. Das Böse in der Welt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007 [im Erscheinen]). Auf der anderen Seite sei klar, dass Gott - wenn er als absolute Liebe gedacht wird - nicht in einer moralisch verwerflichen Weise zum Entstehen des Bösen in der Welt beitrage. Das Böse müsse vielmehr als Nicht-zu-Rechtfertigendes verstanden werden, dem deshalb auch keinerlei dienende Funktion für die Realisierung des Guten zugesprochen werden darf.

Wie aber nun auf das Böse reagieren? Der Alttestamentler Rüdiger Lux hat darauf hingewiesen, dass die Klage als Reaktion auf die Erfahrung des Leidens selbst zum Netz des Bösen werden könne, in dem sich der Klagende verfängt. Sie habe "eine heimliche Affinität zum Tode, eine Tendenz zum Selbstbezug und damit zur hoffnungslosen Reduktion der eigenen Person auf ihr Selbst, zur sozialen Isolierung" (in: Leben im Schatten des Bösen, 40).

Die besonderen Qualitäten von Dalferths Büchlein "Leiden und Böses" liegen darin, dass er sich als einer der wenigen auch den Fragen nach einem möglichen Umgang mit dem Bösen ausführlich stellt. Ziel muss es nach Dalferth sein, "das Sinnlose und Sinnwidrige in eine Perspektive zu rücken, die ein sinnvolles Sichverhalten zu ihm" möglich mache. Ein wirklicher Trost für den, der Böses erfahren habe, sei in dieser Perspektive "die Anleitung zur Neuorientierung des Lebens im Leiden". Es gebe kein menschliches Leben ohne eine Kultur des Umgangs mit Leid und Leiden.

Und genau zu diesem Ziel, dem Leben das Leiden ein- und unterzuordnen, hätten Religion und Glaube Entscheidendes beizutragen. Der Glaube an Gottes Gegenwart beende dabei nicht das Leiden, sondern lediglich seine Erfahrung als Böses: "Nicht das Ende des Leidens, sondern das Ende des Bösen ist der Kern der christlichen Botschaft" (198). Kreuzestheologie sei in diesem Zusammenhang der theologische Ausdruck der Einsicht, dass das Widerspruchsgeschehen der Anfechtung nicht nur zwischen Gott und Geschöpf, sondern im göttlichen Schöpfer selbst einen Ort habe.

Die theologische Pointe der oft mit viel Sprachwitz vorgetragenen Überlegungen Dalferths ist dabei die von ihm behauptete "fundamentale Diastase zwischen erlebter und geglaubter Wirklichkeit" (204 f.). Denn aus christlicher Perspektive sei das Böse schon "desavouiert" und damit am Ende. "Was an Bösem erlebt und erfahren wird, ist eine überholte Wirklichkeit: Wir leben und erfahren etwas, was nicht nur zum Vergehen bestimmt, sondern eigentlich schon vergangen ist, leben der wahren Wirklichkeit also gewissermaßen hinterher (...) Der Verweis auf die Omnipräsenz des Bösen hat damit zwar hohe Plausibilität, aber wenig Wahrheitsgehalt, und der Hinweis auf die Präsenz des Guten hat zwar fast alles gegen sich, ist aber dennoch wirklichkeitsnäher.

Einstweilen wird man sich freilich an den unterschiedlichen Gesichtern, mit denen das Böse sich zeigt, abarbeiten müssen. Um dem von ihm verursachten Leiden besser begegnen zu können, muss man zumindest versuchen, das Böse auf den Begriff zu bringen. Die Fülle von Publikationen, zu denen Beiträge aus der Sicht einer Reihe anderer Wissenschaften gehören (von der Biologie und Medizin über die Ökonomie bis zur Theaterwissenschaft) nehmen diese Herausforderung an.


Neuerscheinungen zum Thema:

Klaus Berger, Ulrich Niemann, Marion Wagner (Hg.):
Das Böse und die Sprachlosigkeit der Theologie,
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2007
[im Erscheinen].

Knut Berner: Theorie des Bösen.
Zur Hermeneutik destruktiver Verknüpfungen,
Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2004.

Karl Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen.
Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie,
Carl Hanser Verlag, München 2004.

Bernd J. Claret (Hg.): Theodizee. Das Böse
in der Welt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 2007 [im Erscheinen].

Ingolf U. Dalferth: Das Böse.
Essay über die Denkform des Unbegreiflichen,
Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2006.

Ingolf U. Dalferth: Leiden und Böses.
Vom schwierigen Umgang mit Widersinnigen,
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006.

Hans-Jörg Ehni: Das moralisch Böse.
Überlegungen nach Kant und Ricoeur,
Verlag Alber, Freiburg 2006.

Detlef Horster (Hg.): Das Böse neu denken.
Hannah-Arendt-Lectures und Hannah-Arendt-Tage 2005,
Verlag Velbrück, Weilerswist 2006.

Ute Leimgruber: Abschied vom Teufel.
Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Rede vom Teufel
im Volk Gottes. LIT-Verlag, Münster 2004.

Susan Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte
der Philosophie, Verlag Suhrkamp, Frankfurt 2004.

Paul Ricoeur: Das Böse. Eine Herausforderung für
Philosophie und Theologie, Theologischer Verlag Zürich,
Zürich 2006.

Union Evangelischer Kirchen in der
Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.):
Leben im Schatten des Bösen. Gespräche zu einer
ungelösten Menschheitsfrage, Neukirchener Verlag,
Neukirchen-Vluyn 2004.

Béatrice Acklin Zimmermann und Barbara Schmitz (Hg.):
An der Grenze. Theologische Erkundungen zum Bösen,
Verlag Lembeck, 2007.

Der Teufel. Das Antlitz des Bösen,
Du. Zeitschrift für Kultur, Nr. 9/2005.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 3, März 2007, S. 144-149
Anschrift der Redaktion:
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Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Bezugspreis ab Januar 2007:
Heftpreis im Abonnement 10,20 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2007