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ETHIK/020: Für eine planetarische Ethik (research*eu)


research*eu Nr. 52 - Juni 2007
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Klima
Für eine planetarische Ethik

Von Yves Sciama


"Es müssen neue Formen der ökonomischen und politischen Regulierung geschaffen werden". Für Dominique Bourg, Philosoph und Umweltschützer, Direktor des Institut des Politiques Territoriales et d'Environnement Humain (IPTEH) an der Universität Lausanne, verlangt die Klimaerwärmung die ethische Neuformierung einer Gesellschaft, die ihre Grenzen entdeckt.

FRAGE: Wird das Klima zur wichtigsten Herausforderung für den gesamten Planeten?

DOMINIQUE BOURG: Man muss die Dinge globaler sehen. Unsere Erde weist zwei Ungleichgewichte auf, die sich beide in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Wir müssen sie abbauen, wenn wir eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit erreichen wollen. Das erste betrifft die Verteilung des globalen Reichtums. In den Zeiten Adam Smiths lag die Kluft zwischen den großen Zivilisationen hinsichtlich des Wohlstands bei 1 zu knapp 2. Im Jahr 2000 lag dieses Verhältnis laut Entwicklungs programm der Vereinten Nationen (UNPD) bei 1 zu 74.

Das Ungleichgewicht hat sich also verschärft. Die Abstände sind genau in dem Moment so groß geworden, als sich zum ersten Mal eine nie da gewesene Transparenz in der Geschichte der Menschheit gezeigt hat. Es gibt keinen Flecken auf der Erde, wo die Leute nicht wissen, wie gut man mit Wohlstand lebt - so wie Sie und ich in Europa zum Beispiel. Wenn man dieses wichtige konfliktgeladene Ungleichgewicht nicht im Hinterkopf hat, kann man die heutige Zeit nicht verstehen, insbesondere nicht den "Hyperterrorismus".

Das zweite Ungleichgewicht, das sich genau im gleichen Zeitraum entwickelt hat, betrifft die weltweite Veränderung der Umwelt. In dieser Hinsicht hat der Mensch immer schon Schaden angerichtet und durch manche seiner Eingriffe in die Umwelt wurden schon ganze Kulturen dahingerafft. Aber heute sind diese Probleme globaler Natur und sie entwickeln sich rapide weiter, weil der Mensch die Hand im Spiel hat. Die Herausforderung ist groß, weil man vielleicht ein lokales Ökosystem wiederherstellen kann, jedoch niemand in der Lage ist, die gesamte Biosphäre zu sanieren.

FRAGE: Sie scheinen nicht viel vom technischen Fortschritt zu halten...

DOMINIQUE BOURG: Man muss aus dem 20. Jahrhundert lernen. Als man die Radioaktivität entdeckte, hielt man sie für ungefährlich. Sie hat sich als krebserregend erwiesen - das war die erste Überraschung! Als man FCKW (Fluorchlorkohlenwasserstoff) erfunden hatte, freute man sich über seine chemische Trägheit. Das war die Garantie für seine Sicherheit und man produzierte es in Massen. Jahrzehnte später fiel auf, dass FCKW die Ozonschicht schädigt - das war die nächste Überraschung! DDT wurde als die Entdeckung des Jahrhunderts vorgestellt, sehr effizient und ungefährlich. Aber dieses Pestizid ist nicht nur schädlich für die Umwelt, in bestimmten Konzentrationen ist es auch gesundheitsschädlich - noch eine Überraschung! Und ich habe noch nicht vom Asbest und anderen Dingen gesprochen. Und schließlich hat sich auch die Verwendung von Kohlenwasserstoffen als Gefahr für das Klima herausgestellt. All das zeigt, dass unsere Technologien nur teilweise hilfreich sind und keinesfalls das ganze System beherrschen können. Es hat sich gezeigt, dass sie sogar große Schäden anrichten können. Je leistungsfähiger diese Technologien sind, desto schwerwiegender können die Folgeschäden sein.

FRAGE: Wären nicht die technologischen Modelle des Geoengineering eine Möglichkeit, wie sie von dem Klimaforscher Paul Crutzen (*) vorgeschlagen werden? Hier verspricht man sich durch den Einsatz der Atmosphärenchemie eine Abschwächung des Treibhauseffekts.

DOMINIQUE BOURG: Meiner Meinung nach ist das wieder eine technologische Flucht nach vorne, wenn man Aerosole in die hohe Atmosphäre pumpt, um auf chemischem Wege das CO2 zu neutralisieren. Auch hierbei könnte es wieder böse Überraschungen geben und das auf globaler Ebene. Crutzen selbst zieht diese Lösung nur im Extremfall in Betracht, wenn die Katastrophe uns dazu zwingt oder das System zusammenbricht. Aber ich halte es für inakzeptabel, die heutige Untätigkeit damit zu rechtfertigen, dass man morgen angeblich auf globaler Ebene handeln könne. Mit dieser Option im Nacken laufen wir Gefahr, dass Bedingungen geschaffen werden, die uns keine andere Wahl mehr lassen, als sie einzusetzen.

FRAGE: Welche Lösungen wären in diesem Fall sinnvoll?

DOMINIQUE BOURG: Zu den Voraussetzungen für Nachhaltigkeit gehört die wesentliche Reduktion des Rohstoffund Energiestroms. Man muss schrittweise vorgehen, über Jahrzehnte hinweg, weil damit beträchtliche Veränderungen einhergehen. Die von dem IPCC definierten klimatischen Ziele, in die die Union eingewilligt hat, sind folgende: die Reduktion der globalen CO2-Emissionen auf die Hälfte und auf mindestens ein Viertel - für die OECD-Länder für die Vereinigten Staaten müsste das ein Zehntel sein, wenn man genau wäre. Für die entwikkelten Länder bedeutet das eine jährliche Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 3%, und das über mehrere Jahrzehnte. Zum Vergleich sollte man anführen, dass die heutige Tendenz einer Erhöhung um 2% pro Jahr entspricht.

Eine weitreichende, kostensparende Abnahme ist keine Lösung. Wir werden nie ohne Geld und ohne Neuerungen zum Ziel kommen, deshalb muss man eine ernsthafte Abnahme des Zustroms erreichen, indem man weiterhin Wohlstand schafft. Wir werden unsere Ziele auch nicht ohne Veränderung des Lebenswandels erreichen. Vor dieser Wahrheit haben unsere Gesellschaften allerdings Angst. Sie treten lieber die Flucht nach vorn an in die Technologie. Das ist der heikle Punkt der nachhaltigen Entwicklung.

FRAGE: Aber wie schaffen wir es, unseren Lebenswandel so umzustellen, wie Sie es sich wünschen?

DOMINIQUE BOURG: Eine nachhaltige Entwicklung ist nur möglich, wenn man an die ethischen Grundlagen geht. Bis jetzt lautete die "goldene Regel": Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem Anderen zu. Diese Ethik der Nähe, die früher ausreichte, ist der heutigen Welt nicht angepasst. Sie berücksichtigt weder die künftigen Generationen noch die geografisch weit entfernt lebende Menschheit. Jedes Mal, wenn ich heute in mein Auto steige, beeinflusse ich das Ökosystem sowie die Menschen, die räumlich und zeitlich weit von mir entfernt sind.

Diese neue Art der Ethik hat politische Folgen. Unsere Gesellschaft stützt sich auf die Perspektive des Kontraktualismus. Nach Hobbes und Locke organisiert diese unsere Gesellschaft so, dass jeder seine Interessen verfolgen kann. Unter diesem Aspekt war das Hauptziel, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren. So darf man heute aber nicht mehr denken. Die liberale Gesellschaftsorganisation und die Verwaltung der ökologischen Gemeingüter laufen in entgegengesetzte Richtungen. Man muss neue ökonomische Regulierungsmöglichkeiten und neue Strategien entwickeln.

FRAGE: Wie könnte diese neue Ethik konkret aussehen?

DOMINIQUE BOURG: Ich gebe ein Beispiel: Durch die Kohlenstoffsteuer, die ich allen Einwänden zum Trotz befürworte, würden die Emissionen über den Preis, also über den Markt, geregelt. Die Idee ist einfach: die Autofahrer würden ihre Fahrten verringern, weil sie zu teuer wären. Das würde aber noch nicht ausreichen: Zugegebenermaßen würden einige Aspekte unseres Lebenswandels am Ende "kriminalisiert" oder, um mich weniger dramatisch auszudrücken, könnten als schwere Verfehlungen betrachtet werden. Schließlich regelt man einen Mord nicht über den Markt, man verbietet ihn per Gesetz. Die Rolle des Marktes ist es, ökonomische Anreize zu schaffen. Das ist der Preis, den man zahlen muss, um die neuen, ethischen Werte zu schaffen, die die Weltbevölkerung so nötig braucht.

FRAGE: Ist jetzt die Zeit für radikale Maßnahmen gekommen?

DOMINIQUE BOURG: Für eine Reaktion bleiben uns nur noch zehn oder fünfzehn Jahre. Die Klimaprozesse laufen sehr langsam ab und sind unwiderruflich. Das CO2, das wir jeden Tag ausstoßen, bleibt in der Atmosphäre und wird das Klima jahrhundertelang erwärmen. Wenn wir den Ozean erwärmen, braucht er Jahrtausende, um seinen Urzustand wiederzuerlangen. Und die Schäden, die wir der Artenvielfalt zufügen, werden die Lebewesen für Millionen Jahre schwächen. Das ist ein hoher Preis für das Autofahren während eines Jahrhunderts.

FRAGE: Glauben Sie, dass der Wohlstand aus der aktuellen Krise herausführen kann?

DOMINIQUE BOURG: Auf gewisse Weise kann sich diese Konfrontation mit den Grenzen des Planeten als außergewöhnliche Chance herausstellen. Unsere Zivilisation zerstört sich selbst, weil sie glaubt, alle Grenzen auf jedem Gebiet überschreiten zu können. Wir haben alle Regeln der Kunst durchbrochen, haben totalitäre Regime hervorgebracht, haben gezeigt, dass es weder physische Grenzen - wie es der moderne Sport zeigt - noch ethische Grenzen, z. B. das Klonen, gibt. Der Konsum ist ausgeufert und natürliche Grenzen haben wir schon längst überschritten. Wir sind besessen: wir wollen mehr und noch mehr. Die gesamte Neuzeit verrennt sich auf irgendeine Weise in den Gedanken, den Platz ihres Schöpfers einnehmen zu wollen. Und schließlich stehen wir vor einem Phänomen, das uns den Sinn wiederfinden lässt und den Sinn des Sinns. Hoffentlich verpassen wir die Gelegenheit nicht.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Naturwissenschaften -> Klima
FORSCHUNG/182: Hilft Geoengineering? (research*eu)
Link: www.schattenblick.de/infopool/natur/klima/nkfor182.html


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Dominique Bourg - "Unsere Zivilisation zerstört sich selbst, weil sie glaubt, alle Grenzen auf jedem Gebiet überschreiten zu können."

> "Es gibt keinen Flecken auf dem Planeten, wo die Leute nicht wissen, wie gut man mit Wohlstand lebt."
Jean-Paul Chassany/INRA

> "Wenn man auch vielleicht ein lokales Ökosystem wiederherstellen kann, so ist doch niemand in der Lage, die gesamte Biosphäre zu sanieren."
Michel Meuret/INRA


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Quelle:
research*eu Nr. 52 - Juni 2007, Seite 16-17
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2007
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2007