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ETHIK/021: Eigene Einflußmöglichkeiten nicht zu stark einsetzen (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 16 vom 15. Oktober 2008

Eigene Einflussmöglichkeiten nicht zu stark einsetzen

Interview mit Prof. Bernhard Irrgang von Mathias Bäumel


TUD-Experten befragt: Gutachten und Studien ethisch gesehen - mit dem Wissenschafts- und Technikethiker und Philosophen Prof. Bernhard Irrgang im Gespräch


In der jüngeren Vergangenheit machten verschiedene Studien und Gutachten von sich reden, so beispielsweise eine Chemnitzer Studie zur Hartz-IV-Problematik, ein Aachener Visualisierungsgutachten zur Waldschlösschenbrücke oder eine Studie Dresdner Soziologen zur Tunnelproblematik am Waldschlösschen. Bei vielen Bürgern entstand bei solchen und ähnlichen Studien der Eindruck, Studien seien eher ideologie- denn wissensgesteuert. Im Alltagsdenken unterscheiden wir - auf Max Weber zurückgehend - zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik. Der Verantwortungsethiker als - beispielsweise - Gegner der Walschlösschenbrücke würde auch unzulässige oder unmoralische Mittel anwenden, um die bei ihm negativ bewertete Brücke zu verhindern und damit seiner Verantwortung für das Gute und Richtige gerecht zu werden. Ein Gesinnungsethiker als Brückengegner würde niemals zu unlauteren Mitteln greifen, auch wenn er durch seine Beschränkung des eigenen Handelns das aus seiner Sicht Böse und Negative möglicherweise nicht verhindern kann. Zum Problem der Ethik in der Wissenschaft speziell bei Gutachten und Studien befragte UJ den Wissenschafts- und Technikethiker und Philosophen Professor Bernhard Irrgang.


UJ: Wann darf ein Wissenschaftler Verantwortungsethiker sein? Oder ist der Wissenschaftler von vornherein Gesinnungsethiker?

PROF. BERNHARD IRRGANG: Die Unterscheidung in Gesinnungsethik und Verantwortungsethik von Max Weber ist zwar traditionell, aber heute eher überholt, denn moderne Verantwortungsethiker verbinden Verpflichtungsethik mit Folgenabschätzung. Wenn Wissenschaftler sich in der öffentlichen Diskussion zu Wort melden, sollte berücksichtigt werden, dass sie Experten nur auf ihrem eigenen Gebiet sind. Oft äußern sich Wissenschaftler (und Politiker) auch zu ethischen Fragen, ohne speziell dafür berufen zu sein. Da Gesinnungsethik bisweilen entartet - zum Beispiel zur Diktatur des Guten -, empfiehlt sich nicht nur für Wissenschaftler Verantwortungsethik. Da aber Wissenschaftler in der Regel keine Ethiker sind, sollten sie mit ethischen Urteilen vorsichtig umgehen, also keineswegs kategorisch urteilen. Im Übrigen darf - im Unterschied zum auch hier in der Einleitung formulierten Verhaltensmuster - weder der Gesinnungs- noch der Verantwortungsethiker unmoralische Mittel anwenden, wobei dem Verantwortungsethiker mehr Handlungsspielraum bleibt als dem Gesinnungsethiker.

UJ: Inwiefern dürfen Wissenschaftler, die sich für die Verhinderung von Negativem oder für die Durchsetzung von Positivem verantwortlich fühlen, die Stimmung in der Öffentlichkeit mit eigenen, wissenschaftlich scheinenden Studien beeinflussen, um ihre außerwissenschaftlichen (zum Beispiel politischen) Ziele zu befördern?

PROF. IRRGANG: Gebot der Wahrhaftigkeit ist, wissenschaftliche Aussagen und politische (oder ethische) Handlungsempfehlungen strikt zu unterscheiden. Ein Nobelpreisträger hat z.B. in der Brückenfrage kaum mehr Kompetenz als jeder andere Bürger, auch wenn er vermutlich mehr Gehör finden wird. Es gehört also zum Ethos des Wissenschaftlers, eigene Einflussmöglichkeiten nicht zu stark einzusetzen. Außerdem sollte ein Wissenschaftler besser wissen als andere Menschen, wie begrenzt und unsicher menschliches Wissen ist.

UJ: Bezogen auf die weiter oben angeführten und weitere ähnliche Studien, die in der Öffentlichkeit teils sogar zu empörten Reaktionen führten: Wo liegen die Grenzen solcher Studien? Welche Möglichkeit hat der Bürger, solche Publikationen adäquat zu bewerten?

PROF. IRRGANG: Gutachten jedweder Art stehen in bestimmten Kontexten. Kein Gutachten kann voraussetzungslos erstellt werden. Falls diese Kontexte nicht mit kommuniziert werden, entstehen leicht Missverständnisse. So werden die Ziele solcher Studien in der Öffentlichkeit oft falsch oder stark verkürzt zitiert und diskutiert. Andererseits sollten solche Gutachten nicht zu schlaglichtartige oder gar populistische Handlungsempfehlungen formulieren. Das Beste in diesem Zusammenhang ist, sich den gesunden Menschenverstand zu erhalten, nicht zuviel Ehrfurcht vor der Wissenschaft zu zeigen und ein angemessenes eigenes Urteil zu fällen.

UJ: Verfasser von Studien und Gutachten werden als Experten angesehen. Was können, was dürfen Experten und was nicht?

PROF. IRRGANG: Expertisen im Singular, erstellt von nur einem "Experten", gibt es eigentlich nicht. Expertisen sind das Ergebnis interdisziplinärer Arbeitsgruppen, die häufig längere Zeit zu einem Thema zusammengearbeitet haben, wobei gruppeninterner Streit durchaus erwünscht ist. In der Regel wird für jedes Thema eine eigene Gruppe mit spezifisch ausgewählten Mitgliedern berufen, von Universitäten, Stiftungen oder Akademien. Wissenschaftler oder Experten sollten nicht durch ihr Geltungsbedürfnis, sondern durch ihr Bemühen um Sachgerechtigkeit auffallen.

UJ: Kernpunkt der öffentlichen Kritik - auch an den erwähnten Studien und Gutachten - ist nicht selten, dass entweder die betreffenden Herangehensweisen schon vom allgemeinen Menschenverstand her zu falschen Ergebnissen führen müssten oder dass die Fragestellungen tendenziös und unrealistisch seien. Glaubt man den Kritikern, scheint das für die Verfasser eher eine ethische Frage oder eine der Sachkunde zu sein?

PROF. IRRGANG: Für Expertisen insbesondere im Bereich Technikfolgenabschätzung, wo naturwissenschaftliche, technische, sozialwissenschaftliche, kulturelle und politische Gesichtspunkte oft zugleich eine Rolle spielen, gibt es keine einheitliche Methode. Einen Gegensatz zwischen Sachkunde und Ethik kann ich nicht sehen: Auch ethische Fragen müssen sachkundig bearbeitet werden.

UJ: Welche Rolle spielen die Medien bei der Publizierung solcher wissenschaftlicher Studienergebnisse? Wiegt die Stimme eines berühmten Künstlers oder eines bekannten Wissenschaftlers in Sachen gesellschaftlicher Zieldiskussionen mehr als die eines öffentlich unbekannten Bürgers - nur wegen des herausgehobenen Berufes oder wegen des Bekanntheitsgrades?

PROF. IRRGANG: Medien publizieren alles, was interessant ist. Der Unterhaltungswert steht oft über der Qualität der Information. Wissenschaft und Technik sind schwierige Sachverhalte für alle Arten von Journalismus und interessieren nicht alle Bürger, obwohl das Interesse ansteigt und dies in einer Gesellschaft auch sollte, deren Wohlergehen immer mehr von Technologie abhängt. Oft sind die Ergebnisse von Expertisen nüchtern, gerade wenn sie professionell gemacht sind. Also ist für die Medien die Versuchung nicht von der Hand zu weisen, die Ergebnisse von Expertisen etwas aufzupeppen und zu verzerren.


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Kurzvita Prof. Bernhard Irrgang

Prof. Dr. phil. habil. Dr. theol. Bernhard Irrgang, geboren 1953, Professor für Technikphilosophie an der TU Dresden seit 1993; Studium der Philosophie, katholischen Theologie, Germanistik und Indologie an der Universität Würzburg 73/82, der kath. Theologie und Philosophie in Passau und München 83/86, Promotion in Theologie (Würzburg) 1991, 1996 Habilitation in Philosophie in Bamberg


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 19. Jg., Nr. 16 vom 15.10.2008, S. 5
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2008