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ETHIK/022: Thomas Pogge - Gerechtigkeit in der Einen Welt (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009

Gerechtigkeit in der Einen Welt

Von Thomas Pogge


Der John Rawls-Schüler und einer der renommiertesten Gerechtigkeitsphilosophen Thomas Pogge hielt auf der jüngsten Tagung "Philosophy meets Politics" des Kulturforums der Sozialdemokratie den Einführungsvortrag. Der folgende Text präsentiert seine Leitgedanken.


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In den letzten Jahren ist das Wohlstandsgefälle trotz der Millennium-Entwicklungsziele größer geworden. Das globale Durchschnittseinkommen steigt zwar an, aber ebenso die Anzahl der Armen. Dies wirft Fragen der Gerechtigkeit auf, die auch deshalb so akut sind, weil viele der Wohlhabenden sich keinerlei Verantwortung für die Beseitigung der Armut zuschreiben.

Der Gerechtigkeitsbegriff lässt sich philosophisch als vierstelliges Prädikat analysieren:

Erstens: Was sind die Subjekte der Gerechtigkeit, was kann entweder gerecht oder ungerecht sein? Dafür gibt es verschiedene Kandidaten: Weltzustände, Akteure, Handlungen, soziale Regeln und auch organisierte Sozialsysteme, wie z.B. ein Staat, der sowohl hinsichtlich seiner internen Organisation als auch hinsichtlich seines internationalen Handelns moralisch bewertet werden kann. Über die Ungerechtigkeit von Weltzuständen zu reden, ist oft unfruchtbar, weil dabei meistens offenbleibt, wer Verantwortung trägt, solche Ungerechtigkeit zu beseitigen. Meine Arbeit konzentriert sich auf die Gerechtigkeit sozialer Regeln, bei denen solche Fragen zur Verantwortung besser in den Blick kommen.

Zweitens: Wer sind die Betroffenen? Wem widerfährt Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit? Dies sind in erster Linie einzelne Menschen, die die Auswirkungen am eigenen Leibe zu spüren bekommen.

Drittens: Hinsichtlich welcher Güter oder Lasten erfahren die Betroffenen Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit? Hier sind ökonomische Güter von Wichtigkeit - wie etwa Nahrungsmittel und Wasser -, die Menschen brauchen, um ihre Grundbedürfnisse abdecken zu können.

Viertens: Wer ist dafür verantwortlich, dass bestimmte Güter und Lasten ungerecht verteilt sind? Hier sollte man fragen, ob die globalen Regeln, die durch die WTO und andere Organisationen herausgebildet wurden, gerecht sind und insbesondere, ob sie die Menschenrechte erfüllen.

Die Menschenrechte sind der weltweit anerkannteste Katalog von Grundbedürfnissen, die für jeden Einzelnen gesichert werden müssen. Schon 1948, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wird klar gesagt, dass diese Rechte auch moralische Ansprüche an soziale Regeln einschließen: "Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können." Dieser Artikel 28 sagt etwas darüber aus, wie alle Menschenrechte zu interpretieren sind, nämlich nicht nur als Ansprüche gegen Akteure, sondern auch als Ansprüche an die Regeln, die nationale oder internationale Sozialsysteme organisieren. Wir haben also unsere internationale Ordnung menschenrechtskonform zu gestalten.


Menschenrechtsdefizite

Von seiner Verwirklichung am weitesten entfernt ist heute das Menschenrecht auf einen minimalen Lebensstandard. Dazu gehören: minimale Gesundheitsvorsorge, Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztliche Versorgung (Artikel 25). Wenn wir die Allgemeine Menschenrechtserklärung als eine minimale Gerechtigkeitstheorie zugrunde legen, müssen wir feststellen, dass unsere internationale Ordnung möglicherweise sehr ungerecht ist und im Hinblick auf bessere Erfüllung der Menschenrechte reformiert werden sollte.

Es gibt heute ungefähr 6,7 Milliarden Menschen auf der Welt. Von denen sind knapp eine Milliarde unterernährt. Seit dem 1. Januar 2006 haben sich die Nahrungsmittelpreise in vielen Entwicklungsländern verdoppelt, wodurch die Unterernährung stark zugenommen hat. Unter anderem hat die Förderung von Biotreibstoffen die Preise für Nahrungsmittel in die Höhe getrieben. Aber auch hinsichtlich anderer Grundbedürfnisse gibt es ganz erhebliche Deprivationen: beim Zugang zum Trinkwasser, bei minimaler medizinischer Versorgung, Obdachlosigkeit, dem Fehlen elektrischen Stroms, bei Analphabetismus und der Lohnarbeit von Kindern. Pro Jahr sterben ungefähr 57 Millionen Menschen. Davon sind gut 30% - etwa 18 Millionen - armutsbedingte Todesfälle. Seit Ende des Kalten Krieges starben mehr als 300 Millionen Menschen armutsbedingt. Das ist mehr als die Gesamtzahl all derer, nämlich 200 Millionen, die durch Gewalteinwirkung von Regierungen im ganzen 20. Jahrhundert ums Leben gekommen sind.

In reichen Ländern werden diese riesigen armutsbedingten Menschenrechtsdefizite oft allein unter dem Thema Entwicklungshilfe diskutiert: Tun wir genug? Ich betone dagegen nachdrücklich eine andere Sichtweise: Wir sind aktiv mitverantwortlich für das Armutsproblem, weil wir bei der Aufrechterhaltung von ungerechten Institutionen mitwirken, die vorhersehbar ein Fortbestehen massiver Armut zur Folge haben. Die reichen Länder leisten nicht nur zu wenig Hilfe, sondern tragen auch viel zu viel zum Fortbestand der Weltarmut bei.

Man kann eine institutionelle Ordnung menschenrechtsverletzend nennen, wenn folgende vier Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss es natürlich ein Menschenrechtsdefizit geben. Zweitens muss dieses Defizit durch ein alternatives Design derselben institutionellen Ordnung vermeidbar sein. Drittens muss die Korrelation zwischen dem Aufrechterhalten der bestehenden Ordnung und dem Fortbestehen der Menschenrechtsdefizite vorhersehbar sein. Und viertens muss es auch vorhersehbar sein, dass dieses alternative Design der institutionellen Ordnung zu einer erheblichen Verringerung jenes Menschenrechtsdefizits führen würde. Wenn eine institutionelle Ordnung in dieser Weise menschenrechtsverletzend ist, dann trifft die Verantwortung dafür diejenigen, die an der Ausarbeitung und Durchsetzung dieser institutionellen Ordnung mitwirken. Sie trifft unsere und andere mächtige Regierungen, die das Welthandelssystem und andere internationale Regelungen aushandeln und deshalb für deren Auswirkungen verantwortlich sind.

Das bedeutet also, dass die armutsbedingten Todesfälle und Deprivationen heute mehrheitlich auf ungerechte institutionelle Strukturen zurückgehen, für die wir - Bürger wohlhabender Staaten - mitverantwortlich sind. Wir tragen dazu bei, den armen Menschen dieser Welt eine internationale Ordnung aufzubürden, unter der die Menschenrechte vieler nicht erfüllt sind.


These von der lokalen Verantwortung

Nun gibt es ein sehr bekanntes und populäres Gegenargument gegen diese These: Ihm zufolge sind die Menschenrechtsdefizite nicht auf internationale Regeln, sondern ausschließlich auf lokale Umstände zurückzuführen, etwa auf die geografische Lage, das Klima oder die schlechten Herrschaftsstrukturen vieler Entwicklungsländer. Dieses Gegenargument stützt sich auf folgenden Gedanken: Trotz der bestehenden internationalen Regeln haben einige ehemals unterentwickelte Länder (Korea, China, Taiwan und Hongkong z.B.) im Gegensatz zu anderen (etwa Angola, Nigeria, Simbabwe oder dem Kongo) Armut beseitigen können, was für eine rein lokale Verursachung derselben spricht.

Gegen dieses Argument möchte ich einwenden: Die nationalen und regionalen Faktoren sind in keinem Fall unwichtig, aber globale Faktoren spielen eine ebenso große Rolle bei der Erklärung des Andauerns dieser Menschenrechtsdefizite.

In diesem Zusammenhang sind insbesondere drei globale Faktoren zu nennen: Zum einen der Protektionismus. Den Entwicklungsländern wurde Mitte der 90er Jahre eine Marktöffnung versprochen. Bis heute haben sie aber viel weniger Zugang zu unseren Märkten erhalten als zunächst zugesagt. Es gibt noch immer Zölle, Antidumping-Duties und jede Menge künstlich subventionierte Waren, die die Exportmöglichkeiten der armen Länder unterminieren. Zweitens besteht das so genannte TRIPS Agreement (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights). Dieses setzt fest, dass alle WTO-Mitglieder ein sehr striktes Patentrecht einführen müssen, das insbesondere für Medikamente gilt. Für die armen Länder ist es seit dem 1. Januar 2005 in Kraft. Für die allerärmsten Länder wird es am 1. Januar 2016 in Kraft treten. Dadurch werden billige generische Versionen patentierter Medikamente aus dem Verkehr gezogen. Dies führt dazu, dass sich sehr viele Menschen solche neuen Medikamente - z.B. second-line AIDS-Präparate - nicht leisten können und in Folge dessen an Krankheiten leiden oder sogar sterben, die man relativ billig vermeiden, heilen oder zumindest lindern könnte. Ein dritter Punkt ist, dass wir illegitimen Regierungen dadurch Vorschub leisten, dass wir sie als legitim anerkennen. So erlauben wir diesen Regierungen, bei uns Kredite aufzunehmen, für deren Rückzahlung wir dann das ganze Land verantwortlich machen. Sie dürfen zudem frei über die (eigentlich dem Volk zustehenden) Rohstoffe des Landes verfügen und sich von uns für Verkäufe derselben bezahlen lassen. Sie dürfen Verträge mit uns abschließen, an die dann das ganze Volk gebunden ist, und sie dürfen von uns Waffen importieren, mit Hilfe derer sie sich gewaltsam an der Macht halten können. Wieder ist es eine globale Regel, die mit diesen vier Privilegien politische Unterdrückung produziert. Diese Regel ist gut für die Industrieländer, die aus Entwicklungsländern Rohstoffe importieren können, egal, wer dort an der Macht ist. Sie ist gut für Gewaltherrscher in Entwicklungsländern, denen sie einen beständigen Geldfluss für die Dauer ihrer Herrschaft garantiert. Für die Menschen dieser Länder jedoch ist jene Regel katastrophal, weil sie zu illegitimer Machtübernahme anreizt und Gewaltherrschern die finanziellen und militärischen Mittel zum Machterhalt verschafft.

Sind die Bevölkerungen vieler afrikanischer Staaten wirklich selbst schuld daran, dass sie von brutalen Diktatoren beherrscht werden? Oder sind vielmehr wir diejenigen, die ihre Unterdrücker durch das Zugeständnis der genannten vier Privilegien zu Putschversuchen animieren und dann mit Geld und Waffen unterstützen?


Der Zynismus statistischer Kosmetik

Es wird oft davon gesprochen, dass die Globalisierung den Armen helfe. Mit den Millennium-Entwicklungszielen hat man sich vorgenommen, die Armut bis 2015 zu halbieren. Sprach man aber beim Welternährungsgipfel in Rom 1996 noch davon, die Anzahl der Armen zu halbieren, so sprechen die Vereinten Nationen heute nur noch vom Halbieren des Anteils der Armen an den Bevölkerungen der Entwicklungsländer. Außerdem haben die Vereinten Nationen den Anfang des Armutsabbaus auf das Jahr 1990 zurückverlegt.

Da die Bevölkerung der Entwicklungsländer über diesen Zeitraum von 25 Jahren (1990-2015) um 45% wächst, bringt diese Reinterpretation den Zahlen nach eine ganz erhebliche Erleichterung bei der Armutsbeseitigung mit sich. Bei einer Anteilsrechnung genügt es nämlich nun, die Anzahl der Armen um 27,5% zu reduzieren, um das gewünschte Ergebnis einer Halbierung zu erreichen. Hinzu kommt, dass die Weltbank die Armutsgrenze so niedrig ansetzt, dass die Armutsentwicklung positiv erscheint. Wenn man die Armutsgrenze, wie die Weltbank es heute tut, bei 1,25 Dollar (Kaufkraft 2005) ansetzt, dann ist die Anzahl der Armen 1990-2005 immerhin schon um 23% gesunken.

Hätte die Weltbank stattdessen eine vernünftigere Armutsgrenze von 2 Dollar gewählt, dann würde sie im selben Zeitraum ein Absinken der Armut um nur 5,7% verzeichnen. Die Erreichung des ersten Millenniumziels hängt also entscheidend davon ab, dass man die Armutsgrenze möglichst niedrig ansetzt.

Zur Abdeckung der in den Menschenrechten eingeschlossenen Grundbedürfnisse braucht ein Mensch allerdings mehr als das Kaufkraftäquivalent von 1,25 Dollar pro Tag. Und eine solche höhere Armutsgrenze ist auch unserem Weltwirtschaftsniveau angemessen: Es leben heute 2,6 Milliarden Menschen von weniger als 2 Dollar pro Tag. Das sind ca. 40% der Weltbevölkerung. Dennoch beträgt deren Gesamtanteil am Welteinkommen nur gerade einmal 0,9%.

Hier zeigt sich ein unglaubliches Missverhältnis zwischen der menschlichen und der ökonomischen Größe des Weltarmutsproblems. Obwohl unvorstellbar viele Menschen an extremer Armut leiden und sterben, fehlt ihnen insgesamt kaum mehr Geld als die reichen Länder für Agrarsubventionen oder für die Sanierung des Irak und unseres Bankensystems ausgeben.

Warum gibt es in einer Welt, deren ansehnliches Durchschnittseinkommen immer weiter ansteigt, immer noch so furchtbar viel bittere Armut? Zur Beantwortung dieser Frage muss man auf nationale und auch auf globale Faktoren rekurrieren. Wie oben dargestellt, üben globale institutionelle Strukturen einen starken Einfluss auf viele der relevanten nationalen Faktoren aus. Entweder direkt, wie im Fall der überteuerten Medikamente und des Protektionismus, oder indirekt, wie im Fall der Privilegien für illegitime Herrscher in den Entwicklungsländern.

Die Verantwortung für die Ausformung und Durchsetzung dieser globalen institutionellen Ordnung liegt bei den mächtigeren Industrieländern - und damit letztlich auch bei uns Bürgern, die wir für die Politik unserer Regierung verantwortlich sind.


Thomas Pogge (* 1953) ist Professor für politische Philosophie und Ethik an der Yale University. Bei De Gruyter erschien 2007: Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen.
thomas.pogge@yale.edu


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009, S. 13-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2009