Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → PHILOSOPHIE

ETHIK/026: Den Menschen verbessern? (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 5/13 - Mai 2013

Essay
Den Menschen verbessern?

Von Ludwig Siep



Ob wir versuchen sollten, uns selbst körperlich und geistig zu optimieren, wird seit Langem kritisch diskutiert. Unbestritten ist, dass die medizinischen und biotechnologischen Möglichkeiten dafür inzwischen enorm gewachsen sind. Doch wollen wir den »neuen Menschen« überhaupt?


AUF EINEN BLICK

Perfektion und Transhumanismus

1. In Medizin, Biotechnik und Evolutionstheorie, aber auch in politischen Debatten wird immer häufiger die Verbesserung des menschlichen Körpers sowie kognitiver Funktionen als notwendiges oder lohnendes Ziel diskutiert.

2. Der Autor plädiert dafür, Verbesserungen nicht an allgemeinen Leistungsskalen für Maschinen oder nichtmenschlichen Lebewesen zu bemessen, sondern nach dem, was nur Menschen als kulturelle Wesen können. Um Freude am eigenen Können zu empfinden, braucht es keine grundsätzliche technische Leistungssteigerung des Körpers.

3. Es sollten die sozialen und institutionellen Bedingungen verbessert werden, damit Menschen die passenden Kompetenzen erwerben - und soziale Tugenden wie Gewaltlosigkeit und wechselseitige Anerkennung entwickeln können.

*

Der Mensch bedarf dringend der Verbesserung - sagen so genannte Transhumanisten. Sie wollen ihm so rasch wie möglich zu völlig neuen Eigenschaften verhelfen. Technologische Hilfsmittel sollen seine Fähigkeiten in Bereiche erweitern, die wir bisher nur von leistungsstarken Maschinen oder von anderen Lebewesen kennen, wie etwa beim Infrarotsehen oder Ultraschallhören.

Genetik und Biotechnologie haben längst Wege eröffnet, die menschliche Reproduktion zu optimieren. Dazu gehören Klonierungstechniken, Selektion bei der künstlichen Befruchtung sowie genetische Verbesserungen des Nachwuchses. Auch eine Lebensverlängerung scheint dank der regenerativen Medizin weit über das bisher Übliche hinaus machbar: etwa mittels Transplantationen, auch von Tierorganen (»Xenotransplantationen«), oder Stammzelltherapien etwa bei Krebserkrankungen.

Noch radikaler sind Visionen der Abschaltung von Genen, die für den Zelltod oder andere degenerative Prozesse verantwortlich sind. Die Medizin verspricht zudem über die Therapie hinaus Steigerungen im Rahmen des so genannten Neuro- und Psycho-Enhancements, und zwar mit Hilfe von Eingriffen ins Gehirn, Implantaten und Pharmaka. Die Bewegung des »quantifying self« peilt die vollständige Kontrolle aller bisher unbewussten Körperfunktionen an. Das Ziel sind Menschen, die ständig und akribisch die eigenen Körperfunktionen kontrollieren. Und schließlich arbeitet die synthetische Biologie an neuen Bausteinen des Lebens (»biobricks«), die auch bei uns Anwendung finden könnten.

Brauchen wir überhaupt einen »neuen Menschen«? Und falls ja: Was gewinnen wir dabei? Was riskieren wir? Das sind Fragen, die nicht nur in den Labors von Wissenschaftlern und Ingenieuren erörtert werden sollten, sondern in aller Öffentlichkeit. Sie stellen sich auch für die Philosophie. Denn kaum eine andere Disziplin ringt wie diese seit Jahrtausenden mit dem Problem, was gute Handlungen und gute Menschen ausmacht. Also fragen Philosophen: Was gilt heute als Verbesserung? Und welche davon sind gut?

Menschen träumen schon seit alters davon, ihre Fähigkeiten zu verbessern. Immer wieder gab es auch Bestrebungen, sich gleich ganz neu zu erschaffen. Heute scheint die Verwirklichung dieses Traums näher zu rücken. Das hat verschiedene Gründe, vor allem wegen der neuen Möglichkeiten, den menschlichen Körper durch Bio- oder Informationstechnologie technisch zu verändern. Verstärkt wird das Wunschbild durch Vorbilder für übermenschliche Leistungen in Form von Maschinen, etwa Computern. Schließlich leiten viele auch aus der Evolutionstheorie die Notwendigkeit ab, den Menschen für schwieriger werdende Überlebensbedingungen fitter zu machen.

In vortechnischen Zeiten war der bessere Mensch einer, der durch große Taten und die Steigerung seiner moralischen Fähigkeiten - wie Tapferkeit oder Gerechtigkeit - in den Rang von Heroen, Halbgöttern oder Heiligen aufstieg. Dazu verhelfen konnten ihm außer der Gunst der Götter auch körperliches Training, strenge Askese und geistige Übung. Bei antiken sportlichen Helden war sicher auch immer schon »Doping« im Spiel.

Eine dauerhafte gezielte Körperveränderung lag für die Menschen der Antike außer Reichweite - daran kann man erst seit Entstehen der modernen Wissenschaft und Technik denken. Denn nur sie waren dazu in der Lage, Naturprozesse gesetzmäßig und experimentell nachprüfbar zu erklären. Damit ließen sich dann auch natürliche Funktionen systematisch verbessern sowie Geräte herstellen, die gemäß naturwissenschaftlichen Gesetzen ihren Zweck erfüllen. Dieses Stadium ist in Europa mit dem 17. Jahrhundert erreicht, wenn auch zunächst in rudimentärer Form. Entsprechend entstanden in dieser Zeit auch die ersten Konzepte zur Naturbeherrschung, einschließlich der Steigerung menschlicher Körperfunktionen sowie der Veränderung von Pflanzen und Tieren. Paradigmatisch schildert das etwa der Philosoph Francis Bacon in seiner Gesellschaftsutopie der »Nova Atlantis« aus dem Jahr 1627.


Der »neue Mensch«, eine Utopie des 18. Jahrhunderts

Mit dem Beginn der empirischen Sozialwissenschaften in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts tritt ein Projekt hinzu: die Schaffung einer perfekten Gesellschaftsordnung, die alle Mittel zur Steigerung menschlicher Fähigkeiten mobilisiert. Der »neue Mensch« ist ein Ziel, das in den Sozialutopien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit revolutionärer oder staatlicher Gewalt verfolgt wird. Nach heute dominierender Auffassung ist es grandios gescheitert. Denn das utopische Projekt opferte die Freiheiten und erreichbaren Fortschritte der Lebensbedingungen einem Ziel, das die moralischen und natürlichen Fähigkeiten der Menschen überforderte. Es übersah, dass die Menschen zumeist ganz unterschiedliche Auffassungen über das haben, was »gut« oder »besser« ist.

In der gleichen Gefahr befinden sich auch gegenwärtige Projekte zur Verbesserung des Menschen. Denn Bioingenieure behaupten ebenfalls, mit rein technischen Maßstäben über »gut« und »besser« entscheiden zu können. Schließlich weiß doch jeder, was ein fortschrittlicheres Auto, Flugzeug, Handy oder ein schnellerer PC ist. Allerdings entpuppt sich selbst das schon als fragwürdige Unterstellung. Es unterscheiden sich nicht nur die ästhetischen Vorstellungen. Je nach Generation und Begabung sind auch Leistungssteigerungen von Geräten für die einen wünschenswert, für andere - etwa Ältere - dagegen weit gehend überflüssig oder gar überfordernd. Ob sich solche Ziele durch Staat oder Markt demokratisch beurteilen lassen, ist unklar. Und die Kaufkraft ist keineswegs ein so egalitäres und demokratisches Mittel wie das Wahlrecht.

So bleibt die Grundfrage: Was ist ein »besserer Mensch«? Unter welchen Bedingungen ist er wünschenswert? Und wann ist seine »Züchtung« vielleicht sogar geboten?

Traditionelle philosophische Begriffe von der menschlichen Güte versuchen, vom Besonderen aufs Allgemeine zu schließen: Wir alle wissen, was ein guter Arzt oder ein gutes Messer ist - nämlich Personen oder Gegenstände, die das möglichst perfekt erfüllen, was gemäß ihren besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften von ihnen erwartet wird. Kann man das auf Menschen übertragen? Wohl nur dann, wenn sie Fähigkeiten haben, die andere Lebewesen, Gegenstände oder Werkzeuge nicht oder nur in weitaus geringerem Maß besitzen.

Eine solche Qualität gibt es - die Vernunft. Was sie ist und wann sie sich jemandem zuschreiben lässt, darüber gibt es geteilte Meinungen. Übereinstimmend gilt Vernunft als Fähigkeit, Affekte zu beherrschen, Begriffe und Regeln zu bilden, sich sprachlich mit gleich gearteten Wesen zu verständigen. Philosophen und Theologen liefern weitere Vernunftbegriffe:

  • Für die immanente Auffassung ist die Vernunft eine Art Moderations- und Integrationsfähigkeit der körperlichen und psychischen Kräfte des Menschen und seines Zusammenlebens mit anderen.
  • Die transzendente Strömung sieht Vernunft dagegen als etwas vom menschlichen Körper Unabhängiges, das wir mit übermenschlichen und außerirdischen Wesen gemeinsam haben - etwa mit Göttern.

Im ersteren Fall sind die menschlichen Antriebskräfte alle »potenziell vernünftig«, und es kommt auf ihre interne Kultivierung an. Im zweiten Fall muss sich der Mensch von den Banden des sterblichen Körpers so weit wie möglich lösen und seiner überirdischen »Heimat« zustreben. Das kann zu einem Transhumanismus der Askese oder des Märtyrertums führen, aber auch zu milderen Formen der Ablösung vom Diesseitigen - etwa durch die moralische Nachahmung von Vorbildern wie Helden, Heiligen oder Mensch gewordenen Göttern.

Moderne Formen des Transhumanismus haben mit solchen Vorstellungen des Übermenschlichen insofern wenig zu tun, als es ihnen um eine technische Verbesserung natürlicher Leistungen geht. Dem Streben nach dem Göttlichen ähnelt aber das Ziel der Überwindung menschlicher Schwächen und Grenzen: weniger Krankheiten, Schmerzen, Frustrationen sowie ein möglichst langes Leben.

Wichtiger als eine solche Ähnlichkeit mit der transzendenten Strömung ist das Verhältnis der modernen Verbesserungsbemühungen zur Tradition der immanenten Vernunft. Nach dieser Tradition ist jener Mensch tugendhaft und glücklich, der seine Fähigkeiten und Kräfte mit Vernunft moderiert und entwickelt. Tugend ist ein im Moralismus des 19. Jahrhunderts sozusagen verdorbener Begriff - erinnert er doch an sexuelle Enthaltsamkeit und Prüderie. Ursprünglich bezeichnete Tugend dagegen alle entwickelten menschlichen Fähigkeiten, einschließlich der körperlichen Fitness, der angenehmen Umgangsformen sowie der Perfektion des Verstandes in der Wissenschaft.

Ein Tugendhafter ist ein guter Sozialpartner und mit sich selbst im Lot. Das bedeutet: nicht zerrissen sein, sich nicht selbst dauernd Vorwürfe machen, nicht allzu viel bereuen müssen - nach Aristoteles die wichtigsten Voraussetzungen für Glück. Zudem sollte man Glück haben im Sinne günstiger Umstände und Zufälle. Die lassen Freunde finden, bewahren uns vor Unfällen und bieten Chancen, unsere besonderen Fähigkeiten und Interessen zu verwirklichen.

Das setzt wiederum eine gute Sozialordnung voraus, an der prinzipiell alle Menschen teilhaben können. Zu vernünftiger öffentlicher Rede und Entscheidung sind sie nämlich annähernd gleich in der Lage. Dass Menschen die Absichten anderer weit besser erraten und damit besser kooperieren können als nichtmenschliche Primaten, bestätigen Forscher wie etwa der amerikanische Anthropologe Michael Tomasello. Diese Qualitäten versetzen uns in die Lage, natürliche Rangordnungen durch politische Auseinandersetzung und gewaltlose Entscheidungen zu ersetzen. Eine so geordnete Gesellschaft verträgt freilich nur wenige Übermenschen, die auf Kooperation nicht angewiesen sind und Diskussionen »auf Augenhöhe« verhindern.

Im Unterschied zu solchen Bildern vom Guten und Besseren sind die heutigen Ingenieursvorstellungen zumeist von Objekten abgeleitet, die Menschen als Hilfsmittel geschaffen haben - etwa für die Fortbewegung oder die Datenverarbeitung. Die Zwecke des Menschen selbst liegen dagegen woanders: in gemeinsamer sozialer Entwicklung, in glückender Betätigung und dem daraus folgenden Genuss typisch menschlicher Fähigkeiten.


Leiden mit technischer Vernunft zu überwinden, ist ein Ziel zur Verbesserung des Menschen

Natürlich zählen dazu auch Sport, Kunst und Wissenschaft genauso wie Unterhaltung. Aber selbst da geht es letztlich um menschliche Fähigkeiten - sogar in einem Formel-1-Rennwagen oder bei einer Multimediashow. Entsprechend groß ist auch unser Interesse an den Gefühlen glücklicher Sieger oder tragischer Verlierer. Dass wir Maschinen bauen können, die uns körperlich und in einigen intellektuellen Fähigkeiten übertreffen, gehört zu den menschlichen Leistungen und ist aus verschiedenen Gründen erfreulich. Sie sind Instrumente (Mittel), die unser Leben erleichtern, die neue Möglichkeiten bieten und individuelle wie soziale Stärken unterstützen können - aber auch gefährden, wie etwa der Verlust an Fairness und Rücksicht im Individualverkehr oder im Internet zeigen.

Man kann das Gute aus seinem Gegenteil ableiten: aus dem, worunter man leidet, und den Wünschen, die einem versagt bleiben. Leiden nicht nur mit menschlicher Größe zu ertragen, sondern auch mit technischer Vernunft zu überwinden, ist eine der großen Herausforderungen für den neuzeitlichen Menschen. Verbesserungen der Lebensbedingungen sowie Eingriffe in den Körper, die von Mühsal und Leid befreien, gelten daher recht unumstritten als »gut« - auch im ethischen Sinn. Dazu zählen alle Artefakte für den Körper, von Seh-, Hör- und Gehhilfen bis hin zu Implantaten und transplantierten Organen.

Ist mit solchen Einbauten der Mensch allein schon technisch ein anderer und besserer geworden? Denkt man an die gebeugten, zahnlosen und schwerhörigen 60-Jährigen vergangener Jahrhunderte zurück, ist das gar nicht zu bestreiten. Die Intention bei all diesen Eingriffen war jedoch immer, Leiden zu lindern, und keineswegs, einen neuen Menschen hervorzubringen. Natürlich wird mit einer therapeutischen Hilfe das Leben verlängert, was alte Träume erfüllt. Heute erscheint ja vielen sogar die Stammzelltherapie als ein zukünftiger Jungbrunnen.

Ob es zwischen Therapie und Enhancement - der gezielten Verbesserung körperlicher Leistungen - überhaupt eine Grenze gibt, wird in der Medizinethik heftig diskutiert. Aber selbst wenn diese fließend ist, sind Unterscheidungen nicht automatisch sinnlos. Es hängt eben davon ab, ob wir Steigerungen gemäß den erwähnten Leistungsskalen anstreben oder uns von manifesten körperlichen Leiden befreien wollen. Oder sind alle unerfüllten Wünsche Quelle von Leiden, auch die nach Perfektion? In der modernen Ethik gibt es die Position, statt der Vermeidung von Schmerzen könne es nur um die Verhinderung der Frustration subjektiver Wünsche beziehungsweise Präferenzen gehen (»Präferenzutilitarismus«). Da solche Wünsche völlig konträr sein können, gäbe es kein gemeinsames Maß der Verbesserung.

Doch es scheint Wünsche zu geben, die von (fast) allen geteilt werden und die für einen biotechnisch verbesserten Menschen erfüllbar wären, etwa die Verlängerung der Lebensdauer. Es liegt auf der Hand, dass sie nur dann ein erstrebenswertes Gut wäre, wenn sie mit einer angemessenen Lebensqualität im Alter einhergeht. Wir können das nicht nur bei Gullivers Reise auf die Insel der Uralten nachlesen, sondern erleben es auch in vielen heutigen Alters- und Pflegeheimen. Angenommen, es könnte das Leben bei guter Gesundheit verlängert werden - wäre das nicht unbestreitbar begrüßenswert? Wären wir dazu nicht unseren Nachkommen gegenüber sogar verpflichtet?

Für eine Beurteilung dieser Fragen sollte man sich die Folgen klarmachen:

  • Ist eine Lebensverlängerung für alle gleichermaßen erreichbar, unabhängig von ihren finanziellen und anderen Mitteln?
  • Falls nicht: Wie weit würde sie unseren Begriff von Gerechtigkeit verletzen und soziale Spannungen erhöhen?
  • Wie viel Ressourcen der Natur würden für ein massenhaftes Älterwerden verbraucht? Gibt das die Erde und unsere zukünftige Technik her? Könnte es zur Verarmung von Biodiversität, Landschaften und Kulturleistungen führen?
  • Was geschieht mit dem Generationenwechsel?

Wenn Menschen entsprechend länger den knappen Lebensraum Erde für sich in Anspruch nehmen würden, müssten sie zuallererst die menschliche Reproduktion drosseln. Es würde dann vermutlich weniger junge, veränderungswillige und kreative Menschen auf unserem Planeten geben. Würde das immer noch eine wünschenswerte Entwicklung darstellen?

Ich kann und will diese Frage hier nicht beantworten. Bevor wir aber unsere Bioingenieure ihre Projektionen vom neuen Menschen entwickeln lassen, sollte es eine Diskussion über das Gute und die Ziele einer Weiterentwicklung geben, die alle Gesichtspunkte berücksichtigt und alle Gruppen mit einbezieht. Hier sind die Werttraditionen von Kulturen und Rechtsordnungen ebenso gefragt wie ethische und religiöse Kriterien des gelingenden Lebens, des guten Menschen und nicht zuletzt einer von allen bejahbaren Welt.

Solange eine solche Debatte nicht geführt wird, scheint es mir ratsam, auf hastige und radikale Neuzüchtungsaktivitäten zu verzichten. Eine behutsame »Verbesserung« des menschlichen Körpers durch therapeutische Medizin und bessere Lebensbedingungen - Hygiene, Nahrung, Luft und Wasser - lässt uns Raum für kollektives Nachdenken und vermeidet unkorrigierbare Fehlentscheidungen.


Das Überleben der Gattung ist keine Notwendigkeit

Jedoch: Haben wir überhaupt die Wahl? Sind wir nicht sogar gehalten, einen für das künftige Überleben geeigneteren Menschen hervorzubringen - bei Strafe des drohenden Untergangs? Müssen wir nicht unsere biologische Entwicklung endlich selbst in die Hand nehmen?

Die Evolution irdischer Lebewesen ist zunächst einmal ein Faktum, zu dem wir mit unseren Werten und Normen Stellung beziehen. Dabei könnten wir das Überleben der Gattung durchaus für verzichtbar halten. Nämlich dann, wenn das nur mit derart veränderten Menschen gelänge, die keinerlei gute Eigenschaften mehr besäßen - beispielsweise Sadisten, skrupellose Herrscher oder gefühlskalte KZ-Wächter, die in der Evolution alle anderen verdrängt hätten. Das wäre der Fall, wenn nach dem Kriterium der Fitness eventuell nur solche Menschen übrig blieben beziehungsweise »hergestellt« würden. Könnten tatsächlich nur noch zu solchen Verhaltensweisen Fähige das Überleben der Menschheit sichern, dann wäre ihre Herstellung weder verpflichtend noch wünschenswert.

Was bedroht überhaupt das Fortleben unserer Art? Drei Gründe erscheinen besonders erwägenswert:

  • Lebewesen, die uns radikal überlegen wären und von unserer Zerstörung lebten;
  • Maschinen, die sich der Kontrolle entzögen und zu seiner Vernichtung ansetzten;
  • die von Menschen verursachten Überlebensbedingungen auf der Erde.

Beim ersten könnte es sich vermutlich nur um Parasiten oder Krankheitserreger handeln. Uns dagegen fit zu machen, wäre ein sinnvolles medizinisches Ziel, das wohl kaum einen völlig neuen Menschen erfordert. Vermutlich auch keinen, bei dem sich die Bedingungen für Tugenden und Werte grundsätzlich verschlechtern würden.


Kontrolle über Superroboter

Bei uns überlegenen Robotern wäre es zweifellos wichtig, dass wir die Macht über sie behalten. Beispielsweise dürften Maschinen, die menschliche Gehirne steuern und verändern könnten, gar nicht erst gebaut werden. Es scheint aber in jedem Fall von Vorteil, solche Formen von Robotik mit den rechtlichen Möglichkeiten der gegenwärtigen Menschheit zu verhindern - notfalls bis hin zur Einschränkung der Forschungsfreiheit. Das wäre einfacher, als uns selbst in einer Weise zu verändern, die um der Kontrolle der Superroboter willen alle aktuellen Rechte, Tugenden und Glücksmöglichkeiten untergraben könnte. Denn diese haben wir in Bezug auf den Menschen entwickelt, wie wir ihn bis heute kennen. Ihn zu perfektionieren, damit er Roboter beherrschen kann, die ihm in seiner bisherigen Verfassung überlegen sind, kann diese Verfassung so verändern, dass die Basis der Rechte verloren geht.

Bleibt die Bedrohung durch die globale Zivilisation. Philosophen haben schon lange erkannt, wie Moral und Recht von äußeren Bedingungen abhängen: von nicht zu knappen Lebensgrundlagen, von der Notwendigkeit der Kooperation sowie von einem Mindestmaß gegenseitiger Sympathie jenseits von purem Altruismus und Egoismus. Es ist kein Geheimnis, dass diese Bedingungen sich ändern können, und es ist immer wieder phasenweise geschehen (der »nackte Überlebenskampf«). Sollte man daher einen Menschen konstruieren, der passendere körperliche, psychische (Affektsteuerung) und soziale Qualitäten besitzt?

Die Frage ist, ob solche Veränderungen überhaupt möglich und ihre Risiken tragbar sind. Das körperliche und psychische System des Menschen scheint höchst komplex in dem Sinn, dass alle Aspekte gegenseitig voneinander abhängen. Daher können schon kleinste Manipulationen unübersehbare Folgen haben. Besitzen wir überhaupt das Wissen und die Tugenden, so fein justierte Veränderungen hervorzubringen, um friedfertigere, aber nicht minder temperamentvolle, eigenwillige und selbstständige Menschen hervorzubringen, wie wir sie schätzen und brauchen?

Es scheint mir hier erheblich weniger riskant und klüger, auf konventionellen Wegen der Erziehung, der Ausbildung von Tugenden und der Entwicklung von Therapien den Menschen zu beeinflussen, was auch Psychopharmaka nicht generell ausschließt. Zu diesen pädagogischen Zielen zählt schon heute ein neuer Lebenswandel, der den Ruin unserer natürlichen Ressourcen aufhält, um einen Kampf aller gegen aller zu verhindern. Damit das klappt, können wir nicht auf irgendeinen neuen Menschen warten.

Was in der Vergangenheit, in Europa etwa seit dem 17. Jahrhundert, den Menschen erkennbar geholfen hat, ist nicht nur die Verbesserung seiner materiellen und körperlichen Lebensbedingungen. Wohlstand und gerechtere Institutionen haben vielmehr auch dazu geführt, dass ein Leben nach den Tugenden der Besonnenheit und der Fairness für viele ohne heroische Anstrengungen möglich wurde. Es ist eben leichter, in einem einigermaßen auskömmlichen, gewaltfreien Leben tugendhaft zu sein, als etwa in einem Slum oder einem gescheiterten Staat.

Es ist eine Bedingung sozialer und politischer Verbesserungen, dass die Menschen bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und ihrer Zufriedenheit mit sich und ihrer Umgebung nicht überfordert werden. Das halte ich für wichtiger, als nach technischen Maßstäben einen Hochleistungsmenschen hervorzubringen.


DER AUTOR
Ludwig Siep ist Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit Langem befasst er sich mit den Zielen und Folgen der modernen Biotechnologie. Er möchte die Kriterien des »besseren« Menschen nicht den Ingenieuren und Produzenten überlassen, sondern sie philosophisch und öffentlich diskutieren. In diesem Jahr erscheint dazu sein Essay-Band mit dem Titel »Moral und Gottesbild. Aufsätze zur konkreten Ethik«.

QUELLEN
Fukuyama, F.: Das Ende des Menschen. DVA, Stuttgart 2002
Gesang, B.: Perfektionierung des Menschen. De Gruyter, Berlin 2007 
Harris, J.: Enhancing Evolution - The Ethical Case of Making People better. Princeton University Press, Princeton 2007
Schöne-Seifert, B., Talbot, D. (Hg.): Enhancement - Die ethische Debatte. Mentis, Paderborn 2009

WEBLINKS
http://humanityplus.org/philosophy/transhumanist-declaration/
Erklärung des Transhumanismus

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet:
www.spektrum.de/artikel/1188738


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Enhancement ist das Zauberwort, in dem nicht nur der Wunsch nach gesteigerten Körper-, sondern auch nach verbesserten Geistesfunktionen steckt.


© 2013 Ludwig Siep, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

*

Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 5/13 - Mai 2013, Seite 56 - 60
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg
Telefon: 06221/9126-600, Fax 06221/9126-751
Redaktion:
Telefon: 06221/9126-711, Fax 06221/9126-729
E-Mail: redaktion@spektrum.com
Internet: www.spektrum.de
 
Spektrum der Wissenschaft erscheint monatlich.
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 84,00 Euro pro Jahr
für 12 Hefte.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2013