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FRAGEN/003: Bernulf Kanitschneider - Denker zwischen zwei Kulturen (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 7/08 - Juli 2008

Forscher-Porträt: Bernulf Kanitscheider
Ein Denker zwischen zwei Kulturen

Von Michael Springer


Bernulf Kanitscheider ist ein Geisteswissenschaftler, dessen Interesse dem Weltbild der Naturwissenschaft gilt. Aus den Erkenntnissen der empirischen Forschung zieht er begriffliche Konsequenzen für naturphilosophische und wissenschaftstheoretische Probleme, aber auch für Ethik, Moral und individuelle Glückssuche.


Als junger Mensch habe wohl nicht nur ich dringend nach Orientierung gesucht: Wer kann einem die Welt erklären? Welche geistige Haltung könnte ein Vorbild sein? Mitte des vorigen Jahrhunderts versprachen aufregende Titel wie »Die Welt in der wir leben« oder »Einstein und das Universum« erste Antworten - und ein Buch namens »Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie«. Der Autor Wolfgang Stegmüller stellte zeitgenössische Denker so dar, dass ich ihre Gedankengänge nachvollziehen konnte, aber auch die fair anmutende Kritik, die Stegmüller an unklaren Ideen vorbrachte. Aus seiner Darstellung sprach ein grundlegendes Vertrauen in Verstand und Verständlichkeit.

Bernulf Kanitscheider, Jahrgang 1939, erlebte diesen Autor unmittelbarer: Er studierte Philosophie an der Universität Innsbruck, als Wolfgang Stegmüller dort gerade seine Karriere begann. Zwar wechselte Stegmüller bald nach München, aber seine rationale, auf formaler Logik basierende Methodik sei für ihn richtungweisend gewesen, erzählt Kanitscheider im Gespräch.

Das schuf damals Konflikte. Wie sich Kanitscheider erinnert, »hatte sich zu meiner Zeit eine skurrile Mischung aus deutschem Idealismus und christlicher Existenzphilosophie breitgemacht, die keinen Raum für nüchterne begriffliche Untersuchungen ließ«. Das galt übrigens nicht nur für Innsbruck. Auch in Wien dominierten, als ich im Rahmen des Physikstudiums ein Philosophikum zu absolvieren hatte, der Hegelianer Erich Heintel und der Existenzphilosoph Leo Gabriel, während Wissenschaftstheorie und mathematische Logik ein Schattendasein fristeten.

Gegen Ende des Philosophiestudiums suchte Kanitscheider ein Forschungsthema, aber am »damaligen Lehrstuhl für Philosophie in Innsbruck wusste man um die Gefahr des logischen Positivismus und kritischen Rationalismus für die traditionelle Seinsmetaphysik. An ein Dissertationsthema aus dem Bereich der analytischen Philosophie war nicht zu denken«. Zwar interessierte Kanitscheider auch die Mathematik wegen ihrer Nähe zur theoretischen Physik, aber selbst da gab es Streit. Als der Mathematik-Ordinarius Wolfgang Gröbner ein Seminar über metaphysisch-theologische Grenzprobleme veranstaltete, drohten ihm die Innsbrucker Theologen mit juristischen Konsequenzen wegen »Religionsstörung« und erreichten, dass Gröbner mit dem Seminar aufhörte.

Erst Ende der 1960er Jahre entspannte sich das Klima; 1968 kam Gerhard Frey auf den neu errichteten Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie in Innsbruck, und bei ihm habilitierte sich Kanitscheider über die Anwendung der Geometrie auf empirische Systeme. Später hat ihn der Philosoph Mario Bunge aus den USA besonders beeinflusst, mit dem er bis heute befreundet ist: »Seine realistisch orientierte Erkenntnistheorie und Ontologie waren für mich wie Gleise, auf denen ich zu einer naturalistischen Position gelangte.«


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Spektrum der Wissenschaft: Herr Professor Kanitscheider, woher kommt Ihr für einen Philosophen ungewöhnlich starkes Interesse an den Naturwissenschaften?

Bernulf Kanitscheider: Ich habe als Philosophiestudent wie üblich mit dem Studium der Klassiker angefangen, empfand aber bald ein gewisses Ungenügen an metaphysischen Systemen. Ich merkte, dass vor allem die Vertreter der analytischen Philosophie und der modernen Logik einen ganz anderen Denkstil bevorzugen. Über die Nähe der Logik zur Mathematik entstand schließlich meine Liebe zur Physik.

Spektrum: An diesem Bildungsweg fällt auf, dass Sie für sich anscheinend das Problem der »zwei Kulturen« gelöst haben. Wie stehen Sie zu der oft konstatierten Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften?

Kanitscheider: Ich möchte zwei Varianten des Problems unterscheiden. Zum einen gibt es ein psychologisches Bildungsproblem. C. P. Snow hat das in seinem berühmten Essay von 1959 beschrieben: Wenn sich Akademiker abends zu einer gehobenen Unterhaltung treffen, dann wird im Wesentlichen über Themen aus dem klassischen Bildungsbereich gesprochen, und jeder Naturwissenschaftler bemüht sich zu demonstrieren, dass er kein Banause ist, sondern sich in Geschichte und Literatur gut auskennt - von Shakespeare bis zurück zu Homer. Hingegen habe ich noch keinen Geisteswissenschaftler getroffen, der versucht, den Naturwissenschaftlern zu zeigen, dass er etwas mit dem Begriff des Elektrons oder der Entropie anfangen kann - kurz, dass er naturwissenschaftliche Bildung besitzt. Hier herrscht eine offensichtliche Asymmetrie, die bis zum heutigen Tage andauert.

Doch tiefer liegt ein systematisches Problem. Dabei geht es um den Schlüsselbegriff des Geistes. Deutsche Geisteswissenschaftler haben seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder die Position vertreten, es gebe einen Hiatus - einen unüberbrückbaren Graben, der den Begriff des Geistes von allen biologischen, neurologischen, physiologischen Analysen trennt. Doch wie ich meine, vermag die moderne analytische Philosophie des Geistes diesen Graben zu überbrücken. Das hängt mit meiner realistisch-naturalistischen Weltauffassung zusammen: Die Natur des Geistes fällt nicht aus der rationalen, wissenschaftlichen Analyse heraus, sondern der menschliche Geist ist ein hochinteressantes Phänomen, das von beiden Seiten, von Natur- und Geisteswissenschaften symmetrisch anzugehen ist - wobei der Informationsfluss in beiden Richtungen hoch sein muss.

Spektrum: Sie beschreiben sich als Anhänger einer realistisch-naturalistischen Auffassung - eine Position, die von vielen Geisteswissenschaftlern als Provokation empfunden wird. Können Sie das näher erläutern?

Kanitscheider: Naturalismus ist die philosophische Fassung einer Haltung, die im Alltag besagt: Letztlich geht alles mit rechten Dingen zu. Wenn jemand einen Gegenstand verloren hat, sein Auto oder sein Fahrrad nicht mehr findet, dann sagt er zunächst erstaunt: Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Doch sobald er sich auf die Suche macht, legt er ein altes philosophisches Prinzip zu Grunde, das der altrömische Philosoph Lukrez mit wunderbarer Klarheit in »De rerum natura« formuliert hat: Dinge, die im Universum vorhanden sind, eine bestimmte Masse besitzen und einen bestimmten Raum einnehmen, verschwinden nicht einfach ins Nichts, und aus dem Nichts entstehen auch nicht einfach irgendwelche Gegenstände. Das ist bereits das Grundprinzip des Naturalismus. Die Welt ist kausal geschlossen, die Dinge darin können sich transformieren, strukturell umbauen, andere Formen annehmen, Strukturen können sich auflösen - aber Materie, Masse und Energie verlieren sich nicht einfach im Universum. Das Universum ist ein kausal geschlossenes System, in dem es mit rechten Dingen zugeht - in dem Sinn, dass es nur Umwandlungen der Materie gibt, aber nicht rätselhafte irrationale Vorgänge, in denen auf einmal mancherorts wunderbare Dinge passieren, die sonst nirgendwo vorkommen.

Spektrum: Nun gibt es aber sogar unter Physikern die Meinung, die Quantenphysik, die einen Bruch mit dem klassischen Determinismus darstellt, eröffne eine Art geistige Freiheit. Insbesondere könne das Problem der Willensfreiheit über die Quantenphysik angegangen werden.

Kanitscheider: Ich bin überzeugt, dass die Quantenphysik zur Lösung des Problems der Freiheit nichts beitragen kann. Handelnde Menschen sind makroskopische Systeme, Willensentscheidungen werden im limbischen System gefällt. Das besteht zwar auf der Mikroebene aus Quarks und Gluonen, aber die Quanteneffekte mitteln sich schon auf der molekularen Ebene durch thermisches Rauschen völlig weg. Das Gehirn ist ein klassisches System, das dem klassischen Determinismus unterworfen ist.

Das Problem der Willensfreiheit halte ich übrigens für ein Scheinproblem. Das Einzige, was wir für die Ethik brauchen, um das freundliche Umgehen der Menschen miteinander zu regeln, ist ein Reglement der Handlungsfreiheit. Die akausale - ursachenlose - Willensfreiheit ist allein im theologischen Kontext notwendig. Sie wurde vom Kirchenlehrer Augustinus im 5. Jahrhundert eingeführt, um das Theodizee-Problem zu lösen, und zwar folgendermaßen: Dass es das Böse in der Welt gibt, ist nicht Gott anzulasten; das muss allein auf die Menschen zurückgeführt werden.

Wenn nun ein globaler Determinismus gilt, der alle makroskopischen Systeme einschließlich der handelnden Menschen umfasst, und wenn die Kausalkette beliebig in die Vergangenheit zurückverfolgt wird, ist die Letztursache für das Böse Gott. Und das darf natürlich nicht sein. Wie löst Augustinus dieses Problem? Indem er die Kausalkette abschneidet und sagt: Die Willensentscheidung zu einer bösen Handlung, die der Mensch fällt, fußt nicht in seinen früheren Zuständen, kann also auch nicht auf Gott zurückgeführt werden.

Das heißt, Theologen brauchen die akausale Willensfreiheit. Hingegen ist Handlungsfreiheit der zentrale Begriff für die politische, soziale, ökonomische ...

Spektrum: ... kriminologische ...

Kanitscheider: ... Diskussion. Wenn wir von Unfreiheit in totalitären Staaten sprechen, dann ist es die Einschränkung der Handlungsfreiheit, unter der die Menschen leiden. Die Willensfreiheit wird für keine soziale Frage gebraucht.

Spektrum: Wie stehen Sie überhaupt zum Verhältnis zwischen Religion und Naturwissenschaft? Favorisieren Sie ein friedliches Nebeneinander?

Kanitscheider: Hans Küng propagiert in seinem Buch »Der Anfang aller Dinge« eine Art Komplementarität von Religion und Naturforschung, und Jürgen Habermas hat ihm in »Zwischen Naturalismus und Religion« sekundiert, indem er eine Kompetenzabgrenzung vorschlug: Die Kompetenz für die Interpretation von religiösen Sätzen soll man den Theologen überlassen.

Hans Küng hat als Theologe natürlich ein Interesse daran, sich die Kritik der Wissenschaft vom Leib zu halten. Ich meine, das ist eine unhaltbare Position, weil jede Religion - ob Buddhismus, Islam oder Christentum - bereits eine Metaphysik und eine Kosmologie voraussetzt. Das Alte Testament beginnt mit einer Schöpfungsgeschichte: Die Vielfalt der Strukturen, die wir beobachten, kam in die Welt durch göttlichen Entschluss, durch kreatives Handeln. Damit ist automatisch der Konflikt vorgegeben. Es gibt kosmologische Modelle, die einen Anfang in der Zeit haben, und andere mit unendlichem Alter, und nicht alle Modelle können zugleich wahr sein. Wenn Widersprüche vorhanden sind, soll man sie austragen. Darüber können Geistes- und Naturwissenschaftler offen miteinander sprechen.

Spektrum: Von religiösen Menschen wird oft der Satz von Dostojewski zitiert: Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt. Brauchen wir Religion, weil es sonst keine richtungweisenden Werte gibt? Kann es so etwas geben wie eine naturalistische Ethik?

Kanitscheider: Die Antwort, die Naturalisten wie der amerikanische Philosoph Daniel Dennett heute darauf geben, beginnt mit einem Hinweis auf Darwins Theorie, die Evolutionsbiologie. Im Tierreich gilt keinesfalls nur das Gesetz des Dschungels, sondern wir stellen dort ein moralanaloges Verhalten fest. Selbst niedere Tiere wie Insekten haben eine ausgefeilte Sozialstruktur entwickelt. Tierisches Verhalten ist freilich nicht bewusst gesteuert, sondern instinkthaft beziehungsweise neurologisch fest verdrahtet. Doch da die Abstammungslehre einen stetigen Übergang der Tierpopulationen zu den Primaten bis zum Homo sapiens belegt, ist es ganz unwahrscheinlich, dass Moral keine Verankerung in der Stammesgeschichte hat.

Spektrum: Unter Geisteswissenschaftlern weckt aber eine Herleitung der menschlichen Moral aus der Evolutionslehre sofort den Verdacht auf Sozialdarwinismus.

Kanitscheider: Wie die Evolutionsgeschichte uns lehrt, ist ein Regelsystem für das Zusammenleben in jedem Fall notwendig. Diese Regeln können aber unter Menschen, anders als im Tierreich, der bewussten Reflexion ausgesetzt werden. Anders als etwa Termiten können Menschen die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Regeln rational verhandeln. Sie können die einzelnen Axiome ethischen Handelns einer kritischen Diskussion aussetzen und überlegen: Sollen wir die eine Maxime durch eine andere ersetzen? Sie können überzogene Forderungen der Normensysteme zurückweisen. Schon im römischen Recht galt der Grundsatz Ultra posse nemo obligatur. Das heißt, eine normative Forderung an einen Menschen setzt das Können voraus. Es ist nicht sinnvoll, den Menschen einen Forderungskatalog vorzulegen, der so rigide ist, dass der Mensch ihn auf Grund seiner evolutionären Ausstattung gar nicht erfüllen kann.

Spektrum: Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?

Kanitscheider: Die christliche Sexualmoral ist ein typischer Fall, in dem der Forderungskatalog viel zu hoch angesetzt worden ist gegenüber dem menschlichen Triebpotenzial. Auf Grund rationaler Reflexion kann man durchaus Korrekturen anbringen und sagen: Dieser Katalog muss gar nicht erfüllt werden; für ein gedeihliches Zusammenleben kann man durchaus etwas von dieser rigiden Sexualmoral herunterfahren. Das sind typische Argumentationen im Überlagerungsfeld von Natur und Kultur, wo eine Wechselwirkung nicht nur möglich, sondern sogar notwendig ist.

Spektrum: Das heißt, aus der Betrachtung der Natur lassen sich Regeln für soziales Verhalten herleiten.

Kanitscheider: Genau das machen wir, wenn wir an einer evolutionären Ethik arbeiten. Diese Naturalisierung der Ethik bedeutet nicht einfach: Wir finden etwas in der Natur und heißen es dann gut. Wenn wir in der Natur Kampf und Grausamkeit vorfinden, ist das nicht schon das Gute. Vielmehr setzen wir die empirisch gefundene Vorstrukturierung der menschlichen Natur einer rationalen Diskussion aus und fragen: Was lässt sich davon sinnvoll in den Normenbereich übernehmen, wo müssen wir korrigieren und ausbremsen? Naturalisierung der Ethik bedeutet, dass man durch reflektierende Vernunft auf die Vorstrukturierung des Menschen, auf die im limbischen System und letzten Ende in der DNA vorprogrammierte Verhaltensgenetik Rücksicht nimmt.

Spektrum: Wird durch die naturalistische Betrachtungsweise nicht der Begriff des Geistes entwertet, quasi wegnaturalisiert?

Kanitscheider: Ganz im Gegenteil. Der Begriff des Geistes ist zu wichtig, als dass man ihn einfach der Narration, der historischen Nacherzählung, überlassen darf, als wäre er eine Art Unterhaltungssendung nach getaner Arbeit. Naturwissenschaftler gehen tagsüber in ihre Labors, untersuchen dort Elementarteilchen, lösen schwierige Differenzialgleichungen, und wenn sie abends nach Hause kommen, hören sie Verzauberungsgeschichten aus ihrer historischen Vergangenheit - diese Vorstellung von Geist halte ich für zu schwach. Sie wird der Bedeutung des Begriffs nicht gerecht. Geist produziert nicht nur Geschichten, sondern analysiert auch die Natur. Mit Hilfe des Geistes versuchen wir den Fundamenten der Natur auf die Spur zu kommen, und dieses Instrument zu verstehen ist eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft.

Spektrum: Ich bin überrascht, wie Sie als Anwalt des Geistes auftreten und ihn förmlich gegen die Geisteswissenschaftler in Schutz nehmen! Was ist für Sie nun »das Geistige«?

Kanitscheider: Der Begriff des Geistes muss aus evolutionärer Perspektive verstanden werden. Die Natur hat unterschiedlichste Strukturen entwickelt - von Galaxien und Sternen zu Planeten mit Gesteinsoberflächen, auf denen Leben entstehen konnte. In Einklang mit den Erkenntnissen der Hirnforschung muss ein Begriff des Geistes gefunden werden, der auf naturwissenschaftlicher Basis ruht, dann aber kombiniert wird mit dem geisteswissenschaftlichen Selbstverständnis, wie es aus der Historie tradiert ist. Der Neurologe beschreibt, wie der Geist funktioniert, versucht mit bildgebenden Verfahren die Aktivitäten des Gehirns zu rekonstruieren - und der Philosoph kommt ihm entgegen und liefert die Begriffe, die dann der Neurobiologe in dem von ihm untersuchten Substrat wiederfindet. Das ist nicht utopisch: Wir haben eine analytische Philosophie des Geistes, eine Disziplin, in der neurobiologisch ausgebildete Philosophen arbeiten, wobei die phänomenologischen Analysen der Geisteswissenschaftler den Naturwissenschaftlern bei ihren neurobiologischen Analysen helfen. Das gleicht ein wenig dem Verhältnis von phänomenologischer Wärmelehre und statistischer Mechanik: Erstere kam historisch zuerst und formulierte Begriffe wie Wärme, Druck und Entropie - und dann explizierte Letztere diese Begriffe, etwa die Entropie durch die H-Funktion der statistischen Thermodynamik. So müssen auch Natur- und Geisteswissenschaften aufeinander zugehen, um den Begriff des Geistes zu klären.

Spektrum: Also kein Kampf der Disziplinen, aus dem die Naturwissenschaft mit einer restlosen Naturalisierung des Geistes als Sieger hervorgeht? Keine Geringschätzung der Geisteswissenschaften, als wäre sie bloß die Begleitmusik des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts?

Kanitscheider: Das wäre eine Blockade, eine Zurücknahme des systematischen Denkens. Nur gemeinsam lässt sich das große Rätsel lösen, wie der Geist ins Universum gekommen ist.

Spektrum: Gegen den Naturalismus der Hirnforscher wird oft eingewandt, damit werde die Zurechenbarkeit von Handlungen geleugnet. Könnte man da nicht gleich die Gerichte abschaffen und nur noch Sozialtherapie für Leute mit asozialem Verhalten betreiben?

Kanitscheider: An der rechtlichen Praxis muss sich gar nichts ändern, nur an der moralischen Verurteilung. Wer in einer ungünstigen sozialen Umgebung aufgewachsen ist und vielleicht auch noch ungünstige Verhaltensgene mitbekommen hat, wurde von der Natur und von seinem Umfeld benachteiligt. Wenn er sehr schädliche Handlungen setzt, müssen die Mitmenschen natürlich vor ihm geschützt werden; er kann nicht frei herumlaufen. Aber die moralischen und theologischen Vorwürfe kann man sich sparen. Begriffe wie Sünde, Sühne, Vergehen gegen die göttliche Ordnung und dergleichen sind überflüssig.

Spektrum: Lässt sich aus dem Naturalismus eine Moral ableiten, eine Anleitung zu richtigem Handeln?

Kanitscheider: Ich habe mich gefragt: Welche Ethik liegt dem Naturalismus am nächsten? Da bin ich auf antike Vorbilder gestoßen, die wie Aristippos von Kyrene und Epikur einfach feststellen, dass Tiere und Menschen - Kinder wie Erwachsene - eines gemeinsam haben: Sie streben von Natur aus nach Lust. Sie sind bestrebt, ihr Glück, ihr Wohlbefinden, ihre inneren Zustände zu optimieren. Die Frage ist: Kann man dieses Glücksaxiom als Basis einer Ethik auffassen? Epikur, Lukrez und andere, die in der materialistischen Denktradition stehen, sagen: Das geht ohne Weiteres.

Später haben Utilitaristen wie Jeremy Bentham in dieser Richtung weitergedacht und ebenfalls gefunden, dass wir Glücksoptimierer sind. Sie fragten: Können wir aus dieser Tatsache einen Begriff des gelungenen Lebens entwickeln? Die Antwort ergibt grob gesagt das Prinzip einer hedonistischen Ethik: Das gelungene, vollendete, erfüllte Leben ist eines, in dem wir in Einklang mit unserer Natur das Beste aus unseren Möglichkeiten gemacht haben - selbstverständlich ohne den Mitmenschen zu schaden, ohne andere unglücklich zu machen.


Zur Person

Bernulf Kanitscheider ist Philosoph und Wissenschaftstheoretiker.
Er promovierte 1964 über »Das Problem des Bewusstseins« an der Universität Innsbruck, wo er sich 1970 auch mit dem Thema »Geometrie und Wirklichkeit« habilitierte. 1974 wurde er auf den Lehrstuhl für Philosophie der Naturwissenschaft an der Universität Gießen berufen. Seine Arbeitsgebiete sind Kosmologie, philosophische Probleme von Relativitätstheorie und Quantenmechanik, Philosophie der Mathematik und Lebensphilosophie. Seit Oktober 2007 ist Kanitscheider emeritiert.

Michael Springer, der die Fragen stellte, ist Wissenschaftsredakteur und freier Mitarbeiter bei »Spektrum der Wissenschaft«.


Literatur:
Bunge, M., Mahner, M.: Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Hirzel, Stuttgart 2004.
Dennett, D. C.: Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens. Hoffmann und Campe, Hamburg 2002.
Dessau, B., Kanitscheider, B.: Von Lust und Freude. Gedanken zu einer hedonistischen Lebensorientierung. Insel, Frankfurt 2000.
Habermas, J.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Suhrkamp, Frankfurt 2005.
Kanitscheider, B.: Die Materie und ihre Schatten. Naturalistische Wissenschaftsphilo sophie. Alibri, Aschaffenburg 2007.
Kanitscheider, B.: Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive. Reclam, Stuttgart 2002.
Küng, H.: Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion. Piper, München 2005.
Snow, C. P. et al.: Die zwei Kulturen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987.


Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter
www.spektrum.de/ artikel/957497.



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LEXIKON

Metaphysik: Derjenige Teil der Philosophie - wörtlich »nach der Physik« -, der nach »letzten« Hintergründen des Daseins fragt, etwa: Warum existieren wir, gibt es einen Gott, ist die Wirklichkeit geistig oder materiell oder beides?

Ontologie: Lehre vom Seienden und vom Sein. Sie fragt zum Beispiel: Sind mathematische Gegenstände nur nach Übereinkunft konstruierte Gebilde oder existieren sie unabhängig vom Bewusstsein der Mathematiker als ideelle Objekte?

Naturalismus: eine Philosophie, die auf naturwissenschaftliche Erklärungen vertraut - auch für vermeintlich »übernatürliche« Phänomene

Theodizee: das Problem, wieso ein allmächtiger und allgütiger Gott zulässt, dass es das Böse in der Welt gibt

Sozialdarwinismus: die platte Übertragung missverständlicher biologischer Begriffe wie »Kampf ums Dasein« oder »Rasse« auf vermeintliche Normen menschlichen Zusammenlebens

Utilitarismus: Nützlichkeitsethik nach dem Prinzip: Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht.


© 2008 Michael Springer, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 7/08 - Juli 2008, Seite 74 bis 79
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2008