Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → PHILOSOPHIE

FRAGEN/011: Eine andere Geschlechtertheorie (ROSA)


ROSA:40 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - Februar 2010

Eine andere Geschlechtertheorie

Tove Soiland findet, dass Frauen sich wieder vermehrt zusammentun sollen und dass Judith Butler nicht das Mass aller Dinge sei. Ein Gespräch über ihre Dissertation "Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Eine dritte Position im Streit zwischen Lacan und den Historisten".

Interview von Annina Mathis


ANNINA MATHIS: Wie bist du überhaupt auf das Thema deiner Dissertation gekommen?

TOVE SOILAND: Ich bin bereits in den 80er-Jahren auf Luce Irigaray gestossen, und zwar in einer Lesegruppe, die wir damals zu den französischen Philosophinnen, also zu der ganzen Poststrukturalismus-Diskussion, begonnen haben. Da hat mich ein Mann auf Ingaray aufmerksam gemacht und ich habe zuerst gedacht, "Das lese ich nicht. Das ist biologistisch und dieses Reden über Körper, pfui!" Aber dann haben wir ihre Texte in der Gruppe genauer studiert und ich habe gemerkt, dass ich Irigaray vorschnell unter Biologismus abgetan habe und ich war zunehmend fasziniert von der Weise, wie sie schreibt.

ANNINA MATHIS: In deiner Arbeit schreibst du darüber, wie Irigaray heute im deutschsprachigen Raum gelesen und rezipiert wird. Das ist ein ähnliches Bild, wie jenes, das du anfangs von ihr hattest...

TOVE SOILAND: Es ist ja eigentlich eine Nicht-Rezeption. Diese Abwehr hat es von Anfang an gegeben, im deutschsprachigen Raum. Es gab zwar so etwas wie eine kurze Öffnung während den 1980er Jahren, die ist dann aber mit der Rezeption von Judith Butler relativ abrupt beendet worden, als ihr Buch Gender Trouble auf deutsch erschien. Da ist Irigarays Denken, also ihr Ansatz der Geschlechterdifferenz respektive der sexuellen Differenz, ganz in den Hintergrund getreten. Und mit der Übernahme des Ansatzes von Butler hat sich die Meinung durchgesetzt, dass Irigaray eine Festschreibung der Geschlechterordnung mache, wie sie nun von Butler kritisiert wurde. Das hat sich bis heute gehalten: Im deutschsprachigen Raum ist nur ein Drittel ihrer Werke übersetzt worden, und wenn man beispielsweise die Gender Studies oder Bücher zur Einführung in die Gender Studies anschaut, dann kommt Irigaray nicht mehr oder nur noch irgendwo in einer Fussnote vor. Da steht dann, das sei ein überholter Standpunkt.

ANNINA MATHIS: Was ist denn anders gelaufen im englischsprachigen Raum? Dort wird sie ja gelesen.

TOVE SOILAND: Die Ironie der Geschichte ist, dass genau 1991, als bei uns Butler mit Gender Trouble so eingeschlagen hat, im englischsprachigen Raum eine breite Rezeption von Irigaray einsetzte. Während man bei uns (mit dem Hinweis auf den englischsprachigen Raum) sagte, Irigaray sei passé kam in England, ebenfalls 1991, ein Buch von Margaret Withford heraus, Philosophy in the Feminine, das sie Luce Irigarays Werk widmete und indem sie aufzeigt, dass dieser Essentialismus- oder Biologismus-Vorwurf so nicht haltbar ist. Dies hat im englischsprachigen Raum eine Rezeption ausgelöst, die bis heute anhält und in der nicht nur die Frühschriften von Irigaray, sondern ganz dezidiert auch das Denken der sexuellen Differenz unter einem poststrukturalistischen Gesichtspunkt rezipiert wird: Eine Rezeption, die sagt, das Denken der sexuellen Differenz sei ein Standpunkt innerhalb des Poststrukturalismus, innerhalb der poststrukturalistischen Subjektkritik. Bei uns hat man demgegenüber gesagt: Aufgrund der poststrukturalistischen Subjektkritik kann man nicht mehr von der sexuellen Differenz reden, während man im englischsprachigen Raum nun davon ausging, dass das ein Missverständnis sei, und dazu überging das Denken der sexuellen Differenz selber als eine Subjektkritik zu lesen.

ANNINA MATHIS: Möchtest du denn in deiner Arbeit vor allem aufzeigen, was im englischsprachigen Raum zu Irigaray passiert ist, oder ist das, was du machst, nochmal ganz etwas Neues?

TOVE SOILAND: Beides. Für mich war es eine Art List aufzuzeigen, dass wir uns immer am englischsprachigen Raum orientieren und dass Irigaray mit diesem Argument bei uns völlig aus der Rezeption heraus gefallen ist. Da war es der erste Schritt zu sagen, also wenn schon englischsprachiger Raum, dann schaut euch doch bitte diese Debatte an! Das hat mich aber auch selber geleitet: Ich habe mir diese Texte selber angeschaut und bin dort in meinem eigenen Verständnis von lrigaray weitergekommen. Zum Beispiel bin ich überhaupt dazu gekommen, das dekonstruktive gender-Verständnis von Butler und Irigarays Denken der sexuellen Differenz als zwei Ansätze zu sehen, da orientiere ich mich am englischsprachigen Raum. Bei uns wird das als eine Fortschrittserzählung wiedergegeben. Der neuste Stand der Wissenschaft bei uns heisst: Nach gender kann man nicht mehr von sexueller Differenz sprechen. Aber im englischsprachigen Raum ist das eine Debatte. Butler streitet mit VertreterInnen des Ansatzes der sexuellen Differenz und umgekehrt. Eine direkte Auseinandersetzung zwischen Irigaray und Butler gab es allerdings noch nie. Es wäre eigentlich ein Wunsch von mir, die beiden Philosophinnen einmal noch zusammen an einen Tisch zu bringen.

ANNINA MATHIS: Und wie bist du durch diese Texte in deinem eigenen Verständnis von Irigaray weitergekommen?

TOVE SOILAND: Ich habe gemerkt, wenn ich das so vergleiche mit Texten aus dem englischsprachigen Raum, dass ich gleichwohl nochmals eine andere Leseart von Irigaray habe. Ich lese Irigaray sehr viel mehr ausgehend von ihrem eigenen psychoanalytischen Hintergrund. Allerdings hat Irigaray selbst eine nicht ganz einfache Geschichte mit der Psychoanalyse. Ihre Habilitation, in welcher sie sowohl das Werk Freuds wie die Schriften Lacans einer eigenen kritischen Lektüre unterzieht, wurde von der Universität Vincennes, wo sie lehrte, massgeblich durch den Einfluss Jacques Lacans abgelehnt, was ihre weitere universitäre Laufbahn jäh beendete. Gleichwohl meine ich, dass diese Erfahrung sie nicht davon abgehalten hat, an zentralen Grundaussagen der Psychoanalyse, insbesondere was deren Subjektverständnis betrifft, festzuhalten. Denn sie schreibt bis heute, dass die Psychoanalyse neben dem Marxismus ihr wichtigster theoretischer Hintergrund sei. Und ich denke, diesem psychoanalytischen Hintergrund wird in der englischsprachigen Rezeption zu wenig Rechnung getragen. Es gibt nur wenige Texte, die sich mit ihrer Freud-Rezeption beschäftigen und es gibt noch viel weniger Texte - Margaret Withford war eine der Ersten - die sich mit ihrer Lacan-Rezeption beschäftigen. Mich hat dieser Aspekt angefangen zu interessieren, weil ich gesehen habe, dass man viele ihrer Texte als Lacan-Lektüre lesen kann, respektive dass viele ihrer Texte unverständlich bleiben, wenn man sie nicht als Replik auf Lacan versteht.

ANNINA MATHIS: Der Untertitel deiner Arbeit heisst "Eine dritte Position im Streit zwischen Lacan und den 'Historisten'". Ist das ein Streit zwischen der Psychoanalyse und der Dekonstruktion?

TOVE SOILAND: Ja, die Kritik an der Dekonstruktion kommt von psychoanalytisch orientierten Autorinnen, die versuchen, Lacan mit dem Marxismus zu verbinden. Und sie nennen die Vertreterinnen der Dekonstruktion etwas böswillig "Historisten" - Joan Copjec hat diesen Begriff in Umlauf gesetzt. Nicht im alten Sinn der Historisten des 19. Jahrhunderts, sondern sie wollen damit diese Vorstellung kritisieren, das alles historisch bedingt sei. Also das alles quasi in einem Fluss von Geschichtlichkeit aufgelöst werden kann, wo dann die Dekonstruktion das einzig Ungeschichtliche ist.

ANNINA MATHIS: Könntest du das am Beispiel der Geschlechterfrage noch etwas näher erklären?

TOVE SOILAND: Wenn man das übersetzen will, dann kann man sagen, dass die ganze Vervielfältigung der Geschlechtlichkeit, also der Wunsch der Geschlechterdifferenz keine Grenze mehr aufzuerlegen, sondern sie in eine Pluralisierung der Geschlechtlichkeit übergehen zu lassen, dieser Wunsch ist nicht etwas anderes, er ist nicht etwas Subversives zum gegenwärtigen Zeitgeist. Es ist durchaus genau das, was gegenwärtig überhaupt gefragt und gefordert ist. Es ist eigentlich das, was heute in der Soziologie als neoliberale Subjektivierungsweise bezeichnet wird, also der Umstand, dass Menschen möglichst flexibel sein sollen, dass sie ihre eigene Persönlichkeit anpassen können müssen und dass auch ihr Geschlecht eine frei flotierende Humanressource sei, die sie je nach Gelegenheit so oder anders einsetzen können müssen.

ANNINA MATHIS: Das ist die Kritik an der Dekonstruktion, oder den "Historisten", aber um nun noch die andere Seite, nämlich die Kritik an der Psychoanalyse, zu erläutern, musst du vielleicht erst den psychoanalytischen Begriff des "Negativen" erklären, der auch in deiner Dissertation eine grosse Rolle spielt.

TOVE SOILAND: In der Psychoanalyse meint das Negative den Umstand, dass das menschliche Wesen auf andere angewiesen ist. Wir werden abhängig geboren, wir sind auf Pflege angewiesen, wir sind emotional auf andere angewiesen, wir sterben. Und dieser ganze Bereich der Verwiesenheit - Lacan sagt ihm auch einfach "der Mangel" - ist eine grosse narzisstische Kränkung. Freud hat gesagt, wir seien nicht Herr im eigenen Haus. Der Umstand, dass wir angewiesen sind auf andere, ist eigentlich die grosse Kränkung, die in unserer Kultur beständig auch zu negieren versucht wird. Man kann sagen, das ganze bürgerliche Subjekt des 19. Jahrhunderts sei der Versuch, diesen Umstand auszutricksen, indem der Mensch versucht, durch Disziplin, durch irgendwelche Selbsttechnologien, Meister über sich selber zu werden. Das bürgerliche Subjekt ist aber damit einhergegangen, dass dieser Bereich, der nicht dazu gepasst hat, quasi abgespalten wurde. Dieser Bereich ist in die eigens dafür erfundene Privatsphäre abgeschoben worden, und die Frauen waren dann dafür zuständig. Sie waren dafür zuständig, den kränkenden Bereich der Menschen zu pflegen. Gleichzeitig hat man aber diesen Bereich und ihre Tätigkeit in diesem Bereich abgewertet oder überhaupt negiert. Diesen Bereich gibt es eigentlich gar nicht. Es ist eine Abspaltung, eine Verleugnung und eine Abtrennung, so dass am Schluss das männlich bürgerliche Subjekt so aussehen konnte, als könne es ohne Abhängigkeit leben.

ANNINA MATHIS: Und welche Position nimmt Irigaray nun in diesem Streit zwischen Psychoanalyse und Dekonstruktion ein?

TOVE SOILAND: Die Negativität, die mir wichtig ist und von der ich denke, dass sie eben auch Irigaray wichtig ist: In der Psychoanalyse ist sie immer phallisch, männlich, väterlich konnotiert. Und bei der Dekonstruktion, bei Derrida und Foucault, gibt es sie nicht mehr. Aber Irigaray, und das finde ich ihre Errungenschaft, in der sie einmalig ist, sie nimmt eine dritte Position ein, indem sie sagt, sie wolle nicht auf den Begriff des Negativen verzichten, sie halte diesen für zentral für das menschliche Wesen. Sie verteidigt den Begriff des Negativen, aber löst ihn von dieser Koppelung an die väterliche Metapher ab, ja, ihre eigentliche Aussage ist es, dass diese Koppelung letztlich erneut die Negativität verstellt. Das ist ihre Kritik an der Psychoanalyse.

ANNINA MATHIS: Wie steht dies im Zusammenhang mit der Dekonstruktion und Butler?

TOVE SOILAND: Der zentrale Unterschied ist, dass beim Ansatz von gender, Männer wie Frauen einen Konstruktionscharakter haben. Gender, übersetzt als Geschlechtsidentität, heisst: Männlein sieht so aus, Weiblein sieht so aus. Sie sind zwar unterschiedlich, aber der Ort, wo sie konstruiert werden, ist auf der gleichen Ebene. lrigaray würde sagen, die Konstruktion laufe so, dass das männliche Subjekt konstruiert wird und sein Abfall, alles was daran nicht aufgeht, ist etwas anderes - das ist dann die Weiblichkeit. Diese ist aber gar keine Subjektposition. Sie ist etwas angeblich Immanentes.

ANNINA MATHIS: Falls das Weibliche diese Subjektposition einnehmen könnte und die sexuelle Differenz, die laut Irigaray gar nicht existiert, eintreten würde, müsste man dann nicht wieder mit Butler kommen und die sexuelle Differenz dekonstruieren?

TOVE SOILAND: Das Problem ist, dass das, was Butler anvisiert, bereits im Rahmen dieses Modells, wie es jetzt ist, verwirklicht ist. Das ändert aber an der bestehenden Geschlechterordnung nicht wirklich etwas. Es gibt ein paar wenige Textstellen, wo Irigaray sagt, wenn die sexuelle Differenz existieren würde - irgendwann - dann könnte sie auch überwunden werden. Ich würde aber nicht sagen, dass das, das ist, was Butler bereits jetzt vorschlägt. Weil ich nicht sehe, wie man mit ihrer Dekonstruktion die lange Tradition der männlich konnotierten Subjektposition aufbrechen kann. Und weil ich nicht sehe, wie Butler eine Antwort auf die Frage hat, wie man das unmittelbar Weibliche, was bei uns mit Materie oder womit auch immer konnotiert wird - was Simone de Beauvoir "die Immanenz" nennt - wie man dieses aus ihrer Immanenz herausholt. Mit der Dekonstruktion von Geschlechtscharakteren ist diese weibliche Immanenz und die Tradition der Männlichkeit der Subjektposition noch nicht tangiert.

ANNINA MATHIS: Letzte Frage: Warum braucht es deine Dissertation, oder wieso braucht es dieses neue Verständnis von Irigaray?

TOVE SOILAND: Mir ist es sicher einmal darum gegangen diese Hegemonie, von der ich wirklich finde, sie sei eine Hegemonie, des dekonstruktiven oder des queeren gender-Ansatzes aufzubrechen. Und zwar, indem ich sage, dies werde erstens an anderen Orten ganz anders diskutiert und zweitens, dass ich diese Hegemonie für eine Sackgasse halte. Also, ich hätte gar nichts gegen diesen Ansatz, wenn er plural neben anderen existieren würde! Aber so wie es bei uns gelehrt wird, so wie ich selber gezwungen bin auch zu lehren, dass dies der neuste Stand der Wissenschaft sei, das finde ich wirklich ein Problem.

Und warum es meine Kritik auch inhaltlich braucht: Ich bin davon überzeugt, dass es nach wie vor, oder dringender denn je wieder eine kollektive Artikulation der Position von Frauen braucht. Das war eigentlich mein Anliegen, mein Motiv für die Arbeit. Weil man nach 15 Jahren der Dekonstruktion feststellen muss: Auf die nach wie vor bestehende Hierarchisierung und Segregation zwischen den Geschlechtern hat sie nicht gross Einfluss genommen. Und um dies ändern zu können, muss man wieder dazu übergehen, Anliegen von Frauen im Sinne eines kollektiven Anliegens zu formulieren. Aber es ist ein wahnsinnig grosser moralischer Druck entstanden dadurch, dass alle Formen von kollektiver Artikulation von Interessen von Frauen unter dieses Verdikt gestellt worden sind, sie würden dem Heterosexismus dienen und sie würden irgendwelche Gruppierungen ausschliessen. Aber ich glaube, dass dieser Bereich, den gender anvisiert, dass dies nur einen Teil, ich würde sogar sagen nur einen kleinen Teil, der Konstruktionsweise der Geschlechter ausmacht.


Literatur

Soiland, Tove: Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Eine dritte Position im Streit zwischen Lacan und den Historisten, Wien/Berlin 2010.


*


Quelle:
ROSA:40 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe Februar 2010, S. 50-54
Redaktionsanschrift:
Rämistrasse 62, 8001 Zürich, Schweiz
E-Mail: rosa.gender@gmail.com
Internet: www.rosa.uzh.ch

Ein Einzelheft kostet 5 CHF,
das Rosa-Jahresabonnement 15 CHF / 11 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2010