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PROFIL/019: Zum Werk des jüdisch-amerikanischen Philosophen Michael Walzer (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 02/2010

Philosophie hat engagiert zu sein
Zum Werk des jüdisch-amerikanischen Philosophen Michael Walzer

Von Johannes J. Frühbauer


Der häufige Rekurs auf biblische Themen sowie die oftmals hermeneutische Vorgehensweise für die Gewinnung ethischer Überzeugungen ließen den jüdisch-amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer vor allem unter christlichen Theologen zu einem beliebten Impulsgeber und Referenzautor werden. Der Sohn ostjüdischer Immigranten wird Anfang März 75 Jahre alt.


Michael Walzer zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen der Gegenwart. Seine Thesen sind anregend, seine Reflexionen vielseitig, seine Positionen nicht unumstritten. Und man wird unwidersprochen sagen können, dass seine sozialphilosophischen und ethischen Positionen weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus bekannt sind. Zu Recht wird er daher als exponierter und insbesondere auch als origineller Vertreter der politischen Sozialphilosophie der Vereinigten Staaten charakterisiert.

In den rund 50 Jahren seines akademisch-wissenschaftlichen Wirkens hat er sich mit einer Vielzahl an Themen und Fragestellungen befasst, immer wieder auch als intellektueller Spiegel zu zeitgeschichtlichen Herausforderungen und gesellschaftlichen Problemstellungen. Im Panorama seiner Schriften trifft man unter anderem auf Erörterungen und konzeptionelle Entwürfe zu Fragen der Gesellschaftskritik, zur Problematik des Gerechten Krieges, zur Gerechtigkeitstheorie, zu Toleranz, Zivilgesellschaft, Liberalismus und zum moralischem Minimalismus.

Vor allem seine Rekurse auf biblische Themen - etwa mit seiner historischen Interpretation der geistesgeschichtlichen Exodusrezeption oder mit dem Propheten als Modell des Gesellschaftskritikers - sowie seine oftmals hermeneutisch-interpretative Vorgehensweise für die Gewinnung normativ-ethischer Überzeugungen ließen ihn vor allem auch unter den christlichen Theologen zu einem beliebten Impulsgeber und Referenzautor werden. Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen verlieh ihm in Anerkennung seiner "gesellschaftskritisch-solidarischen Gesellschaftsanalysen" sowie im Respekt für die Thematisierung und Kriterienreflexion hinsichtlich "eines friedlichen, zivilisierten und gerechten Zusammenlebens" 1998 den angesehenen Leopold-Lucas-Preis.

Dass er während der Hochphase der so genannten Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte im deutschen Sprachraum einen bemerkenswerten Bekanntheitsgrad erreichen konnte, ist in erster Linie dem unermüdlichen Engagement des Politikwissenschaftlers Otto Kallscheuer zu verdanken, der an den Übersetzungen und an der Herausgabe etlicher Schriften Walzers entscheidende Verdienste hat. Auch Walter Reese-Schäfer gehört mit Axel Honneth, Rainer Forst und Michael Haus zu jenen, die sich in ihrer systematisch-analytischen Auseinandersetzung mit den Strömungen des Kommunitarismus vor allem um eine Hervorhebung des originellen Denkers aus Princeton bemüht haben. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten war er hierzulande immer wieder auch ein geschätzter Gesprächspartner bei Konferenzen und Vorträgen zu ganz unterschiedlichen Themen seines Werkes.


Walzers Philosophie ist politisch

Der sympathische Gelehrte, eher unscheinbar, bescheiden im Gestus, aber klar im Argument, wird am 3. März 75 Jahre alt. Geboren wurde Walzer in New York City, als Sohn ostjüdischer Immigranten. Zu seinen akademischen Wirkungsstätten zählen die renommiertesten Universitäten der Vereinigten Staaten: Brandeis, Cambridge, Harvard und Princeton. An letztgenannter Stätte wirkte er bis zu seiner Emeritierung am "Institute for Advanced Studies" der "School of Social Science" unter den aus deutscher Sicht gewiss beneidenswerten Bedingungen einer von Lehrverpflichtungen befreiten Forschungsprofessur, die ihm wahrlich bestmögliche Rahmenbedingungen für seine publizistische Produktivität lieferte.

Walzers Philosophie ist politisch. Wer seine Schriften kennt, weiß, dass es ihm immer wieder um den Praxisbezug, um die Nähe zur Realität, zur konkreten politischen Gemeinschaft geht. Die Abstraktion der Argumentation verfehlt ihr Ziel, sie bewirkt nichts in einer konkreten Gesellschaft, da ihr zumeist die Zustimmung und Anerkennung der betroffenen Gesellschaftsmitglieder abgeht. Philosophie hat engagiert zu sein - und zwar in der konkreten gesellschaftlichen Situation. Walzer hat daher einen entschiedenen Vorbehalt gegenüber der Konstruktion normativer Prinzipien aus einer rein deduktiv verfahrenden theoretischen Reflexion.

Daher sieht er es als äußerst problematisch an, wenn es allein über die politisch-philosophische Reflexion möglich wäre, Rechte zu formulieren und zu etablieren, ohne dass dies über einen partizipativen Prozess demokratischer Entscheidungsfindung seine Legitimität bekommen würde. Demgegenüber hält Walzer es für möglich und letztlich auch für erforderlich, ein "engagierter Philosoph" zu sein, der die Erfahrung seiner politischen Gemeinschaft teilt und ihre Sprache spricht.

Was Walzer durchaus für sich selber in Anspruch nehmen darf: Ein politischer Denker sollte stets ein Philosoph des Volkes sein. Die Verbundenheit mit dem Volk als politischer Gemeinschaft, mit seiner Kultur und Tradition, mit seinen Erfahrungen, seinen Wertüberzeugungen und ihrer Sprache ist dennoch kein Hinderungsgrund für ein gewisses überlegenes Erkenntnisvermögen, das es ermöglicht, Impulse zur Veränderung oder Erneuerung zu geben. Der politische Philosoph wird hier letztlich zum Gesellschaftskritiker.


Walzers praxis- und realitätsnahes Verständnis der politischen Philosophie führte nicht selten zur Feststellung, er verkörpere selbst das Modell eines Gesellschaftskritikers, das er in seinen Schriften konzipiert und favorisiert hat, wobei er stets, wie er dies selbst betont, zunächst als Adressaten seines Denkens seine amerikanischen Mitbürgerinnen und Mitbürger vor Augen hat. Grundsätzlich ist der Kritiker niemand, der außerhalb der Gemeinschaft steht und von einem Nirgendwo aus seine Sozialkritik formulieren würde. Vielmehr sollte eine Gemeinschaft immer wieder feststellen können: Der Kritiker ist einer von uns. Mit uns teilt er Geschichte, Kultur, Sprache, ja schließlich das Ethos beziehungsweise die Moral.

Diese Moral gilt es in Krisen- oder Konfliktsituationen nicht nur in Erinnerung zu rufen, sie gilt es auch zu interpretieren und wo es erforderlich scheint, weiterzuentwickeln. Ausgangspunkt für die Interpretation sind gemeinsam geteilte Wertvorstellungen. Wird moralisch argumentiert, so wird eine Bestandsaufnahme des bereits existierenden partikulären Ethos vorgenommen. Und schon aus dem Vorhandensein moralischer Überzeugungen erwächst Walzer zufolge ihre moralisch verpflichtende Kraft. Als Beispiel für eine gesellschaftsimmanente Kritik dient Walzer das Prophetentum im alten Israel: Propheten wie Amos oder Hosea waren keine Sonderlinge oder Exzentriker, sie sind vielmehr zu sehen als herausragende Stimme damaliger Selbstinterpretation des jüdischen Volkes.


Walzer grenzt nun den Pfad der Interpretation ab von den Pfaden der Entdeckung (Offenbarung) und der Erfindung (etwa bei John Rawls und Jürgen Habermas). Und selbst wenn sich moralische Ansprüche innerhalb eines Gemeinwesens auf Entdeckung oder Erfindung gründen sollten, so kommt doch irgendwann der Zeitpunkt, der zur Klärung von Konflikten oder zur Regelung neuartiger Herausforderungen Interpretation erforderlich macht. Zudem wird der Rechtfertigungskontext stets durch den Anwendungskontext bestimmt. Stehen sozialkritisch eingeforderte Veränderungen an, so sind diese vor jenen zu rechtfertigen und diejenigen zu überzeugen, die von den Veränderungen betroffen sind, deren Leben sich ändern soll, ändern wird.


Moralischer Minimalismus und Menschenrechte

Die Orientierung an gemeinschaftlichen Werten, die Betonung von gesellschaftsimmanenter Kritik, die normative Orientierung am Pfad der Interpretation hat Walzer immer wieder den Vorwurf eingebracht, allzu partikularistisch in der Konzeption seiner Moralphilosophie zu sein und auf diese Weise in traditionalen oder etwa autokratisch regierten Gesellschaften die dortigen menschenrechtsverletzenden Repressionen zu legitimieren. Zu Recht lässt sich daher die Anfrage an ihn richten, wie es im Zeitalter des Pluralismus und globaler Handlungsräume um universal gültige Moralprinzipien bestellt ist.

Obgleich Michael Walzer den partikulär geprägten und gemeinschaftlich geteilten Wertüberzeugungen den Vorrang einräumt und seiner Sichtweise durchaus eine Plausibilität zukommt, ist er ebenso zur Verteidigung des "Faktums des Pluralismus" (Rawls) heutiger moderner Gesellschaften bereit und erkennt auch die Notwendigkeit an, gerade in einer globalen Dimension moralische Mindeststandards einzufordern. Mehr noch: Letztlich identifiziert Walzer eine Kernmoral, die in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich ausgeprägt ist und dennoch die Substanz für ein "minimalistisches Rechtfertigungsprogramm der Menschenrechte" liefert.

Eindrücklich ist hierbei sein Bild der "gemeinsamen Parade", ein Demonstrationszug beispielsweise für Gerechtigkeit und Wahrheit, bei dem wir, wo immer er stattfindet, ein Stück des Weges mitmarschieren können, weil wir das Grundanliegen der Betroffenen auf Anhieb verstehen und problemlos unterstützen können. Wenn es aber um die konkret-positive Ausgestaltung der fundamental und universal gültigen Werte geht, so wird sich jeder in der Gemeinschaft, der er zugehört, auf einen besonderen Weg machen, das heißt: die Konkretisierung moralischer Überzeugungen hat stets in einem partikulären Kontext zu erfolgen - getragen von den Mitgliedern einer Gemeinschaft mit ihrer Geschichte, Kultur, Sprache, mit den jeweils spezifischen "dichten" Bedeutungen und Bedürfnissen.

Eine "minimalistische" Moralität wird virulent in Krisensituationen, in denen wir in Walzers Wahrnehmung dazu übergehen eine "dünne" universalistische Moral aus unserer eigenen und aus der "dichten" und partikularen Moral anderer zu beziehen. Die dünne universalitätsfähige Moral hat jedoch weder eine historische noch eine logische Priorität: Würden wir nicht in einer dichten und daher partikulären Welt einer spezifischen Gemeinschaft leben, so hätten wir letztlich überhaupt keine konkrete Vorstellung von moralischen Begriffen wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit und anderen.


Auffällig ist, dass Walzer mit Blick auf sein Gesamtwerk sehr zurückhaltend mit dem Begriff der Menschenrechte umgeht. Das erklärt sich ein Stück weit aus seiner Präferenz für eine partikularistische Moralphilosophie. Dennoch bringt Walzer immer wieder die Idee der Menschenrechte als Rechtfertigungsgrund im Zusammenhang mit der Frage nach der Legitimität humanitärer Interventionen ins Spiel. Sein Fokus liegt hierbei auf menschenrechtlichen Kriterien, die sich sehr eng an der Frage orientieren, was grundlegend erforderlich ist, damit menschliches Leben möglich ist. Menschenrechtlich imprägnierte positive Freiheitsrechte hingegen sind wiederum partikulär zu bestimmen und auszugestalten. Wohlgemerkt: Walzer befasst sich nicht erst seit der Praxis humanitärer Interventionen, die sich vor allem seit den neunziger Jahren etabliert hat und zum Diskursgegenstand friedensethischer Reflexion wurde, mit dem Zusammenhang von Moral und Krieg.


Das Verhältnis von Krieg und Moral als Lebensthema

Die Frage nach guten Gründen, und das heißt nach moralisch zu rechtfertigenden Gründen für den Einsatz gewaltsamer Mittel in politischen Konflikten, die Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Moral ist Walzers Lebensthema schlechthin. Im internationalen politisch-philosophischen Diskurs hat er sich zweifelsohne mit seiner Schrift "Just and Unjust Wars" aus dem Jahre 1977 etabliert. Dieses Werk, dass 2006 in vierter Auflage erschien, ist aus dem Diskurs um den so genannten Gerechten Krieg nicht mehr wegzudenken. Hier ist und bleibt Walzer ein zentraler Referenzpunkt.

Mit vielen anderen US-amerikanischen Intellektuellen teilt er die Erfahrungen um die Auseinandersetzungen zum Vietnam-Krieg in den sechziger Jahren. Und obwohl er gerade dieses militärische Engagement der Vereinigten Staaten kritisierte, gehört es mit zu seinen persönlichen Entdeckungen, dass auf der intellektuellen Ebene der Auseinandersetzung letztlich moralisch - und zwar mit den Kriterien des Gerechten Krieges argumentiert wurde. So kann es nicht verwundern, dass die Lehre des Gerechten Krieges, die als bellum iustum-Lehre der katholischen Moraltheologie entstammt, in den Vereinigten Staaten durch deren ebenso intensives wie expansives Engagement in der Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts eine gänzlich andere Tradition besitzt als auf dem europäischen Kontinent und besonders in Deutschland, wo man nach 1945 froh war, sich von allem befreien zu können, was auch nur annähernd mit Krieg oder dem Begriff des Krieges zu tun hatte.


Die soziale Bedeutung der Güter

Trotz oder gerade aufgrund einer lange Phase des Kalten Krieges sah man sich erst in den neunziger Jahren - äußerst unvorbereitet - mit der Frage nach der Rechtfertigung von kriegerischem Handeln konfrontiert. Man sah es zu Recht als zivilisatorische Errungenschaft an, dass es gelungen war, sich zu einer friedlichen, kriegsabstinenten (gewissermaßen im Denken und in der Sprache) Demokratie zu entwickeln. Die Schwierigkeiten und Hemmungen, sich im Denken und im Diskurs mit der harten Realität des Krieges auseinanderzusetzen, treten gerade in unseren Tagen mit Blick auf den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan deutlich zu Tage. Jedoch war es unumgänglich, herausgefordert durch den zweiten Golfkrieg nach der Annexion Kuwaits durch den Irak im Jahr 1991 sowie durch die ethischen Säuberungen im Balkankonflikt Mitte der neunziger Jahre, sich auch und endlich aus ethischer Perspektive mit der Frage nach Legitimität und Grenzen der Anwendung kollektiver Gewaltmittel zu befassen.

Nicht zuletzt der Gesichtspunkt der Begrenzung spielt in Walzers Denken eine zentrale Rolle: Der ethisch akzentuierten Frage nach den Kriterien eines gerechten, und das meint eines gerechtfertigten Krieges, geht es nicht um die Lizenz des militärisch organisierten Tötens, sondern um möglichst hohe Hürden, die nur mit dem Vorliegen eines ganzes Bündels an guten Gründen und erfüllten Kriterien zu nehmen sind.

Walzer ist dabei in zwei Punkten Recht zu geben: Erstens kann und darf auch die Welt des Krieges, dort wo gekämpft und notfalls auch getötet wird, also das Aktionsfeld militärischen Handelns, keine moralfreie Zone sein, und zweitens ist mit der reflexiven und analytischen Kompetenz des politischen Denkers jede Möglichkeit des Diskurses gerade mit Militärs wahrzunehmen, um hier - bei allen erforderlichen Realismus - sozusagen als friedensethisches Korrektiv wirken zu können.


"Gute Zäune - gute Nachbarn" ist eine aphoristische Anleihe, die Michael Walzers Bestreben versinnbildlicht, in einer komplexen Gesellschaft für eine "Kunst der Trennungen" einzutreten. Für den Ansatz seiner Gerechtigkeitstheorie, die er in seinem Opus Magnum "Sphären der Gerechtigkeit. Eine Verteidigung von Pluralismus und Gleichheit" (deutsche Übersetzung 1992) konzipiert und umfassend dargelegt hat, ist die Auffassung grundlegend: Durch eine klare Grenzziehung zwischen den gesellschaftlichen Sphären muss vermieden werden, dass sich Vorteile in einem gesellschaftlichen Bereich zu Vorteilen und Privilegien in anderen gesellschaftlichen Bereichen ummünzen lassen. Wer etwa in der wirtschaftlichen Sphäre erfolgreich ist und es zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht hat, darf aus dieser Stellung keinen Vorteil in einer anderen Sphäre ziehen, etwa allein deshalb in ein politisches Amt gelangen.

Kein soziales Gut X der Sphäre A soll ein anderes soziales Gut Y der Sphäre B dominieren. Mit seinem sphärenorientierten Denken wendet sich Walzer entschieden gegen die von Rawls konzipierte Vorstellung, dass ein einziges Gerechtigkeitsprinzip beziehungsweise einige wenige abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien in der Lage sein sollen zu bestimmen, wie alle wichtigen Güter in den unterschiedlichen Sphären zu verteilen sind. Walzer hingegen betont die Komplexität von Verteilungsvorgängen und legt dar, dass die Distributionsverfahren, -agenten und -kriterien der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Güter in den einzelnen Sphären gerecht werden müssen und keinesfalls über ein singuläres Kriterium geregelt werden können. Walzer vertritt daher die Eigenständigkeit von Gerechtigkeitsregeln und die Autonomie einzelner Verteilungssphären.

Im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie hat Walzer zentrale Begriffe wie "Theorie der Güter" oder "komplexe Gleichheit" geprägt. Über die reine Funktion als Tausch- und Verteilungsobjekte hinaus erhalten Güter bei Walzer eine soziale Bedeutung: Eingeflochten in die Interaktion werden Güter zum Medium sozialer Beziehungen, es entstehen oder existieren gemeinsame Vorstellungen über den Wert und die Bedeutung des jeweiligen Gutes, das Ersinnen und Herstellen gerade von sozialen Gütern wirkt sich identitätsbildend auf die beteiligten Individuen aus.

Aus der sozialen Bedeutung der Güter lassen sich schließlich die Distributionskriterien gewinnen. Wenngleich Gleichheit eine Orientierungsmarke für Distributionsvorgänge darstellt, so plädiert Walzer gerade nicht für einen radikalen Egalitarismus der rigiden Gleichmacherei, sondern für einen offenen Egalitarismus: Gemäß seiner grundlegend liberalen Einstellung hält er fest an einer politischen Idee von Gleichheit, die vereinbar ist mit Freiheit, die sich geradezu aus Freiheit ergibt. Der Begriff einer "komplexen Gleichheit" reflektiert dabei die eingeforderte Trennung unterschiedlicher gesellschaftlicher Verteilungssphären und die Verschiedenheit der Verteilungskriterien.

Nach wie vor aktuelle Beispiele sind die Bereiche Bildung und Gesundheit. Gerade hier dürfte besonders deutlich werden, dass der monetäre Vorteil in der Sphäre Wirtschaft/Markt, und das heißt ganz konkret soziale Schichtzugehörigkeit von Schülern oder Studierenden oder das Zahlungsvermögen von Patienten eben nicht ausschlaggebend sein darf für die Verteilung von Gütern, die hier gleichzusetzen ist mit Zugang zu Bildungsrichtungen oder medizinischen Leistungen im Kontext der Gesundheitsversorgung. Das unnachgiebige Bestreben Barack Obamas für eine längst überfällige Reform des US-amerikanischen Gesundheitssystems dürfte hier gänzlich auf der Linie der sozialethischen Vorstellungen Walzers liegen. Noch stärker als in den anderen Schriften Walzers wird gerade in seinem Gerechtigkeitswerk deutlich, wie sehr seine Methodik bestimmt ist durch historisch-anthropologische Zugänge zur jeweiligen Fragestellung und konkret-praktische Veranschaulichungen seiner Reflexionen. Hierfür steht in gewisser Weise auch das immer wieder erwähnte Prädikat seiner Originalität.


Michael Walzer stellt mit seinem wissenschaftlichen, publizistischen und bürgerschaftlichem Engagement ein Vorbild dar für gesellschaftlich-solidarische und zugleich intellektuelle Einmischung. Für seine vielseitigen Impulse für den politisch-philosophischen und sozialethischen Diskurs auf dem europäischen Kontinent gebührt im fraglos Anerkennung, tiefempfundener Respekt und Dankbarkeit, die über die Grenzen des Wissenschaftlichen weit hinausreicht. In seinen aktuellen Projekten widmet sich Michael Walzer weiterhin der Koordination und Herausgabe von zwei weiteren Bänden zur jüdischen politischen Philosophie sowie einem neuen Vorhaben, in dem es ihm darum gehen wird, die politische Perspektive der biblischen Autoren darzustellen und zu analysieren. Die Tatsache, dass es - wie er selbst sagt - zu viele Kriege auf dieser Welt gibt, und sich hier immer wieder unausweichlich die politisch-ethischen Fragen stellen, binden ihn an diesen Diskurs und somit weiterhin an sein Lebensthema.


Der promovierte Theologe Johannes J. Frühbauer (geb. 1967) übernimmt ab Februar die Professurvertretung für Theologische Ethik/Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Von 1996 bis 2001 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Weltethos, seit 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 02, Februar 2010, S. 80-84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2010