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THEORIE/011: Geschlechter in der Antike (ROSA)


ROSA:37 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - September 2008

Geschlechter in der Antike

Von Heinz-Jürgen Voss


Naturphilosophische (bzw. biologisch-medizinische) Geschlechtertheorien waren zu ihrer Zeit niemals unumstritten. Im Folgenden wird für antike naturphilosophische Geschlechtertheorien herausgestellt, dass diese differenziert und vielgestaltig waren. Damit werden vereinfachende Betrachtungen Laqueurs korrigiert.

Seit den 1990er-Jahren wird in Ausführungen zu "modernen" Geschlechtertheorien, die sich seit dem 17. und 18. Jh. herausbildeten, oft ein knapper Abschnitt auf "davorliegende" Zeiten verwandt. Kurz wird ein vermeintlich uniformes Geschlechtermodell "der Antike" abgehandelt, das bis zur Renaissance und Aufklärung gewirkt habe. Solche simplifizierenden Betrachtungen sollten stutzig machen, da der Begriff "Antike" Gesellschaften weiter geographischer und zeitlicher Räume beinhaltet. Unterschieden werden u. a. antike griechische Stadtstaaten, von denen es ca. 700 gab, die römische Republik und das römische Kaiserreich. Neben der Differenziertheit der "antiken Welt", ist ein weiteres in solchen Abhandlungen zur "Moderne" unterschätztes Problem, dass nur wenig Material (und dieses meist aus wenigen Regionen, bspw. Athen) überliefert ist. Auch das überlieferte Material zum gesellschaftlichen Umgang mit "Geschlecht" stellt lediglich Stückwerk dar; es kann nur eine Ahnung davon geben, welche Rolle "Geschlecht" gesellschaftlich eingenommen haben könnte. Hinzu kommt, dass aller Wahrscheinlichkeit nach lediglich mehrheitlich anerkannte Auffassungen Verbreitung und Überlieferung gefunden haben.


Vielzitiert, zu wenig kritisiert: Das vermeintliche "Ein-Geschlechter-Modell"

Kritisch zu betrachten sind daher Arbeiten, die sich, selbst vor einem solch problematischen Hintergrund, auf nur wenige Gelehrte(1) stützen und damit heute noch nachvollziehbare Differenziertheit von Betrachtungen weiter einebnen. Besonders deutlich wird dies in der Arbeit von T. Laqueur, die seit ihrem Erscheinen im Jahr 1990 (in Dt. 1992) mehrfach aufgelegt und viel rezipiert wurde. In Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud erarbeitete Laqueur, im Wesentlichen auf naturphilosophischen Geschlechterbetrachtungen von Galenos von Pergamon (129-199 u.Z., also in der Antike zeitlich spät) aufbauend, ein Geschlechtermodell der Antike. Dieses Geschlechtermodell umschrieb Laqueur als "Ein-Geschlechter-Modell", das bis zur Renaissance und Aufklärung gewirkt habe und das im 18. Jh. durch ein "Zwei-Geschlechter-Modell" abgelöst worden sei, welches dezidiert zwischen Frau und Mann unterschied.(2) Laqueur bezog sich vor allem darauf, dass Galenos die weiblichen und männlichen Genitalien als äquivalent ansah. Vagina, Gebärmutterhals, (weibliche) Hoden und Gebärmutter beschrieb Galenos in De usu partium (lat. Titel, Über den Gebrauch der Körperteile) als die nach innen gewandten Entsprechungen von Vorhaut, Penis, (männlichen) Hoden und Hodensack.(3) Für diesen Unterschied führte Galenos das physiologische Element "Hitze" als ursächlich an: Eine "heißere" und "trockenere" Konstitution ermögliche es dem Mann, Genitalien nach aussen zu kehren, wogegen dies der Frau auf Grund einer "kälteren" und "feuchteren" Konstitution versagt bleibe.(4)


Körperliche Merkmale in den Schriften von Galenos

Abgesehen davon, dass sich Laqueur für die Antike weitgehend auf die Geschlechtertheorien von Galenos beschränkte und andere Naturphilosophinnen ausser acht liess,(5) sind auch zu den galenischen Theorien Ergänzungen zu treffen: So schrieb Galenos den (männlichen) Hoden wichtige Eigenschaften für die Ausprägung männlicher körperlicher Merkmale zu. Ohne (männliche) Hoden würde ein Mann entmannt, wodurch etwas Drittes, neben Frau und Mann, entstünde. An anderer Stelle verwies Galenos hingegen auf die Ähnlichkeit von Eunuchen und Frauen.(6) Weitere Geschlechtsunterschiede beschrieb Galenos geschlechtlich binär für Brust, Blutgefäße und Fleisch. Der Puls sei bei Männern vehementer als bei Frauen. Während Galenos für Männer die Möglichkeit ausführte, durch ungesunde Lebensweise in den Zustand "weiblicher Schwäche" verfallen zu können, führte er die Umkehrung - die Möglichkeit von Frauen, "männliche Stärke" zu erlangen - nicht aus. Stattdessen riet Galenos Frauen ausdrücklich davon ab, Männern nachzueifern, da ihre (im Vergleich. zu Männern "kältere" und "feuchtere") Konstitution für sie den Zustand der Gesundheit darstelle.(7)


Zeugung und Vererbung in den Schriften von Galenos

Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang auch Überlegungen zu Zeugung und Vererbung. Diese stellten für antike (männliche) Naturphilosophinnen, von denen uns Schriften überliefert sind, einen prominenten Zugang zu Geschlechterbetrachtungen dar. Galenos wählte diesbezüglich, in Anlehnung an hippokratische Schriften (Schriften vom 4. Jh. v.u.Z. bis zum 1. Jh. u.Z., die Hippokrates Namen tragen), einen eher egalitären Ausgangspunkt für die Zeugungsbeiträge von Frau und Mann. Sowohl Frau als auch Mann hätten Samen (beide auch mit stofflichem und bewegendem Prinzip!), die sich in der Gebärmutter mischen würden ("Zweisamenlehre"). Dabei wies er allerdings, wobei er Aristoteles (384-322 v.u.Z.) folgte, den weiblichen Samen als "kälter", "feuchter" und "dünner" im Vergleich zum männlichen Samen aus. Für die Vererbung von Merkmalen führte Galenos aus, dass beide, Frau und Mann, beim Ausstossen des Samens zunächst Samen besserer Qualität ausstossen würden, denen dann Samen schlechterer Qualität folgten. Die weiblichen und männlichen Samenbeiträge für ein Körpermerkmal würden miteinander konkurrieren, schliesslich setze sich der Beitrag mit der besseren Qualität durch.

Galenos nahm weitere Einschränkungen und Bewertungen zu Ungunsten weiblichen Geschlechts vor, mit Auswirkung ab der frühen Embryonalentwicklung. Wie Aristoteles betrachtete Galenos das Blut als Ursprung des Samens ("hämatogene Samenlehre"). Das Blut würde "verkocht" und mit "Pneuma" (Luft) versehen zu Samen umgewandelt. Aus dem Ursprung der Blutgefäße ergaben sich bei Galenos für die Ausprägung von Geschlecht bedeutsame Unterschiede: Die Blutgefässe, die (weibliche und männliche) Hoden und Uterus versorgten, hätten auf der linken und rechten Seite unterschiedliche Ursprünge. Rechtsseitig würden die Samen bildenden Blutgefäße direkt aus der Vena cava und der Aorta entspringen und daher "gereinigtes" Blut zu den rechten Hoden und zur rechten Uteruskammer führen. Die linken Hoden und die linke Uteruskammer würden hingegen von aus der Nierenarterie entspringenden Blutgefässen gespeist und würden "ungereinigtes", "wässriges" Blut befördern. Als Folge führte Galenos aus, dass auf Grund höherer "Feuchte" und "Unreinheit" der Samen linksseitig schlechter sei und daraus ein weiblicher Embryo resultiere, rechtsseitig würde auf Grund besserer "Reinigung" und "Trocknung" des Blutes/Samens ein männlicher Embryo entstehen.(8)


Ein Zwischenfazit

Also: auch Galenos Geschlechtertheorie lässt sich nicht auf das einfache Modell einer auf "Hitze" basierenden Un/Vollkommenheit von Menschen reduzieren. Vielmehr betrachtete Galenos weibliches und männliches Geschlecht schon auf Grund der Links- oder Rechtsseitigkeit von (weiblichen und männlichen) Hoden und Uterus in ihrer embryonalen Anlage als verschieden, was sich auf ihre physiologischen und anatomischen Eigenschaften auswirke. Schliesslich würden erst die männlichen Hoden einem Mann zu einer männlichen Konstitution verhelfen. Dies als "Ein-Geschlechter-Modell" zu fassen, würde der Differenziertheit in den Auffassung des Galenos nicht gerecht. Auch impliziert dieser Begriff, dass es der Frau durch einen bloßen "Hitzezuwachs" möglich würde, die "vollkommene" männliche Konstitution zu erlangen. Dies schloss Galenos selbst aus.


Weitere antike Geschlechtertheorien

Bei anderen antiken (männlichen) Naturphilosophinnen werden geschlechtliche physiologische und, anatomische Unterscheidungen deutlicher. So erfuhr die Frau, in zahlreichen hippokratischen Schriften(9) besondere Betrachtung. Entsprechende "Sonderbetrachtungen" für den Mann finden sich hingegen nicht. Soranos von Ephesos (um 100 u.Z.) veröffentlichte eine kleine Schrift, die er Gynaikeia (lat., Gynäkologie) nannte. Die deutlichsten Ausführungen finden sich bei Aristoteles, welcher der Frau einen Samenbeitrag absprach ("Einsamenlehre"; die Frau habe nur eine Vorstufe des Samens, die nicht aktiv zur Vererbung beitrage; sie ernähre den Embryo) und ihr eine lange Liste von Mängeln im Vergleich zum Mann zuschrieb: Die Frau unterscheide sich durch Gebärmutter, äussere anatomische Geschlechts- und andere körperliche Merkmale, durch eine geringere Gliederung und Sehnigkeit, durch "feuchteres Fleisch", ein kleineres Gehirn und schwächeren Körperbau vom Mann. Die Beschreibung von Merkmalen der Frau als "weniger", "kleiner", "schwächer", "kälter", "feuchter" deklinierte Aristoteles bis hin zu geistigen Fähigkeiten durch und rechtfertigte damit die Einengung des gesellschaftlichen Wirkungsraums von Frauen.(10)


Fazit: Die Vielgestaltigkeit antiker naturphilosophischer Geschlechtertheorien

Antike naturphilosophische Geschlechtertheorien waren differenziert. Es ist hilfreich, diese Differenziertheit wahrzunehmen und keine Vereinfachungen zu treffen, um sich auch bei aktuell in der gesellschaftlichen Diskussion befindlichen "modernen" biologischen und medizinischen Geschlechtertheorien möglicher alternativer Theorien - die sich gegen heteronormative Zweigeschlechtlichkeit aussprechen - bewusst werden zu können. Ein Blick in die alte, in die jüngere und jüngste Geschichte verdeutlicht, dass naturphilosophische Geschlechtertheorien in ihrer Zeit umstritten waren und sind, da sie immer auch die gesellschaftliche Stellung ihrer Schöpferinnen und Vertreterinnen widerspiegeln. Denn: Geschlechtertheorien fügen sich in das jeweilige gesellschaftliche System; eine restriktiv geschlechtlich differenzierte Gesellschaft (wie es für antike Gesellschaften angenommen wird)(11) wird auch geschlechtlich differenzierende Naturphilosophien hervorbringen, bzw. mehrheitlich bevorzugen. Vor diesem Hintergrund gilt es auch aktuelle binäre biologische und medizinische Geschlechtertheorien in den Blick zu nehmen, diese als gesellschaftlich konstruiert auszuweisen und geschlechtlich plurale - oder ganz ohne Geschlecht auskommende - Alternativen zu wählen bzw. zu entwickeln.


Anmerkungen:

(1) In diesem Aufsatz werden verallgemeinernde geschlechtsspezifische Bezeichnungen stets weiblich genutzt.

(2) Für eine erste Kritik siehe: Park, K., Nye, R. A. Destiny is Anatomy, Review of Laqueurs Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud. The New Republic 18 (1991), S. 53-57; vgl.: Grundmann, S.: Geschlecht und Sexualität in den medizinischen Schriften Galenos, Bulletin - Texte 31 (2006), S. 78-95.

(3) Eine begriffliche Unterscheidung, wie heute üblich, wurde zwischen weiblichen und männlichen Hoden nicht vorgenommen.

(4) Galenos: De usu partium (On the Usefullness of the Parts of the Body). Translation by Margaret Tallmadge. Cornell University Press, Ithaca, 1968, Buch: XIV, Kapitel 5/6.

(5) Vgl. für einen Einstieg in antike Betrachtungen von Geschlecht verschiedener (ausschließlich männlicher) Naturphilosophinnen etwa: Lesky, E. Die Zeugungs- und Vererbungslehre der Antike und ihr Nachwirken. Mainz, 1950; Horowitz, MC. Aristotle and Woman. Journal of the History of Biology 9 (2) 11976), 193-213; Flemming, R.: Medicine and the making of Roman women: gender, nature and authority from Celsus to Galen. Oxford 2000; King, H, : Hippocrates' woman: reading the female body in ancient Greece. London! New York 1998.

(6) Vgl. Lesky 1950, 182f; Flemming 2000, 323f, 350-356.

(7) Vgl. Flemming 2000, 314-317.

(8) Galenos a: XIV 6/7; vgl. u.a. Lesky 1950, 178-186.

(9) In: De Natura Muliebri (lat. Titel, Uber die Natur der Frauen), Dc Morbis Mulierum (lat. Titel, Über die Krankheiten der Frauen), De Sterilibus (lat. Titel, Über sterile Frauen), De his quae ad uirgines spectant (lat. Titel, Über die (Krankheiten von) jungen Mädchen/Jungfrauen).

(10) In: Historia Animalium (lat. Titel, Geschichte der Tiere), De Generatione Animalium (lat. Titel, Über die Entstehung der Tiere), Politica (lat. Titel, Politik).

(11) Vgl. einführend zur gesellschaftlichen Rolle von Geschlecht, insbesondere mit Bezug auf Frauen etwa: Duby, G., Perrot, M., Pantel, P. S. (Hg.): Geschichte der Frauen - Band 1 Antike. Frankfurt/Main, New York 1993 (frz. 1990); Pomeroy, S.B, Goddesses, Whores, Wives, and Slaves - Women in Classical Antiquity. New York 1995 (1. Aufl. 1975).


Autorin
Heinz-Jürgen Voss, Jg. 1979, Studium der Dipl.-Biologie in Dresden und Leipzig (Abschluss 2004), aufbauende Studien in Philosophie, Sozialpolitik und Geschlechterforschung in Göttingen (2004/2005), aktuell Promotion an der Universität Bremen zu "Geschlechterdekonstruktion aus biologisch-medizinischer Perspektive" (Arbeitstitel), Mitherausgeberin von "Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik" (Berlin, 2008).
loxxel@web.de


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Quelle:
ROSA:37 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe September 2008, S. 46-49
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2009