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THEORIE/012: Das Wesen der Natur - Physik (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 6/11 - Juni 2011

Serie Philosophie (Teil 7) Physik
Das Wesen der Natur

Von Michael Esfeld


Auf einen Blick
1) Naturphilosophie versucht,die Grundlagen der Natur zu klären: was Objekte, Raum und Zeit, Kausalität, Zeitrichtung und Naturgesetze sind.
2) Die Quantenphysik erfordert es,die klassische atomistische Sicht der Natur durch eine holistische Perspektive zu ersetzen.Wie der Übergang von quantenmechanischen Superpositionen und Zustandsverschränkungen zu klassischen Eigenschaften genau abläuft,ist dabei eine offene Frage.
3) Karl Poppers Begriff der Propensität liefert eine Interpretation quantenmechanischer Wahrscheinlichkeiten als ein Maß für die Tendenz eines Objekts, bestimmte Wirkungen zu produzieren.


Was ist Realität? Warum läuft Zeit immer nur in eine Richtung? Was bedeutet Kausalität? Antworten auf diese Fragen der modernen Naturphilosophie liefert die Quantenphysik.


Die Naturphilosophie versucht, die natürliche Welt als Ganzes zu ergründen. Ihre Wurzeln hat sie bereits in der griechischen Antike bei den Vorsokratikern. Seit dem Beginn der Neuzeit stützen sich Naturphilosophen auf die empirischen Naturwissenschaften - vor allem auf die Physik.

Heute gelten folgende Fragen als zentral für die Naturphilosophie: Was sind Objekte? Was sind Raum und Zeit? Was bestimmt die Richtung des Zeitpfeils? Was sind die Grundlagen von Kausalität und Naturgesetzen? Die Quantenphysik wirft eine Reihe von traditionellen philosophischen Antworten auf diese Fragen über den Haufen.

Im Alltag wie auch in der klassischen Physik geht man von einzelnen Objekten aus. Diese »Teilchen« sollen stets einen klar definierten Ort einnehmen und eine eindeutig bestimmte Bahn in Raum und Zeit haben - sie sind »wohlbestimmt«.

Die Quantenphysik, die sich in erster Linie mit dem Mikrokosmos beschäftigt, erlaubt hingegen Zustände von Objekten, in denen diese keinen »definiten« Ort und damit auch keine solche Bahn in Raum und Zeit haben. Allgemein gesagt sind wohlbestimmte numerische Werte von Eigenschaften in der Quantenphysik die Ausnahme. Stattdessen besteht der Zustand eines Quantenobjekts in der Regel in einer Überlagerung oder Superposition aller möglichen Werte der betreffenden Eigenschaften. Ferner sind die Werte beziehungsweise Werteverteilungen gewisser Eigenschaften miteinander korreliert, das heißt, sie sind nicht unabhängig voneinander bestimmbar. Das berühmteste Beispiel bilden Ort und Geschwindigkeit (genauer: der Impuls) eines Quantenobjekts: Je mehr sich die Werteverteilung des Orts einem definiten numerischen Wert annähert, desto breiter streuen die Werte seiner Geschwindigkeit. Das ist eine Konsequenz von Heisenbergs berühmter Unbestimmtheitsrelation.

Doch damit nicht genug: Nicht nur sind manche Eigenschaften eines Quantenobjekts voneinander abhängig. Vielmehr ist es, wenn man ein Quantensystem betrachtet, das aus mehreren Teilobjekten besteht, in der Regel so, dass den Teilobjekten gar nicht je für sich Zustände zukommen. Dieser Sachverhalt wurde erstmals von Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen 1935 in einem Gedankenexperiment aufgezeigt und wird heute als Verschränkung bezeichnet, von Einstein auch »spukhafte Fernwirkung« genannt.

Betrachten wir das einfachste Beispiel, die Verschränkung der Spinzustände zweier Elektronen (oder Photonen), die zusammen von einer Quelle ausgesandt werden und sich dann in entgegengesetzte Richtungen voneinander entfernen. Der Spin mikrophysikalischer Objekte ist eine Art Eigendrehimpuls. Der Spin der Elektronen kann prinzipiell nur zwei Werte annehmen, »Spin plus« und »Spin minus«. Im verschränkten System der zwei Elektronen hat jedoch keines der beiden Elektronen für sich einen bestimmten Spinwert. Der Gesamtzustand des Zwei-Elektronen-Systems ist eine Superposition der Korrelationen »erstes Objekt Spin plus und zweites Objekt Spin minus« mit »erstes Objekt Spin minus und zweites Objekt Spin plus« in jeder Richtung.

Daraus folgt: Sobald eines der beiden Objekte einen definiten Wert des Spins in einer Raumrichtung annimmt - etwa bei einer Messung, deren Ergebnis entweder »Spin plus« oder »Spin minus« ergibt -, erhält das andere Objekt augenblicklich den entgegengesetzten Spinwert in dieser Raumrichtung, und zwar unabhängig davon, wie weit die beiden Objekte voneinander entfernt sind. Diese inzwischen vielfach gemessenen Beziehungen sind als Einstein-Podolsky-Rosen- oder EPR-Korrelationen bekannt.


Ein Theorem mit großen Auswirkungen

Zustandsverschränkungen sind nicht auf zwei Teilchen beschränkt, es können im Prinzip beliebig viele Objekte beteiligt sein. Sie betreffen alle Eigenschaften, deren Werte oder Werteverteilungen sich in der Zeit ändern. Sie sind vor allem unabhängig vom räumlichen oder raumzeitlichen Abstand der betreffenden Objekte. Unter geeigneten Bedingungen könnte sich die Verschränkung selbst über astronomische Distanzen erstrecken.

Superpositionen und Zustandsverschränkungen haben nichts mit einem Mangel an Wissen unsererseits zu tun. In dem oben genannten Beispiel ist es nicht so, dass wir den Wert des Spins von jedem der beiden Quantenobjekte nicht kennen und deshalb von einer Zustandsverschränkung sprechen, sondern solche Spinwerte gibt es objektiv gar nicht.

Das zeigt das berühmte Theorem von John Bell. Der nordirische Physiker konnte 1964 folgende fundamentale Aussage beweisen: Wenn die Eigenschaften von Quantenobjekten unabhängig voneinander bestimmte Werte hätten, dann könnte es nicht die Korrelationen geben, welche aus dem Formalismus der Quantenmechanik folgen. Mit anderen Worten, die Quantenmechanik wäre in diesem Fall schlicht und einfach falsch. Die Korrelationen, die die Quantenmechanik vorhersagt, wurden jedoch experimentell bestätigt. Daraus folgt: Wir müssen davon ausgehen, dass Superpositionen und Verschränkungen objektiv in der Natur bestehen.

Der experimentelle Nachweis dieser Korrelationen wurde erstmals 1982 durch den französischen Physiker Alain Aspect und seine Mitarbeiter erbracht. Die entsprechenden Experimente sind so aufgebaut, dass die Spinrichtung, die an jedem der beiden Objekte gemessen wird, erst dann festgelegt wird, wenn der Abstand zwischen beiden so groß ist, dass kein Signal, das sich maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet, den Messwert von dem einen Objekt an das andere übermitteln könnte; und dennoch sind, wie von der Quantentheorie vorausgesagt, die Messergebnisse miteinander korreliert.

Wir können diese Korrelationen jedoch nicht nutzen, um Signale mit Überlichtgeschwindigkeit zu senden, weil wir die Messergebnisse nicht kontrollieren können; insofern liegt kein experimenteller Widerspruch zur speziellen Relativitätstheorie vor. Dennoch widersprechen die Korrelationen der Grundannahme der speziellen Relativitätstheorie, nach der Ereignisse nur durch Faktoren bestimmt sind, die in deren so genanntem Vergangenheitslichtkegel liegen, also kausal abhängig sind. Insbesondere der amerikanische Philosoph Tim Maudlin von der Rutgers University (New Brunswick, US-Bundesstaat New Jersey) hat den Konflikt zwischen der Nicht-Lokalität der quantenmechanischen EPR-Korrelationen und den Lokalitätsbedingungen der speziellen Relativitätstheorie untersucht.

Wie diese Korrelationen zu verstehen sind, ist eine harte Nuss für Quantenphysiker ebenso wie für Naturphilosophen. Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis solcher Beziehungen ist die Suche nach der Antwort auf die Frage, was für eine Art von Objekten die Quantensysteme sind. Sobald die Zustände mehrerer Quantenobjekte der gleichen Art miteinander verschränkt sind, lassen sie sich durch nichts unterscheiden. Alle Elektronen beispielsweise haben die gleichen zustandsunabhängigen Eigenschaften wie Ladung oder Ruhemasse, so dass sie sich nicht durch solche Eigenschaften individualisieren ließen.

Was ihre zustandsabhängigen Eigenschaften betrifft - wie Ort, Impuls oder Spin in jeder Raumrichtung -, so gibt es im Fall von Verschränkungen gar keine solchen Eigenschaften, die man jedem der betroffenen Quantenobjekte für sich genommen zuschreiben könnte. Im Gegensatz zu den Objekten der klassischen Physik, die sich immer durch ihren Ort und damit durch ihre Bahn in Raum und Zeit voneinander trennen lassen, sind Quantensysteme folglich keine Objekte, die über eine »intrinsische Identität« verfügen: Bei Zustandsverschränkungen unterscheiden sich die betroffenen Quantenobjekte durch nichts voneinander; man kann dementsprechend nicht ein einzelnes dieser Objekte kennzeichnen und es später wiedererkennen.

Im Fall der oben genannten Experimente ergibt es beispielsweise keinen Sinn zu fragen, ob Objekt 1 auf der linken oder der rechten Seite der experimentellen Anordnung gemessen wurde. Man steckt zwei Quantenobjekte hinein, und es kommen zwei Quantenobjekte heraus. Das ist alles, was man sagen kann. Diese Objekte besitzen keinerlei individuelle Identität.

Naturphilosophen sprechen hier von Strukturenrealismus statt von individuellen Objekten. Man kann eine physikalische Struktur als ein Netz konkreter physikalischer Relationen zwischen Objekten verstehen, wie zum Beispiel der Relationen der Zustandsverschränkung. Für diese Objekte ist es allein wesentlich, in solchen Relationen zu stehen, statt über eine intrinsische Identität zu verfügen. Deshalb stützt die Quantenphysik einen naturphilosophischen Holismus statt - wie die klassische Physik - einen naturphilosophischen Atomismus.

In der klassischen Mechanik ist jeder Prozess zeitlich umkehrbar. Jeder Prozess ist wie ein Film, der vorwärts oder auch rückwärts laufen könnte. Irreversibilität und damit die Auszeichnung einer Zeitrichtung wird gemeinhin mit makroskopischen Phänomenen in Verbindung gebracht. Das Leben beispielsweise ist ein Prozess, der von der Geburt hin zum Tod verläuft und nicht umgekehrt.

In der klassischen Physik tritt die Zeitrichtung explizit allein in der Thermodynamik auf: Die Entropie eines abgeschlossenen Systems bleibt gleich oder wächst, sie kann aber niemals abnehmen. Führt man die Thermodynamik auf die statistische Mechanik als fundamentalere Theorie zurück, dann erklärt man die Entropiezunahme letztlich mit den Anfangsbedingungen des Universums: Das Universum habe seinen Ausgang von einem Zustand extrem niedriger Entropie genommen. Vom Urknall an wächst also die Entropie und prägt über den kosmologischen Zeitpfeil allen makroskopischen Prozessen ihre Richtung auf.

Auch in der Quantenphysik tritt Irreversibilität und damit eine Zeitrichtung im Übergang zu makroskopischen Phänomenen auf, jedoch mit anderem Stellenwert. Das liegt am so genannten quantenmechanischen Messprozess. Angenommen, in einem abgeschlossenen Behälter seien eine Katze, ein Hammer, eine mit Gift gefüllte Phiole sowie eine kleine Menge einer radioaktiven Substanz. Sobald ein radioaktives Atom zerfällt, löst es einen Mechanismus aus, durch den der Hammer den Glasbehälter mit Gift zerschlägt. Daraufhin stirbt die Katze durch Einatmen des Giftes.

Das ist der berühmte Gedankenversuch mit »Schrödingers Katze«, den sich der österreichische Physiker 1935 ausdachte. Er entspricht dem oben beschriebenen von Einstein, Podolsky und Rosen aus dem gleichen Jahr - mit dem Unterschied, dass bei Schrödinger eine Katze und damit ein makroskopisches System die Stelle des zweiten Quantenobjekts einnimmt. Wenn wir den Formalismus der Quantentheorie auf diese Situation anwenden, kommen wir wiederum zu dem Schluss einer Zustandsverschränkung: Nach kurzer Zeit ist der Zustand des Gesamtsystems eine Superposition der Korrelation »Kein Atom zerfallen, Phiole intakt und Katze lebendig« mit der Korrelation »Ein Atom zerfallen, Phiole zerbrochen und Katze tot«.

Die Pointe von Schrödingers Gedankenexperiment ist nun diese: Während Zustandsverschränkungen auf dem Niveau mikrophysikalischer Quantenobjekte akzeptabel sein mögen (diese sind eben keine Individuen) und inzwischen sogar experimentell nachgewiesen sind, so ist es offensichtlich absurd anzunehmen, dass Zustandsverschränkungen auch makroskopische Objekte betreffen können. Eine Katze wäre dann in einer Superposition aus lebendig und tot. Das ist das so genannte Messproblem der Quantenmechanik: Schon der Hammermechanismus und spätestens die Katze sind Vorrichtungen, welche messen, ob das Atom zerfallen ist oder nicht. (Anmerkung der Schattenblick-Redaktion: Die entsprechende Illustration in der Druckausgabe ist mit folgendem Text unterschrieben: Lebendig oder tot? In der Quantenphysik ist Realität vieldeutig, beide Zustände sind überlagert - bis zum Zeitpunkt der Messung.)


Wie lassen sich Verschränkungen durch Messprozesse auflösen?

Wie kann man aber von der Quantenmechanik ausgehend verstehen, dass solche makroskopischen Systeme wohldefinierte numerische Werte ihrer Eigenschaften haben? Und wie können mikrophysikalische Objekte in Interaktion mit solchen makroskopischen Objekten definite numerische Werte ihrer Eigenschaften annehmen, so dass die quantenphysikalischen Superpositionen und Zustandsverschränkungen durch Messprozesse aufgelöst werden?

Was Johann von Neumann schon 1932 postulierte und was seitdem in den meisten Lehrbüchern der Quantenmechanik steht, bietet leider keine Antwort auf diese Frage: Wenn eine Messung stattfände, so seine damals geäußerte und seitdem weithin übernommene Lehrmeinung, ändere sich die Zeitentwicklung der Quantenobjekte abrupt. Statt weiterer Verschränkung fände in diesem Augenblick eine Reduktion des Gesamtzustands auf genau einen Teilzustand statt, der bis dahin noch mit anderen Zuständen überlagert war. Der Akt der Messung beende den Zustand der Superposition. Danach sei das System entweder im Zustand »Kein Atom zerfallen, Phiole intakt und Katze lebendig« oder im Zustand »Ein Atom zerfallen, Phiole zerbrochen und Katze tot«.

Eine präzise Definition von »Messung« wird dabei jedoch nicht gegeben. Das ist auch nicht möglich. Denn physikalisch gibt es keinen Unterschied zwischen einem Messprozess und einer beliebigen Interaktion. Ferner sind Messgeräte keine natürliche Art von Gegenständen, die in der Natur unabhängig von unseren Interessen vorkommen - wie Elektronen, Sauerstoffatome, DNA-Sequenzen oder Katzen. Vielmehr können beliebige Dinge von Experimentatoren entsprechend ihren Absichten als Messgeräte verwendet werden.

Wenn man definite numerische Werte von Eigenschaften für makroskopische Objekte anerkennt - wie entweder lebendig oder tot zu sein für Katzen - und wenn man die Quantenmechanik als vollständige Beschreibung der mikrophysikalischen Wirklichkeit anerkennt, dann muss man die Möglichkeit des Übergangs zu wohlbestimmten numerischen Werten in die Dynamik einbauen, die man für die Zeitentwicklung von Quantensystemen ansetzt. Ein entsprechender Vorschlag wurde 1986 von den italienischen Physikern Gian Carlo Ghirardi, Alberto Rimini und Tullio Weber vorgelegt, ist aber mit einer Reihe von offenen physikalischen Fragen behaftet. Deshalb steht das so genannte Messproblem bis heute im Zentrum der Diskussion um die Interpretation der Quantenphysik.

Der Übergang zu definiten numerischen Werten ist, und das ist für den Zeitpfeil bedeutsam, irreversibel: Sobald bei Schrödingers Katze ein Atom zerfallen ist, kann zwar wieder eine erneute Zustandsverschränkung eintreten. Aber umkehren lässt sich der Prozess nicht mehr. Wie der Physiker und Philosoph David Albert von der Columbia University in New York gezeigt hat, kann die quantenphysikalische Reduktion einer Verschränkung als Basis aller zeitlich irreversiblen Prozesse im Universum verstanden werden. Im Unterschied zur klassischen Physik verankern hier Zustandsreduktionen die Zeitrichtung in der Dynamik der grundlegenden physikalischen Theorie und nicht lediglich in Anfangsbedingungen des Universums.

Welcher definite numerische Wert das Ergebnis einer Zustandsreduktion ist, dafür gibt es lediglich Wahrscheinlichkeiten. Bisweilen wird deshalb gesagt, dass die Quantenphysik im Widerspruch zu einer - deterministisch verstandenen - kausalen Sicht der Welt steht. Unter Wissenschaftsphilosophen herrscht jedoch Einverständnis darüber, dass Kausalität ebenso probabilistisch wie deterministisch sein kann. Folglich lassen sich in der Quantenphysik genauso wie in allen anderen Wissenschaften Kausalerklärungen suchen.


Radioaktiver Zerfall als Disposition der Natur

Seit den 1950er Jahren gibt es in der Interpretation der Quantentheorie die Idee, Superpositionen einschließlich verschränkter Zustände als so genannte Dispositionen anzusehen, die unter bestimmten Umständen - zum Beispiel in einem Messprozess - klassische Eigenschaften mit definiten numerischen Werten hervorbringen. Im Unterschied zu makroskopischen Dispositionen - wie zum Beispiel der Wasserlöslichkeit von Zucker - sind quantenphysikalische Dispositionen fundamentale physikalische Eigenschaften. Ihnen liegen mithin nicht noch weitere Eigenschaften zu Grunde. Es handelt sich hierbei um Eigenschaften, deren Wesen darin besteht, bestimmte Wirkungen hervorzubringen.

Diese Eigenschaften benötigen keine weiteren äußeren Bedingungen (Stimuli), um sich zu manifestieren - so wie man etwa Zucker in Wasser werfen müsste, damit sich dessen Wasserlöslichkeit manifestiert. Quantenphysikalische Superpositionen und Verschränkungen als Dispositionen bringen ihre Wirkungen von selbst hervor. Man denke an den spontanen Zerfall radioaktiver Atome. Der ereignet sich in der Natur ohne äußere Stimuli und insbesondere unabhängig davon, ob er von Messgeräten registriert wird.

Eine weitere Begriffsbildung hat sich hier als nützlich erwiesen, die auf Karl Popper (1902 - 1994) zurückgeht. Die quantenphysikalischen Dispositionen seien laut dem österreichisch-britischen Wissenschaftsphilosophen so genannte Propensitäten (»Neigungen«). Popper geht es dabei um die Interpretation von objektiven Wahrscheinlichkeiten, die in der Natur unabhängig von unserem Wissen bestehen. In der Propensitätsdeutung liefert die Wahrscheinlichkeit ein Maß für die Tendenz eines Objekts, bestimmte Wirkungen zu produzieren. Jeder der möglichen Wirkungen kommt ein bestimmtes Gewicht zu, das in Form einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ausgedrückt wird.

Die Frage nach den Grundlagen von Kausalität und Naturgesetzen kann man in diesem Zusammenhang so beantworten: Die fundamentalen physikalischen Eigenschaften, sofern sie von der Quantentheorie behandelt werden, sind kausale Eigenschaften, die sich spontan manifestieren. Genauer gesagt sind es Dispositionen im Sinn von Propensitäten. Statt um intrinsische Eigenschaften handelt es sich um Strukturen der Zustandsverschränkung.

Das sind kausale Strukturen, die sich in Form miteinander korrelierter klassischer Eigenschaften manifestieren, wie zum Beispiel in den oben erwähnten EPR-Experimenten. Damit lässt sich auch erklären, wieso solche Prozesse eine Zeitrichtung auszeichnet: Dispositionen und ihre Manifestation sind ein Fall von Ursache und Wirkung. Das Verursachungsverhältnis lässt sich aber nicht umkehren. Die Naturgesetze drücken aus, was die fundamentalen physikalischen Eigenschaften bewirken können. Generell beschreiben sie, was die Eigenschaften bewirken können, die es in der Natur gibt.


Der Autor:
Michael Esfeld, geboren 1966, ist seit 2002 Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Université de Lausanne und leitet zugleich das Studienprogramm »Wissenschaftsphilosophie und -geschichte« an der ETH Lausanne. 2008 erhielt er den Cogito-Preis für seine Arbeiten zur Philosophie der Physik. Zuvor war er 2001 bis 2002 Professor für Logik, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie an der Universität zu Köln und 2000 bis 2001 Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft.


Quellen:
Albert, D.Z.: Time and Chance. Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 2000
Aspect, A. et al.: Experimental Test of Bell's Inequalities Using Time-Varying Analyzers. In: Physical Review Letters 49, S. 1804 - 1807, 1982
Bell, J.S.: On the Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox. In: Physics 1, S. 195 - 200, 1964
Einstein, A., Podolsky, B., Rosen, N.: Can Quantum-Mechanical Description of Physical Reality be Considered Complete? In: Physical Review 47, S. 777 - 780, 1935
Esfeld, M.: Einführung in die Naturphilosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2. Auflage 2011
Ghirardi, G. et al.: Unified Dynamics for Microscopic and Macroscopic Systems. In: Physical Review D 34, S. 470 - 491, 1986
Maudlin, T.: Quantum Non-Locality and Relativity. Blackwell, Oxford 1994
von Neumann, J.: Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik. Springer, Berlin 1932
Popper, K.R.: The Propensity Interpretation of Probability. In: British Journal for the Philosophy of Science 10, S. 25 - 43, 1959
Schrödinger, E.: Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik. In: Naturwissenschaften 23, S. 807 - 812, 1935


Weblink:
Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1069971


In der Spektrum der Wissenschaft-Serie mit dem Titel
Die grössten Rätsel der Philosophie sind bereits erschienen:

März 2011
Interview mit Julian Nida-Rümelin (*)
Teil 1 - Albert Newen: Wer bin ich?
Teil 2 - Michael Pauen: Willensfreiheit

April 2011
Teil 3 - Tobias Schlicht: Bewusstsein
Teil 4 - Albert Newen: Das Verhältnis von Mensch und Tier

Mai 2011
Teil 5 - Sabine Döring: Gefühl und Vernunft
Teil 6 - Elke Brendel: Skepsis und Wissen

Juni 2011
Teil 7 - Michael Esfeld: Philosophie der Physik
Teil 8 - Marcel Weber: Philosophie der Biologie

Juli 2011
Teil 9 - Wilfried Hinsch: Menschenrechte
Teil 10 - Julian Nida-Rümelin: Gerechtigkeit

August 2011
Teil 11 - Gottfried Vosgerau: Sprache und Denken
Teil 12 - Albert Newen und Kai Vogeley: Den anderen verstehen

(*) Im Schattenblick erschienen unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Geisteswissenschaften -> Philosophie
FRAGEN/014: Julian Nida-Rümlein - "Uns bleiben die unlösbaren Probleme" (Spektrum der Wissenschaft)


© 2011 Michael Esfeld, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 6/11 - Juni 2011, Seite 54 - 58
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2011