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HINTERGRUND/008: Die Bertelsmann Stiftung und die Ökonomisierung der Politik (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

Globalisierungslotse?
Die Bertelsmann Stiftung und die Ökonomisierung der Politik

Von Frank Böckelmann


Seit einigen Jahren genießt die Bertelsmann Stiftung die Reputation als neutrale Begegnungsstätte und "Reformagentur" für alle zentralen Politikfelder. Medien und Politik greifen deshalb gerne auf die Vorschläge aus Gütersloh zurück. Durch diese Art Selbstenteignung gerät die öffentliche Verständigung über offene Fragen zunehmend unter die Räder.


Erst vor vier Jahren wurde von Publizisten und Sozialwissenschaftlern die Bertelsmann Stiftung als eine Reformagentur mit großem Einfluss auf die Entwicklung in nahezu allen Bereichen der deutschen und europäischen Politik entdeckt. Entdeckt wurde die Unauffälligkeit von Reformkonzepten, die darauf abzielen, die Tätigkeit der staatlichen und kommunalen Institutionen sowie das Gesundheitssystem nach ökonomischen Maßstäben effizient und wettbewerbstüchtig zu machen. Unauffällig auch deshalb, weil sie von Politikern fast aller Couleur nachgefragt und vielfach von anderen großen Konzern- und Parteistiftungen mitgetragen werden. In den Blick geriet die Abdankung des Politischen, die Ausrichtung des politischen Handelns und Verstehens nach betriebs- und globalwirtschaftlichen Zielvorgaben, ergänzt durch universalethisches Beiwerk. "Wir sind unpolitisch", stellte im Juli 2008 der alte und neue Stiftungsvorstand Gunter Thielen fest. Präziser wäre es gewesen, wenn er gesagt hätte: Wir sind anti-politisch.

Die Entdecker zeigten sich verblüfft über das Ausmaß und den Erfolg der von Gütersloh aus betriebenen Beratungstätigkeit. In den überregionalen Zeitschriften, Tages- und Wochenzeitungen, von Spiegel und taz abgesehen, gingen namhafte Wirtschafts- und Medienjournalisten vorbeugend auf Abstand zum Bertelsmann-Komplex, allerdings meist nur zum engstirnigen Kurs der Familie Mohn, von der sowohl Europas größter Medienkonzern, die Bertelsmann AG, als auch die Bertelsmann Stiftung gelenkt wird. Aber die Sympathie der Bundesregierung, zumal der Bundeskanzlerin, auch des damaligen Bundespräsidenten, der Landesregierungen und der im Bundestag vertretenen Parteien - mit bisheriger Ausnahme der Linken - für die Effizienzformeln von Bertelsmann scheint nicht beeinträchtigt worden zu sein, und die Formatierung der Bundesrepublik Deutschland zum reinen Wirtschaftsstandort geht kontinuierlich weiter.


Selbsternannter Praeceptor Germaniae

Die Reputation der Bertelsmann Stiftung als neutraler Begegnungsstätte hat durch die Analysen linker Wissenschaftler kaum gelitten. Im Juli 2008 konnte die Stiftung auf ihrer "Internationalen Konferenz" in Berlin neben Frank-Walter Steinmeier und dem EU-Außenbeauftragten Javier Solana auch den UN-Generalsekretär Ban Ki-moon begrüßen. Ähnlich wie andere Konzernstiftungen, aber mit überlegenen finanziellen Mitteln und geduldiger Lobby- und Gremienarbeit verleiht die Bertelsmann Stiftung dem marktradikalen Konsens der politischen, administrativen und ökonomischen Eliten in Deutschland und der Europäischen Union ihre eigene sprachliche Note. Sie hat sich selbst zu einer Art Praeceptor Germaniae ernannt und gebärdet sich als fürsorgliche und gemeinnützige Vermittlerin des Unvermeidlichen, der wirtschaftlichen Globalisierung.

Das ökonomistische Reformdeutsch übertönt alle Einwände, indem es einfach weitergesprochen wird. Es rechtfertigt sich mit jedem Satz selbst; sofern andere Deutungen der eigenen Arbeit überhaupt wahrgenommen werden, erscheinen sie als böswillige Missverständnisse. Aber auch das Anti-Bertelsmann-Netzwerk bestätigt sich seine moralische Überlegenheit tautologisch, nämlich durch routinemäßige Anrufung von Leitideen wie "soziale Gerechtigkeit", "Chancengleichheit", "demokratische Partizipation" und "demokratische Kontrolle", ehrbaren Begriffen, die ihren allseits hohen Gebrauchswert heute vor allem ihrer Unbestimmtheit und politischen Beliebigkeit verdanken. Wäre es anders, hätten die Kritiker schon längst über die weitgehende Wirkungslosigkeit ihrer Einwände gegen den Bertelsmann-Komplex nachgedacht und das Ergebnis zu einem Kernstück ihrer Analyse gemacht. Wenn eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen enthüllt wird, aber die öffentliche Meinung gleichgültig darüber hinweggeht - sind es dann noch Ungeheuerlichkeiten?

Was sich heute in den Staaten mit repräsentativem Regierungssystem auf beiden Seiten des Nordatlantik vollzieht, ist vielmehr eine Privatisierung im Sinne einer Ökonomisierung der Politik. Sie hat zwei Dimensionen: zum einen die Ablösung kollektiver und territorial gebundener Identitäten durch austauschbare Standorte, zum anderen die Neutralisierung demokratischer Verfahrensweisen und staatlicher Institutionen durch Absprachen in elitären Netzwerken.

Mir scheint, die gegenwärtig vorgetragene Kritik am Wirken der Bertelsmann Stiftung greift meist zu kurz, denn sie beruht auf einem latenten Einverständnis zwischen Bertelsmann und Anti-Bertelsmann, nämlich dem Einverständnis mit der Vereinnahmung des Politischen durch rationalistische und individualistische Denkmodelle, sei es im Sinne der Markt- und Wettbewerbslogik, sei es unter dem Sinnaspekt individueller Bedürfnisse und Verwertungschancen. Von beiden Seiten wird das politische Kräftespiel als der Abgleich gebündelter individueller Interessen verstanden, und diese Interessen erfahren eine fast ausschließlich ökonomische Deutung.

Nach diesem gemeinsamen Verständnis erhöht sich das "Gemeinwohl" mit dem Durchschnittseinkommen, der durchschnittlichen Beteiligung am wirtschaftlichen Wachstum und dem durchschnittlichen Niveau von Bildung und Lebenshaltung. Interessenkonflikte sollen möglichst durch Anwendung universalethischer Prinzipien wie Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Toleranz restlos geregelt werden. Nur wenn dieses Verständnis bei allen großen Parteien und Verbänden vorherrscht, ist es überhaupt möglich, dass bestimmte Unternehmen und ihre Denkfabriken als Oberaufseher des politischen Handelns auftreten, indem sie prüfen, ob im Gemeinwesen hinreichend effizient gewirtschaftet wird.


Wettbewerb statt Politik

Die Stiftung hat den vorhandenen Trend zur Privatisierung der Staatstätigkeit verstärkt und beschleunigt und ihn überdies den besonderen Interessen des Gütersloher Medienkonzerns dienstbar gemacht. Der Konzerngründer Reinhard Mohn hing und hängt mit der Zuversicht dessen, der zeit seines Lebens jeden Widerspruch mit Kündigung geahndet hat, der Überzeugung an, er habe "den entscheidenden Lösungsansatz für Reformen in Staat und Gesellschaft gefunden". In anderen großen Familienunternehmen werden die Lebensweisheiten des Patriarchen zwischen Ledereinbänden versteckt und an die Freunde des Hauses verteilt; bei Bertelsmann jedoch glaubte man die unbegrenzte Geltung der vier oder fünf Grundeinsichten Reinhard Mohns durch den Geschäftsgang bewiesen zu sehen - und siehe da, trotz oder gerade wegen ihrer Schlichtheit und Schablonenhaftigkeit wurde gegen sie von Seiten der staatstragenden Kräfte nie ernsthaft Einspruch erhoben.


Fehlender Sinn für die Eigenart des Politischen

Das ist im höchsten Maß erstaunlich, denn Reinhard Mohn behauptet nicht weniger, als "dass private Initiative einen großen Teil der gegenwärtigen Staatsleistungen übernehmen kann, und zwar mit besserem Erfolg im Hinblick auf Qualität und Preiswürdigkeit" (Die gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmens, 2003).

Eine weitere Kostprobe aus Mohns letztem Buch: "So wie sich in der Wirtschaft das Prinzip des Wettbewerbs als Motor des Fortschritts bewährt hat, stehen uns heute auch für den öffentlichen Bereich Verfahren zur Leistungsmessung und Bewertbarkeit zur Verfügung. Die Anwendung dieser Verfahren zur Erfolgsmessung kann einen kulturellen Umbruch auslösen. Man wird statt 'Ordnungsmäßigkeit' nunmehr 'Wettbewerbsfähigkeit' verlangen."

Wer so denkt, spricht der politischen Auseinandersetzung jede Eigenständigkeit ab, und mehr noch, ihm fehlt jeder Sinn für die Eigenart des Politischen. Er sieht im Staat lediglich ein Dienstleistungsunternehmen, in der Willensbildung des Volkes ein leutselig zugestandenes Ritual, und in den Bürgern eine Ansammlung von Kunden und Mitarbeitern, die einen gewissen Zusammenhalt bewahren, sofern und solange sie Aussicht auf Gewinnbeteiligung am Unternehmen Deutschland oder am Unternehmen Frankreich haben.

Wenn die Bertelsmann Stiftung im Geiste Reinhard Mohns der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit mit Kennziffern, Erfolgsrechnungen, Nutzwertanalysen, Leistungsvergleichen und Rankings auf die Sprünge hilft, egal, ob es um Arbeitsvermittlung, Gesundheit, Familie, Bildung, Einwanderung oder Entwicklungshilfe geht, auf kommunaler, Landes-, Bundes-, europäischer und globaler Ebene, so verwandelt sie alle politischen Themen in Produktarten, in denen die Angebote jeweils miteinander verglichen und nach gleichem Maß bewertet werden können. Grundsätzlich stehen alle Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und ihre Leistungen miteinander im Wettbewerb, und die Gemeinden, Länder, Staaten und auch die Europäische Union sind Gewerbegebiete und Absatzmärkte, die sich im Standortwettbewerb zu behaupten haben. Bereits mit dem Messen und Vergleichen hält die Kommerzialisierung in Politik und Verwaltung Einzug, auch wenn dies im Zeichen von "Eigenverantwortung", von "Bürgernähe und Dezentralisierung", von "Partnerschaft" oder von "Gerechtigkeit" geschieht.

Der Staat wird auf die Erledigung von Kernaufgaben beschränkt und hat mit seiner Restkompetenz die Bürger auf wettbewerbsgerechte Weise zu aktivieren und optimale Voraussetzungen für effizientes Wirtschaften zu gewährleisten. Er steht in einem subsidiären Verhältnis zu den Unternehmen, die gleichsam als verantwortungsbewusste Bürger die Ertüchtigung der Gesellschaft in die eigenen Hände nehmen - so gründen sie den so genannten "dritten Sektor" neben Öffentlich und Privat.

Es waren nicht zuletzt die Studien der Bertelsmann Stiftung und die PR-Arbeit der Konzerntochter Arvato, die den Boden für eine Vielzahl von Public-Private-Partnerships (PPP) bereitet haben. Trotz mancher Enttäuschungen sieht eine parteiübergreifende Allianz im Zusammenwirken öffentlicher Verwaltung mit der Privatwirtschaft das Patentrezept für die Linderung öffentlicher Finanznot - wobei diese Not auch wettbewerbsbedingt zunimmt, das PPP-Modell sich somit selbst bestätigt. Aber auch die verbleibenden öffentlichen Behörden und Einrichtungen regulieren sich zunehmend unter dem Diktat von Controlling-Verfahren und konkurrieren gegeneinander wie profit centers.


Die Stärken der Bertelsmann Stiftung

Strenggenommen handelt es sich beim engen Vertrauensverhältnis zwischen der öffentlichen Hand und der Bertelsmann Stiftung selbst um eine Öffentlich-Private-Partnerschaft. Die meisten Bundesministerien in den Regierungen Schröder und Merkel und viele Verwaltungsspitzen in Bundesländern und Kommunen, Hochschulen eingeschlossen, suchten Rat in Gütersloh. Zugleich fanden und finden die Mitarbeiter der Stiftung und halbprivater Tochterinstitute wie des Centrums für Hochschulentwicklung in eigenen Kontakthöfen und in vertraulichen Gesprächskreisen sowie auf Kongressen reichlich Gelegenheit, führenden Politikern und der Ministerialbürokratie ihre Einsparungs- und Erfolgskonzepte vorzutragen - woraus wiederum lukrative Aufträge resultieren. Man kooperiert wahlweise mit Unternehmensberatern wie McKinsey und den Stiftungen von Konzernen wie Nixdorf, Deutsche Bank, Daimler, Bosch, Nestlé und Jacobs, in den meisten Fällen als primus inter pares.

Eine der großen Stärken der Bertelsmann Stiftung besteht im Schmieden von Bündnissen, die nicht nur Kräfte bündeln, sondern auch den Nimbus einer gesamtgesellschaftlichen Entschlossenheit verbreiten. Wie schon die Bertelsmann AG, so versteht es auch die Bertelsmann Stiftung, deutsche Großunternehmen, Wirtschaftsverbände und Massenorganisationen für selbst initiierte Kampagnen zu gewinnen. Die Namensgebung der Zusammenschlüsse - "Initiativen" und "Aktionen" - suggeriert stets den großen Aufbruch: Nun geht es los, nun wird das Steuer herumgerissen, nun wirken die Selbstheilungskräfte. Da gab es unter anderem die "Initiative für Beschäftigung!" - mit Ausrufezeichen -, die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft", die Kampagne "Du bist Deutschland!" - wieder mit Ausrufezeichen -, die "Lokalen Bündnisse für Familie" unter der Schirmherrschaft von Liz Mohn und Familienministerin Renate Schmidt.

Die Fähigkeit der Gütersloher Stiftung, den Staat und die Wirtschaft einzubinden, gründet jedoch weniger auf Kampagnen mit Signalwirkung als auf kontinuierlicher Netzwerkarbeit. Diese bahnt jeweils vor der Verabschiedung von Gesetzen eine unaufdringliche Konsensbildung unter Parteispitzen und Wirtschaftsführern an. Der Autor und Tagesspiegel-Redakteur Harald Schumann zog im September 2006 in einem Artikel über die Bertelsmann Stiftung das Fazit: "Von den Kultusministerien bis zum Kanzleramt, von den Kommunalverwaltungen bis zum Amt des Bundespräsidenten gibt es kaum eine politische Behörde, die nicht mit der Stiftung kooperiert." Einbezogen sind parteinahe Stiftungen, Verbände, Beratungsunternehmen, lokale Honoratioren, Medienvertreter, Kirchen und Gewerkschaften.

Vorbereitet und flankiert werden die Kampagnen der Stiftung durch eine langfristig praktizierte Sprachregelung. Die ständige Wiederholung von Schlagworten und Wendungen legt uns eine bestimmte Problemauffassung gewissermaßen auf die Zunge. Bürokratieabbau, Flexibilisierung, Fördern und Fordern. So wird die öffentliche Verständigung über offene Fragen auf wenige Erwartungen hin von vornherein verengt.


(*1941) ist freier Medienforscher in München. Veröffentlichungen u.a.: Bertelsmann - Hinter der Fassade des Medienimperiums (mit Hersch Fischler, 2004) und Die Welt als Ort - Erkundungen im entgrenzten Dasein (2007).
boeckelmann@akm-afk.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 54-58
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2010