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GUTE-NACHT/2257: Besuchszeit, aber bitte nicht zu lange (SB)


Das alte Schulhaus im Februar

Matthias bricht das Eis


Will der Spaziergänger sich auf irgendein Wetter einstellen, so ist heute nicht der rechte Tag dafür. Graupeltreiben und Sonnenschein, Wind und Stille wechseln sich ab. Da sind am besten mehrere kleine Spaziergänge angebracht.


*


Großmutter ist heute allein unterwegs. Wo steckt Anna? Keine Ahnung. Auch Willi, der Hausmeister, ist wieder im Schulgarten tätig und nimmt zwischendrin auf der Gartenbank Platz. Es ist um die Mittagsstunde, die Sonne wärmt. Willi schaut vor sich hin. Großmutter geht an ihm vorbei und grüßt. Er grüßt mit einer Handbewegung zurück. Großmutter lächelt ihn an und sagt: "Wechselhaftes Wetter heute!" Der Alte nickt. Großmutter fügt hinzu: "Es kann noch wieder kalt werden heute Nacht. Heute ist Matthias-Tag." Der Alte nickt wieder nur. "Mattheis bricht das Eis, hat er keins, so macht er eins", sagt Großmutter noch zu dem Alten gewandt. Dann schreitet sie weiter zum Friedhof hinüber und denkt: "Früher war der auch einmal gesprächiger. Da sind wir noch zusammen zur Schule gegangen und haben Dummheiten gemacht. Großmutter erinnert sich, daß sie mal heftig in den Alten verliebt war. Doch das ist schon lange her. Einmal war er krank und fehlte darum in der Schule. Großmutter packte am Nachmittag die Schulhefte unter den Arm, so als Alibi, und zog los, den kranken Jungen zu besuchen. Heimlich pflückte sie ein paar Gänseblümchen. Die ließen sich besser unter der Rockschürze verstecken als größere Blumen. Dann ging sie zum Bauernhof mit den drei großen Kastanienbäumen. Dort wohnte ihr Klassenkamerad. Sie klopfte an die Tür und der Vater des Jungen öffnete. Großmutter hatte als Mädchen immer etwas Angst vor dem Vater. Er hatte ein steifes Bein und auch etwas am Arm. Sie fragte, ob sie denn ihren Freund besuchen könne. Der Vater ließ sie hinaufgehen. Dort lag er im Bett und sah richtig blaß aus.

"Ich habe dir die Hausaufgaben gebracht", sagte sie, "wie geht es dir denn?" Der Junge antwortete: "Ganz gut!" Doch so sah er nicht aus. Verstohlen holte Großmutter die Gänseblümchen unter ihrem Rock hervor, die sie in ein feuchtes Taschentuch gewickelt hatte, damit sie nicht verdursteten. "Hier, die habe ich dir mitgebracht!" sagte Großmutter und hielt den kleinen Strauß dem kranken Jungen hin. Es waren nur ein paar Minuten vergangen. Doch schon kam die Mutter des Jungen zur Türe herein und fand, daß es besser wäre, wenn der Besuch wieder ginge.

Jetzt wollte Großmutter doch noch etwas Wichtiges loswerden und sie sagte: "Übrigens, du hast den ersten Platz beim Märchenschreiben gewonnen!" Der Junge strahlte. "Und du?" fragte er. "Meine Geschichte hat den zweiten Platz gemacht. Meine Affen gefielen den anderen nicht so gut wie deine Schwäne. Ich fand deine Geschichte auch besser", fügte Großmutter noch hinzu. "Deine war aber auch nicht schlecht. Affen kommen sehr selten in Märchen vor", tröstete der Junge. "Ja, vielleicht lag es daran", stimmte Großmutter zu. Nun drängelte die Mutter zum Gehen und das Mädchen gab nach. "Soll ich dich morgen wieder besuchen?" fragte sie. "Brauchst du nicht! Bestimmt komme ich morgen schon wieder in die Schule", bemerkte der Junge. Ob er das nur sagte, weil ihr Besuch ihm peinlich war? Großmutter hätte ihm gern noch etwas ganz Liebes gesagt. Doch ihr fiel nichts ein, besonders weil die Mutter sie nicht noch einmal allein ließ. So sagte sie nur: "Tschüß." Denn es war noch zu früh, um "Gute Nacht" zu sagen.


Gute Nacht