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GUTE-NACHT/2405: Miranda und der Himmel (SB)


In immer wiederkehrenden Abständen hört Miranda ein scheußliches Geräusch. Vorbeifahrende Autos und Menschenstimmen mischen sich dazwischen. Aber das unangenehme Geräusch ist das lauteste von allen. Dieses Geräusch hat Miranda hier noch nie gehört. Sie tritt ans Fenster heran. Zu ihr gesellt sich das kleine Wesen Arim. Auch er mag dieses Geräusch nicht und hält sich gar den Kopf.

Miranda schaut hinüber zum Nachbarhaus. Von dort scheint das Geräusch zu kommen. Eine Leiter lehnt an der Hauswand und reicht hinauf bis zum Dach. Auf dem Dach, das nicht sehr steil ist, stehen zwei Männer. Sie lösen die Welldachplatten und befördern diese auf der Leiter nach unten, wo zwei andere Männer die Platten in Empfang nehmen. Eine Vorrichtung an der Leiter scheint die Platten wie ein Fahrstuhl nach unten zu transportieren. Das löst dieses schreckliche Geräusch aus.

Plötzlich öffnet sich Mirandas Tür und Mama tritt ins Zimmer. Geistesgegenwärtig steckt Miranda Arim schnell in ihre Jackentasche und behält nun noch ihre Hand in der Tasche drin. Zuerst zappelt Arim in ihrer Hand und Miranda weiß nicht, ob er vielleicht gleich zubeißen wird. Der Hamster ihrer Freundin Sally hatte das einmal gemacht, als er sich von Miranda in die Enge getrieben gefühlt hat. Der Biß tat schrecklich weh und dann auch noch die Spritze. Mama war mit Miranda gleich zum Arzt gefahren, und der hatte ihr eine T-Spritze gegeben, wie er sagte. T-Spritze! Als ob Miranda ein kleines Baby sei, dem man nicht den vollen Namen erzählen könnte.

In Mirandas Jackentasche beruhigt sich Arim schnell, als er Mamas Stimme hört. So wie Miranda kein Baby ist Arim nun mal kein Hamster. "Hier kommt also das nervige Geräusch her!" sagt Mama und schließt Mirandas Fenster. Dann sagt sie: "So dann schreiten sie also zur Tat." Was meinte Mama damit, zur Tat schreiten. "Wird dem alten Opa sein Dach neu gedeckt?" fragt Miranda. "Ja", antwortet Mama, "doch nicht mehr für den Opa von nebenan." Miranda horcht auf. War der Opa wie seine Frau, die nette Oma, etwa in ein Altersheim gekommen? Mama sieht Mirandas fragenden Blick und sagt: "Opa Böger ist gestorben. Schon vor zwei Wochen. Jetzt sind sie beide im Himmel." Damit verläßt Mama das Zimmer. Früher wäre Miranda ihr nachgelaufen und hätte viele Fragen gestellt. Doch jetzt schließt sie die Tür, die Mama wohl absichtlich hatte offen stehen gelassen, und setzt sich auf ihr Bett. Zuerst holt sie Arim aus der Jackentasche heraus.

Arim hat alles mit angehört und fragt: "Was ist ein Himmel?" Miranda sagt: "Der Himmel ist das da oben!" Miranda zeigt durch ihr Fenster nach draußen und in die Höhe. Dann sagt sie: "Das ist der Ort, wo die Menschen hingehen, wenn sie sterben wie die Oma und der Opa von nebenan." Arim überlegt eine Weile und sagt dann: "Das ist schon seltsam. Soetwas wie deinen Himmel haben wir auch zuhause. Das helle Licht über uns, das ist unser Himmel und dahinein bin ich ja jetzt geraten. Aber dieser Himmel hier ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe." - "Bestimmt stelle ich mir unseren Himmel auch ganz anders vor, als er wirklich ist. Ich habe mal mit Sally über den Himmel gesprochen, als ihr Kaninchen gestorben ist. Ein Marder hatte ihn totgebissen. Sally meinte, Micky ihrem Kaninchen ginge es jetzt viel besser, weil es im Hasenhimmel keine Marder gäbe. Aber ich habe gefragt, wo denn die Marder hinkommen, wenn sie sterben. Sally hat gesagt, in den Marderhimmel, aber sie würde es besser finden, der Marder käme in die Hölle."

An diesem Abend grübeln Miranda und Arim noch lange über den Himmel und die Hölle nach, bevor sie sich "Gute Nacht" sagen.

18. August 2007

Gute Nacht