Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2431: Von der Zwei, die aus einer Eins entstand (SB)


Zwei

Die Eins erwachte und schlagartig wurde ihr klar, daß sie nicht mehr in ihren eigenen vier Wänden weilte, sondern unterwegs war. Was hatte sie sich eigentlich bei dieser Aktion gedacht? Sie hatte geglaubt, sie könne eine andere Eins finden, die sie mit zu sich nach Hause nehmen konnte, um nicht mehr allein zu sein. Trotz der Fehlschläge am gestrigen Tag gab die Eins noch nicht ihr Vorhaben auf und zog weiter des Weges. Wo aber konnte sie eine weitere Eins finden, die mit ihr käme und nicht wie die rote Eins auf dem Preisschild oder die grüne Eins auf dem Buslinienschild die Arbeit dem Zusammensein vorzogen oder wie die kleine Eins, die ihrer Wichtigkeit halber nicht mit ihr gekommen war.

Die schwarze Eins hatte keine Ahnung, daß nicht nur sie unzufrieden war. Sie entdeckte am Wegesrand ein buntes Schild, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Auch hier standen Zahlen darauf. Die schwarze Eins fragte aber gar nicht erst, ob eine der Zahlen mitkäme. Dafür aber gaben die Zahlen den Hinweis, im nächsten Ort sei ein großer Jahrmarkt aufgebaut. Die wandernde Eins würde dort sicher ihre Freude haben.

Wie der schwarzen Eins erging es auch einer Lakritzstange auf dem Jahrmarkt. Die hatte es nämlich satt, immer in die Länge gezogen zu werden. Sie wollte sich endlich einmal krümmen und winden können wie sie selber gerade Lust dazu verspürte.

Der Zufall wollte es, daß die schwarze Eins genau an dem Stand der Lakritzstange vorbeikam. Sofort erkannten sich zwei verwandte Seelen. Die schwarze Eins kletterte auf die Auslage und setzte sich neben der Lakritzstange nieder. Nun berichteten sich beide, was sie bedrückte. Danach erzählte die Lakritzstange so einiges über den Jahrmarkt. Die schwarze Eins hörte aufmerksam zu. Schließlich war es ihr erstes Mal auf einem solchen Fest.

Gerade da kam ein Junge vorbei und griff sich die Lakritzstange. Seine Schwester aber wollte diese dem Jungen nicht kaufen und packte entschlossen nach dem anderen Ende der Lakritzstange, um sie zurück zu legen. Der Junge aber ließ nicht los und zog sogar an seinem Ende. Auf diese Weise riß die Lakritzstange in zwei Teile. Ein kürzeres und ein längeres Ende entstanden. Schnell legten die Kinder die zerrissene Süßigkeit wieder auf die Auslage und machten sich aus dem Staub. Traurig blickten sich die beiden Lakritzteile an.

Das Weglaufen der Kinder hatte die Verkäuferin aufmerksam gemacht, und stumm schaute sie über die gesamte Auslage hinweg. Dann sah sie die zwei Teile, die einst eine schöne Lakritze abgegeben hatten. "So kann ich dich nicht mehr verkaufen!" sagte das Mädchen und warf die beiden Teile in einen Eimer, in dem auch schon klebrige Waffelstückchen und ein roter kandierter Apfel mit einem zerbrochenen Stiel lagen. Die schwarze Eins kletterte hinter der Lakritzstange her. "Hier in diesem Klebehaufen", werde ich nicht bleiben, "sagte das längere Stückchen Lakritz." - "Ich auch nicht!" betonte das kürzere. Es stellte sich geradewegs neben die schwarze Eins und fand, daß sie beide doch ein gutes Paar abgeben würden. Die schwarze Eins freute sich, endlich ein Gegenstück gefunden zu haben und versprach die Lakritzstange mit zu sich nach Hause zu nehmen. Das längere Stück wäre auch eingeladen. Aber als dritter im Bunde fühlte sich das längere Stückchen überflüssig und wollte seiner eigenen Wege gehen. Zuerst wollte sich die einsame und nicht mehr vollständige Lakritzstange nichts anmerken lassen. Als die beiden Einsen dann aber fortgezogen waren, ließ das längere Lakritzstück doch sein eines Ende wie ein Köpfchen hängen. Auf dem anderen Ende rutschte die Lakritzstange nun wie eine Schnecke vorwärts.

"Hey, du da", rief plötzlich eine Stimme, "du kommst mir gerade Recht. Ich suche schon seit einiger Zeit nach einer leckeren Zwei. Mein Töchterchen wird zwei Jahre alt. Dich werde ich mitnehmen und auf die Geburtstagstorte legen."

Nicht jeden Tag erhält man ein solches Angebot, zum Star eines Kindergeburtstages zu werden. Deshalb ging die Lakritzzwei mit.

18. September 2007

Gute Nacht